Das Maßnahmegesetz
Zu den vielen unerfreulichen Veränderungen der politischen Kultur durch den Rechtspopulismus und die Verkünder alternativer Wahrheiten gehört es, dass sich die Grenzen zwischen legitimer Kritik an einzelnen Sachfragen und der radikalen Infragestellung des politischen Systems schleichend verwischen. Wer in diesem Sinne die Neufassung der infektionsschutzrechtlichen Eingriffsermächtigungen durch den neuen § 28a IfSG, wie sie nun durch das „Dritte Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ erfolgt ist, kommentieren und möglicherweise auch kritisieren will, wird dies deshalb nicht mehr tun können, ohne sich gleichzeitig von dem ebenso maß- wie haltlosen Vorwurf des „Ermächtigungsgesetzes“ zu distanzieren, der aus dieser Ecke erhoben worden ist. In der Tat ist dieser Reflex in fast allen einschlägigen Stellungnahmen zu beobachten. Kritik ist dann immer nur möglich unter vorsorglicher Abgrenzung von anderer Kritik, während man gleichzeitig befürchten muss, jene ihrerseits noch zu befeuern. Versuchen wir deshalb erst einmal eine nüchterne Bestandsaufnahme, die auch das Positive nicht ausspart.
1.
Was der neue § 28a IfSG konkret leistet und was er nicht leistet, ist zwischenzeitlich bereits an vielen Stellen dargelegt worden (s. etwa hier und hier); dem lässt sich in der Sache gar nicht viel Neues hinzuzufügen. Natürlich ist die Neuregelung und der Zustand, der durch sie hergestellt ist, allemal ein rechtsstaatlicher Fortschritt gegenüber dem, was vorher war (was freilich auch nicht schwer war, denn vorher war ja nichts); ein solcher liegt durchaus auch schon darin, dass die möglichen Maßnahmen nun immerhin katalogartig aufgeführt und damit, wie man so sagt, explizit in den gesetzgeberischen Willen aufgenommen sind. Und natürlich ist es durch die vor und während des Verfahrens geäußerte Kritik gelungen, in das am Ende verabschiedete Gesetz gegenüber der noch reichlich dünnen Fassung eines früheren Entwurfs vieles hineinzuschreiben, was niemand vorschnell klein reden sollte: Einige als besonders schwerwiegend eingestufte Schutzmaßnahmen wie etwa Versammlungsbeschränkungen, rigide Ausgangssperren oder Besuchsverbote in Altenheimen auch für Angehörige sind in der Sache künftig nur als ultima ratio zulässig (§ 28a Abs. 2); die auf dieser Grundlage zu erlassenden Verordnungen müssen befristet und – zumindest „allgemein“ – auch begründet werden (§ 28a Abs. 5); darüber hinaus wird etwa ausdrücklich klargestellt, dass in die Entscheidung auch soziale und wirtschaftliche Auswirkungen einzubeziehen sind (§ 28a Abs. 6). Das alles ist insgesamt deutlich mehr, als nach dem wenig hoffnungsvollen ersten Aufschlag zu erwarten war. Es gab also durchaus Gründe, warum am Ende neben der SPD, die anfangs mehr gewollt hatte, etwa auch die Grünen der Neuregelung zustimmten.
Auf der anderen Seite bleibt eine durchaus beachtliche und ebenfalls nun schon oft registrierte Mängelliste: Die einzelnen Maßnahmen werden letztlich nur benannt, aber weder in ihren Voraussetzungen näher beschrieben noch tatbestandlich eingegrenzt; in dieser Form enthalten sie letztlich nur beispielhafte Anwendungsfälle der Generalklausel, ohne ihr einen eigenständigen Gehalt im Sinne einer klassischen Standardmaßnahme hinzuzufügen. Einige Regelungen gehen darüber hinaus auch für sich nach wie vor zu weit: Dass etwa Versammlungen künftig generell und flächendeckend – und eben nicht nur im Einzelfall – im Verordnungsweg untersagt werden können, dürfte in dieser Allgemeinheit mit Art. 8 GG nicht vereinbar sein; hier kann man nur hoffen, dass kein Land von dieser Ermächtigung je Gebrauch macht. Auch die nun prinzipiell eröffnete Möglichkeit der Anordnung von Ausgangsbeschränkungen nach dem bayerischen oder saarländischen Modell (Verlassen der eigenen Wohnung nur zu bestimmten Zeiten oder zu bestimmten Zwecken, § 28a Abs. 2 Nr. 2) kehrt ohne Not und jedenfalls für den praktischen Vollzug das rechtsstaatliche Verteilungsprinzip um, nach dem sich nicht der Bürger für den Gebrauch seiner Freiheit, sondern der Staat für ihre Beschränkung rechtfertigen muss; gerade für die Bekämpfung von Covid-19 sind, wie die bisherigen Erfahrungen und der Vergleich mit anderen Ländern gezeigt haben, Abstandsregeln und Kontaktbeschränkungen allemal das mildere Mittel. Und von der Pflicht zur Begründung von Rechtsverordnungen müsste man erst noch sehen, ob sie in der Praxis hält, was man sich von ihr verspricht; eingeschränkt nun eben durch das Attribut „allgemein“, könnten die Begründungen auch nur lapidar auf das Infektionsgeschehen verweisen und gerade die entscheidende Frage offen lassen, warum gerade dies (Gaststätten, Theater und Museen) dicht gemacht wird und jenes nicht (Baumärkte und Kaufhäuser). Hier wird viel darauf ankommen, ob zumindest in den Ländern vorgesehen wird, was auf Bundesebene trotz entsprechender Vorschläge in diese Richtung nicht durchgesetzt werden konnte: die Bindung jeder Rechtsverordnung an einen konstitutiven Akt der Zustimmung durch das Parlament. So oder so gab es jedenfalls durchaus Gründe, warum etwa die Linke oder die FDP (von der sich hier erneut selbst disqualifizierenden AfD ist nicht zu reden) dem Gesetz am Ende nicht zustimmten.
2.
Mit „Besser, aber nicht wirklich gut“, wie es im Kommentar einer großen Tageszeitung hieß, wäre die Neuregelung deshalb durchaus angemessen beschrieben. Was wäre dann im Ergebnis mit ihr gewonnen? Der erste Gewinn liegt zweifellos in der parlamentarischen Befassung mit dem Thema überhaupt; jeder, der die Debatte vom Mittwoch am Bildschirm verfolgt hat oder sich einzelne Redebeiträge nachträglich anhört, konnte sich einen Eindruck davon verschaffen, mit welchem Ernst und welcher Gründlichkeit – und auch mit welchen Zweifeln – hier um den bestmöglichen Weg im weiteren Umgang mit der Krise gerungen wurde: durchaus ein Zeichen für die Lebens- und Lernfähigkeit des parlamentarischen Systems, auf das mancher (mich eingeschlossen) zwischenzeitlich schon gar nicht mehr zu hoffen gewagt hatte. Und wenn es das wichtigste Ziel war, das Infektionsschutzgesetz für die zweite Welle der Pandemie „wetterfest“ zu machen, wie es auf der Homepage der größten Regierungsfraktion nachzulesen ist, so dürfte jedenfalls dies gelungen sein: Die Gerichte werden, so viel wird man vorhersagen können, die Neuregelung im Großen und Ganzen als ausreichende Ermächtigungsgrundlage selbst für weitreichende Grundrechtseingriffe akzeptieren, sicher mit nachvollziehbaren sachlichen Gründen (siehe oben), aber wahrscheinlich eben auch: durchaus dankbar. Schon vorher waren sie ja unter dem Druck steigender Infektionszahlen erkennbar davor zurückgescheut, mit den verfassungsrechtlichen Standards an dieser Stelle auch ernstzumachen, wie sich anschaulich gerade an den Entscheidungen studieren lässt, die überhaupt den Anlass für die jetzt vorgenommene Neuregelung bildeten; im ursprünglichen Regierungsentwurf vom 29.10. tauchte diese noch gar nicht auf (s. BR- Drs. 645/20 – Grunddrucksache). Aufgeschreckt worden war die Koalition hier vor allem durch einen am selben Tag ergangenen Beschluss des BayVGH, der als erstes Obergericht überhaupt nun „erhebliche Zweifel“ äußerte, ob die ihm zur Prüfung vorgelegten Regelungen „noch mit den Anforderungen des Parlamentsvorbehalts bzw. des Bestimmtheitsgebots aus Art. 80 Abs. 1 Satz 1 und 2 GG vereinbar“ seien; mittlerweile, so schloss er, drängten sich diese Zweifel sogar „geradezu auf“. Allerdings ging er ebenso wie einige andere Gerichte nach ihm diesen Zweifeln dann doch nicht auf den Grund, sondern stellte sie im Wesentlichen nur in den Raum und beruhigte sich ansonsten mit dem Hinweis auf „Bestrebungen“ in Bund und Ländern, das Problem anzugehen. Als juristisches Argument ist das einigermaßen kurios: Es fehlt für einen massiven Grundrechtseingriff derzeit an einer tragfähigen Rechtsgrundlage, aber man arbeitet ja daran. Bei keiner polizeilichen Verfügung hätte man das so durchgehen lassen. Immerhin führte dies aber dazu, dass die Ergänzung der bisherigen Generalklausel durch den neuen § 28a IfSG vom Gesetzgeber überhaupt in Angriff genommen wurde. Ironische Pointe: Hätten die Gerichte dieselben, nun wirklich nicht neuen Bedenken schon früher in dieser Klarheit angemeldet und ihre Kontrollfunktion auch insoweit wahrgenommen, hätte sich der Bundestag des Themas nicht erst jetzt und unter hohem Zeitdruck, sondern schon vor Wochen oder vielleicht auch Monaten angenommen. Und wir hätten dann vielleicht nicht nur ein besseres, sondern ein wirklich auch gutes Gesetz bekommen.
3.
Fragt man, was über diese oder jene Einzelheit hinaus und unter einem tieferen Gesichtspunkt an einem guten Gesetz fehlt, so könnte es vor allem der Umstand sein, dass es die eigentlich entscheidenden Fragen – oder wie wir sonst sagen: die „wesentlichen“ – nicht wirklich regelt, sondern auf eine eigenartige Weise in der Schwebe hält. Dies betrifft vor allem das Ziel, über das sowohl in der breiten Öffentlichkeit als auch zuletzt auf diesem Blog (hier und hier) ganz entgegengesetzte Vorstellungen im Umlauf sind: Liegt es entsprechend dem Söderschen Krankheitsvermeidungsmaximalismus („Jeder Tote, jeder Infizierte ist zu viel“) im Schutz vor jeder Infektion überhaupt oder ungleich bescheidener in der Verhinderung einer Überlastung des Gesundheitssystems, wie es die Bundeskanzlerin im Frühjahr ausgegeben hat? Das Gesetz nennt nun in § 28a Abs. 3 S. 1 einfach beide nebeneinander, ohne ihr Verhältnis näher zu klären. Es macht aber gerade für Phasen mit niedrigeren Infektionszahlen, wie wir sie im Sommer hatten und vielleicht im Frühjahr wiederbekommen, ersichtlich einen Unterschied, welches davon man verfolgt oder verfolgen will. Auch die Verpflichtung zur Berücksichtigung der sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen etwaiger Bekämpfungsmaßnahmen ist zwar nun immerhin im Gesetz ausdrücklich genannt. Aber es gibt letztlich auch nur Gesichtspunkte für die Abwägung vor, ohne diese selbst in irgendeiner Weise vorzustrukturieren: Letztlich müssen die Exekutiven in ihren Verordnungen nur berücksichtigen, was sie in den vergangenen Wochen und Monaten sowieso schon vermehrt berücksichtigt haben. Ebenso gießt auch die schematische Anknüpfung an bestimmte Schwellenwerte der Neuinfektionen, wie sie nun in § 28a Abs. 3, dem eigentlichen Herzstück der Regelung, vorgesehen ist, nur in Gesetzesform, worauf sich Bund und Länder informell schon vorher verständigt hatten. Eine das künftige Handeln tatsächlich steuernde und nicht nur das bisherige nachvollziehende Wirkung wird man dementsprechend hier nur schwer erkennen können. Darüber hinaus ist die Vorschrift, anders als alle anderen Regelungen im Zusammenhang mit der „epidemischen Lage von nationaler Tragweite“, die auch für künftige und derzeit noch ganz unbekannte infektiöse Krankheiten gedacht sind, ausschließlich auf die Eindämmung von Covid-19 zugeschnitten und an sie gebunden; fällt dieser Anlass, aus welchem Grund auch immer, weg, erledigt sie sich gleich mit: ein Sonderpandemierecht in einem Meer von allgemeinen Bestimmungen.
4.
Für Gesetze dieser Art hatte die ältere Staats- und Verwaltungslehre den Begriff des Maßnahmegesetzes verwendet; verstanden wurden darunter, wie Ernst Forsthoff einmal schrieb, Gesetze, die allein „einer Zweckverwirklichung dienen und ihr untergeordnet sind“, d.h. einer bestimmten, konkret-individuellen Situation entwachsen und zu ihr in einem überschaubaren logisch vollziehbaren Verhältnis stehen. In der heutigen Verfassungsrechtswissenschaft spielt der Begriff keine große Rolle mehr, meist unter Hinweis darauf, dass es bislang nicht gelungen sei, ihn näher zu konkretisieren; das BVerfG bezeichnete ihn deshalb schon früh als „verfassungsrechtlich irrelevant“. Bis auf die Prüfung eines Verstoßes gegen das Verbot des Einzelfallgesetzes aus Art. 19 Abs. 1 GG ist man auch immer noch auf der Suche nach der Frage, auf die er überhaupt die Antwort sein könnte. Er könnte aber gerade für die Beurteilung der nun geschaffenen Neuregelung hilfreich sein, weil in ihm zwei Elemente zusammenkommen, die gerade die Weimarer Verfassungsdiskussion über die Notstandslage sorgfältig voneinander unterschieden hatte, nämlich Gesetz und Maßnahme. Das Gesetz als abstrakt-generelle Norm zielt seiner Grundidee nach auf planvoll-langfristige Sozialgestaltung zur Verwirklichung politischer Zielvorstellungen, während die Maßnahme punktuell auf eine bestimmte Sonderlage bezogen ist und sich mit deren Wegfall selbst überflüssig macht; nicht die grundsätzliche Frage, wie und nach welchen Prinzipien wir unser Zusammenleben ordnen wollen, bestimmt sie, sondern ein Sachproblem, das man so schnell wie möglich und irgendwie in den Griff bekommen muss. Die Maßnahme ist damit von ihrer Grundidee her institutionell der Exekutive zugewiesen, so wie sie auch von ihrem Inhalt her weniger einer legislativen als vielmehr einer exekutivischen oder administrativen Entscheidungslogik verhaftet ist. Das Maßnahmegesetz, das sie in sich aufnimmt, bildet in diesem Sinne eine eigenartige Mischform zwischen exekutivem und legislativem Handeln; der äußeren Form nach Willensäußerung der Legislative, orientiert und bewegt es sich doch in einem exekutivischen Denkmuster: eben auch für sich mehr Maßnahme als Gesetz. Das ist dann immer noch etwas ganz anderes als das „Ermächtigungsgesetz“, wie es die geschichtsvergessene Kritik darin nun zu sehen meint; davon kann ja schon deshalb keine Rede sein, weil die Neuregelung gegenüber der umfassenden Ermächtigung zu allem und jedem, wie sie aus der bisherigen Regelung des § 28 i.V.m. § 32 IfSG herausgelesen wurde, nun eben doch einige Leitplanken und Begrenzungen festschreibt. Aber es enthält eben auch keinen gegenüber der bisherigen Praxis eigenständigen Regulierungszugriff und ist wie diese einem Modus der Problemlösung verhaftet, der die grundlegenden Fragen des Themas weiter auf die Zukunft verschiebt: bestenfalls ein „Provisorium“, wie es die Bundestagsabgeordnete Manuela Rottmann in ihrer Bundestagsrede charakterisierte.
Es wäre mehr möglich gewesen.