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25 February 2020

Das kommunale Ausländerwahlrecht ‚revisited‘. Eine vertane Chance für die Revitalisierung der Demokratie auf lokaler Ebene

Den vorerst letzten Anlauf für ein Ausländerwahlrecht auf kommunaler Ebene hat 2013 die Bremische Bürgerschaft genommen. Und wie schon andere Bundesländer zuvor ist sie mit ihrem Vorstoß schlussendlich am verfassungsrechtlichen Homogenitätsgebot gescheitert (BremStGHE 8, 234). Hatte doch das Bundesverfassungsgericht in seinen Urteilen zum Ausländerwahlrecht in Hamburg und Schleswig-Holstein von 1990 wenig Zweifel daran gelassen, dass das Grundgesetz auf allen Ebenen des Staatsaufbaus nur das deutsche Volk als einheitliche Legitimationsgrundlage kennt (BVerfGE 83, 37; 83, 60). Ulrich K. Preuß sah das mit guten, demokratietheoretischen Gründen anders. In einem Gutachten für die Bremische Bürgerschaft rechtfertigte er die Zulässigkeit des kommunalen Ausländerwahlrechts gerade mit der Verschiedenheit von Gemeindevolk und Staatsvolk. Preuß‘ Argumentation ist über den Bremer Fall hinaus wegweisend und gibt Anlass, heute noch einmal neu über meist übersehene Orte der Demokratie nachzudenken: Städte, Kreise und Gemeinden.

Lücken demokratischer Repräsentation

Migrantinnen mit dauerhaftem Aufenthaltstitel sind hinsichtlich ihrer Rechte und Pflichten im politischen Alltag deutschen Staatsangehörigen heute weitgehend rechtlich gleichgestellt. Die Freiheit sich zu versammeln, zu demonstrieren, sich wirtschaftlich zu betätigen oder Vereinigungen zu bilden ist nicht mehr allein Deutschen vorbehalten. Es ist inzwischen herrschende Meinung und etablierte politische Praxis, dass auch Ausländer – zumindest über den Umweg der allgemeinen Handlungsfreiheit – von einstigen Deutschen-Grundrechten wie der Versammlungsfreiheit geschützt sind. Nach Aussetzung der Wehrpflicht bleibt im Kern nur noch das aktive und passive Wahlrecht, das Staatsbürgerinnen von dauerhaft ansässigen Einwohnern ohne deutsche Staatsbürgerschaft, die in der citizenship-Diskussion als sogenannte denizens bezeichnet werden, unterscheidet. Während denizens die Teilnahme an der gesellschaftlichen Willensbildung also weitgehend offensteht, ist ihnen der Zugang zur staatlichen Entscheidungsfindung nach wie vor verwehrt. In der Konsequenz bestehen daher für Parteien nur geringe Anreize, ihre Positionen aufzugreifen und zu repräsentieren. Versteht man Repräsentation als eine soziale Beziehung, deren Kern die Handlungsautorisierung des Repräsentanten ist, dann wird auch deutlich warum: wer nicht wählen darf, besitzt kein Sanktionspotenzial an der Wahlurne. Der für die Legitimation der Repräsentation konstitutive Zusammenhang von Autorisierung und Rechenschaftspflicht besteht nicht. Migrantische Positionen sind daher auf advokatorische Vermittlung angewiesen, um auf kollektive Entscheidungsfindung Einfluss zu nehmen.

Dass hier ein im Grunde undemokratisches Beherrschungsverhältnis andauert, das mit dem Ideal demokratischer Selbstregierung schwerlich in Einklang zu bringen ist, hat auch das Bundesverfassungsgericht 1990 in seinen beiden Urteilen nicht grundsätzlich bestritten. Es verwies stattdessen auf das Staatsangehörigkeitsrecht als geeigneten Ort politischer Reform und hielt seinerzeit an der exklusiven Verbindung von Staatsgewalt und Staatsangehörigkeit apodiktisch fest: „Wahlen, bei denen auch Ausländer wahlberechtigt sind, können demokratische Legitimation nicht vermitteln.“ (BVerfGE 83, 60 (81)

Indes muss das Demokratieprinzip, so hat Ulrich K. Preuß überzeugend argumentiert, stets im Licht einer sogenannten „Logik der Angemessenheit“ betrachtet werden. In der politischen Theorie des Neo-Institutionalismus markiert die Logik der Angemessenheit die Gleichzeitigkeit von historischer Pfadabhängigkeit, Interpretationsspielraum der handelnden Akteure sowie gesellschaftspolitischem Wandel. Damit erinnert sie daran, dass sich unsere leitenden politischen Prinzipien in stetem Kontakt mit der gesellschaftspolitischen Wirklichkeit immer wieder neu daraufhin befragen lassen müssen, ob überkommene Interpretationen und Institutionalisierungen vor dem Hintergrund der jeweils konkreten Realität politisch noch als angemessen bezeichnet werden können oder einer Reformulierung bedürfen.

30 Jahre nach den Urteilen des Bundesverfassungsgerichts ist mit Blick auf die unterstellte Unvereinbarkeit von Ausländerwahlrecht und Demokratieprinzip letzteres der Fall. Aktuellen Zahlen zufolge leben knapp 11 Millionen Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit in der Bundesrepublik, das sind gut 12 Prozent der Gesamtbevölkerung – so viel wie nie zuvor. Dass sich dieser Trend umkehrt, ist unwahrscheinlich. Im Gegenteil, die Tendenz steigt. In großen Städten beträgt der Anteil ausländischer Mitbürger bisweilen bis zu 30 Prozent. Die deutliche Mehrzahl davon stammt nicht aus der EU und ist also auch nach der europarechtlich initiierten Einführung des Kommunalwahlrechts für EU-Ausländerinnen weiter von Wahlen ausgeschlossen. So besehen muss man sich heute eher umgekehrt fragen, ob Wahlen, von denen ein signifikanter Teil der Herrschaftsunterworfenen dauerhaft ausgeschlossen ist, Legitimation noch umfassend vermitteln können.

Sollten dann aber nicht alle, die den Entscheidungen deutscher Staatsgewalt unterworfen oder von ihnen betroffen sind, auch an der Wahl mitwirken? Dahinter steht die Frage, ob ein Demos legitimerweise überhaupt dazu in der Lage ist, über seine Grenzen autonom zu entscheiden. In der Demokratietheorie wurde das zuletzt unter dem Stichwort des boundary problem intensiv diskutiert (z.B. hier) – ohne zufriedenstellende Antwort. Geht man davon aus, dass alle Betroffenen auch mitentscheiden sollten, wird der potentielle Demos schnell global. Grenzen lassen sich in dieser Perspektive normativ schwer rechtfertigen. Die demokratietheoretische Diskussion droht sich dann aber nicht nur weit von der gegebenen Unterteilung der Welt in Staaten und den entsprechend partikularen politischen Gemeinschaften zu entfernen, sondern auch von den realen politischen Problemen ebendieser Staaten.

Im migrationspolitischen Fokus stehen daher nicht Grenzen an sich, sondern die Frage, wie rigide die Grenzen der Mitgliedschaft gezogen werden. So haben etwa politische Theoretikerinnen wie Ayelet Shachar für einen Perspektivwechsel im Staatsangehörigkeitsrecht plädiert: Nicht die jeweilige politische Gemeinschaft soll darüber entscheiden dürfen, wer zu ihr gehört, sondern die subjektiv empfundene Zugehörigkeit der Einzelnen soll als Maßstab rechtlicher Mitgliedschaft dienen. Ein neues ius nexi könnte demnach den subjektiven Anspruch auf Zugehörigkeit kraft individueller Verbundenheit mit einem Gemeinwesen vermitteln.

So weit geht das deutsche Staatsangehörigkeitsrecht nicht. Aber der Zugang zur Staatsbürgerschaft und damit zu vollen politischen Rechten wurde durch die Einführung des ius soli im Jahr 2000 und den darauf folgenden Reformen sukzessive geöffnet. Innerhalb der Grenzen, die die politische Gemeinschaft festgelegt hat, besteht damit ein subjektiver Anspruch auf Einbürgerung. Inzwischen würde die Gruppe der denizens, an die sich ein Ausländerwahlrecht aufgrund ihrer unbefristeten Aufenthaltsperspektive richtet, regelmäßig ohnehin die Anforderungen zur Einbürgerung und damit zur Erlangung des Wahlrechts bereits erfüllen. Jedoch sind die Einbürgerungsquoten konstant gering, aktuell wird nur etwas mehr als zwei Prozent des Einbürgerungspotenzials ausgeschöpft (aktuelle Zahlen hier). Angesichts dessen scheint die zentrale politische Frage weniger zu lauten, wie das Staatsangehörigkeitsrecht weiter geöffnet werden kann, als vielmehr, warum die allermeisten von ihrem Recht keinen Gebrauch machen.

Die lokale Ebene als demokratiepolitisches Laboratorium

Auf lokaler Ebene liegen die Dinge anders, hier spricht die Partikularität örtlicher Gemeinschaftsbildung für ein kommunales Ausländerwahlrecht. Warum das so ist, kann man in Ulrich Preuß‘ Gutachten nachlesen. Er rekonstruiert darin den besonderen Status der kommunalen Selbstverwaltung unter demokratiepolitischen Auspizien. Kommunale Selbstverwaltung ist demnach nicht einfach Fortsetzung des Föderalismus auf lokaler Ebene, sondern beschreibt ein spezifisches soziales Verhältnis von Menschen, das durch räumliche Nähe und den daraus resultierenden Bedürfnissen, Konflikten und Verkehrsformen charakterisiert ist. Mit Preuß und gegen das Bundesverfassungsgericht kann man schlussfolgern: Gemeindevolk und Staatsvolk sind eben nicht identisch.

Die „örtliche Gemeinschaft“ ist vielmehr notwendig partikular, sie definiert sich nicht durch Staatsbürgerschaft, sondern durch gemeinsame Einwohnerschaft und Betroffenheit und ist durch Zuzug und Weggang ständigem Wandel ausgesetzt. Die Grenzen von Gemeinden und Städten sind offen, allein der temporäre Wohnsitz entscheidet zwischen Inklusion und Exklusion. Wenn das Grundgesetz den Gemeinden in Art. 28 Abs. 2 GG das Recht garantiert, alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft in Eigenverantwortung zu regeln, dann eröffnet es die „auf sich selbst bezogene Willensbildung einer lokalen konkreten Bürgerschaft“, so Preuß 1973 in einem Beitrag für die Stadtbauwelt. Und zu der lokal konkreten Bürgerschaft zählen alle Ortsansässigen gleichermaßen. Dann ist es aber nur folgerichtig, auch Ausländerinnen zur Kommunalwahl zuzulassen.

Zugleich verweist der Unterschied von Gemeindevolk und Staatsvolk darauf, dass mit der kommunalen Selbstverwaltung innerhalb der abstrakt-territorialen Einheit des Staates ein konkret-örtlicher demokratischer Freiraum partizipativen, bürgernahen und immer auch potentiell widerspenstigen politischen Handelns geschützt wird, der sich der vereinheitlichenden bundesstaatlichen Logik bewusst versperrt. Dabei handelt es sich nicht um „Kommunalromantik“, wie Josef Isensee einst in seiner Antragsschrift für das Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht meinte, sondern um ein in der deutschen Verfassungsgeschichte tradiertes, aber meist vergessenes, demokratisches Innovationspotential, das heute neue Dynamik gewinnt.

Wann immer es um Fragen des Umgangs mit Migration oder der ökologischen Transformation geht, sind derzeit die Augen auf lokale politische Einheiten gerichtet. Wo Staaten wie gelähmt scheinen, die drängenden Probleme der Zeit anzupacken, verpflichten sich Kommunen zur Klimaneutralität und rufen eigenmächtig den Klimanotstand aus, suchen grenzüberschreitende Kooperation in internationalen Städtenetzwerken wie C40 und entwickeln eigene Integrationsideen. Angesichts dessen hat Benjamin Barber gar ein leidenschaftliches Plädoyer dafür gehalten, warum Bürgermeisterinnen die Welt regieren sollten. Aufgrund des unmittelbaren Handlungsdrucks charakterisiert er lokales Handeln als pragmatisch und problemlösend, unideologisch und innovativ. Da Städte stets in größere Einheiten eingebunden und auf die Unterstützung der lokalen Bevölkerung angewiesen seien, sei ihr Handeln von Haus aus auf Diskussion, Kooperation und Überzeugung statt auf Befehl und Zwang ausgerichtet – und damit gewissermaßen per se demokratisch.

Mit Blick auf die demokratiepolitische Bedeutung des Ausländerwahlrechts ist besonders die Spezifik lokaler Gemeinschaftsbildung und Konfliktbearbeitung interessant. In verdichteten sozialen Räumen sind persönliche Begegnungen und neue soziale Erfahrungen unausweichlich und haben das Potential, soziale und räumliche Grenzen zwischen Gruppen zu überwinden. Das Lokale spannt einen geteilten Lebens- und Erfahrungsraum auf, der Differenzen zwischen Klassen, Ethnien, Religionen und Nationen überlagern kann. Der unmittelbare Handlungsdruck schafft Verständigungszwang. Damit bietet das aktive und passive Ausländerwahlrecht eine Chance, diese gesellschaftliche Praxis der Konfliktbearbeitung politisch auf der Ebene der kommunalen Gremien zu institutionalisieren. Das kommunale Wahlrecht wäre dann gleichsam das institutionelle Bindeglied zwischen kommunaler Zivilgesellschaft und politischer Gemeinschaft.

Wo also viele Nationalstaaten eher zögerlich auf eine immer diversere Bürgerschaft reagieren, könnten die Kommunen Vorreiter einer Art „Kosmopolitismus von innen“ – wie es Rainer Bauböck nennt – werden: Das Lokale als Raum demokratischer Nachbarschaft, in dem unterschiedliche Identitäten gelebt und artikuliert werden. Neue Formen der Bürgerbeteiligung wie Bürgerhaushalte, Mini Publics oder Bürgerräte versuchen genau das zu institutionalisieren und die Stadtgesellschaft als Raum der Demokratie zu revitalisieren. Die Chancen für eine so verstandenes postnationales urban citizenship wurden auf dem Verfassungsblog kürzlich in einem eigenen Debattenforum ausführlich diskutiert.

Freilich wird am Ausländerwahlrecht allein die Malaise der liberalen Demokratie nicht genesen. Die langfristigen symbolpolitischen Effekte für die demokratische Integration sollten aber nicht unterschätzt werden. In sozialer Hinsicht waren besonders Städte schon immer ‚Integrationsmaschinen‘ (Hartmut Häußermann). Das Wahlrecht setzt für Migrantinnen auch politisch ein Zeichen der Zugehörigkeit und adressiert die Erwartung, dass dieses politische Teilhaberecht auch genutzt wird. Zugleich verweist das Ausländerwahlrecht auf das Lokale als einen noch lange nicht ausgeschöpften Ermöglichungsraum erlernbarer und erfahrbarer Demokratie. In der Bundesrepublik stehen die Chancen dafür aufgrund der im internationalen Vergleich umfangreichen Garantie kommunaler Selbstverwaltung günstig – so haben Ran Hirschl und Alexander Aleinikoff darauf hingewiesen, dass die Verwirklichung eines lokalen urban citizenship auf die entsprechende politische Autonomie und konstitutionelle Anerkennung der städtischen und lokalen Ebene angewiesen ist. Das Scheitern des Bremer Vorstoßes zeigt indes, dass nach den Urteilen des Bundesverfassungsgerichts der Weg wohl versperrt ist, ohne Verfassungsänderung diesen vorhandenen demokratischen Handlungsraum zumindest für ein kommunales Ausländerwahlrecht zu nutzen. Es bedarf des politischen Willens des verfassungsändernden Gesetzgebers, das zu ändern.