Rechtsstaatliche Immunabwehr
Verfassungsrechtliche Überlegungen zu den Corona-Maßnahmen anlässlich des „Wellenbrecher-Lockdown“
Seit gut sieben Monaten bestimmt die Corona-Pandemie die gesellschaftlichen, sozialen, politischen und juristischen Diskussionen. Mit dem am vergangenen Mittwoch, 28.10.2020, von Bund und Ländern politisch beschlossenen „Wellenbrecher-Lockdown“ beginnt am kommenden Montag, 2.11.2020, nicht nur eine neue und einschneidende Phase der Pandemiebekämpfung, es mehren sich seither auch gegenüber den Bekämpfungsmaßnahmen kritische Stimmen. In der politischen wie juristischen Debatte finden sich im Wesentlichen drei Kritikpunkte: die vermutete Unverhältnismäßigkeit der Maßnahmen, die mangelnde Bestimmtheit der Ermächtigungsgrundlagen und die ausbleibende Beteiligung der Parlamente in der Pandemiebekämpfung. Ein Aspekt scheint uns in der öffentlichen Debatte, zuletzt auch auf einer an der Universität Regensburg organisierten Konferenz, jedoch erstaunlich zu kurz zu kommen: die Pflicht des Staates zum Schutz von Leben und körperlicher Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG.
Pflicht zum Schutz von Leben und körperlicher Unversehrtheit: Das Untermaßverbot
Als Freiheitsrechte sind die Grundrechte in erster Linie gegen den Staat gerichtet, sie berechtigen als Abwehrrechte die Bürger*innen, vom Staat das Unterlassen (verfassungswidriger) Eingriffe zu verlangen. In ständiger Rechtsprechung entnimmt das Bundesverfassungsgericht den Grundrechten weitere Grundrechtswirkungen. Zu ihnen gehören seit der ersten Abtreibungsentscheidung (BVerfGE 39, 1) im Jahr 1975 die Grundrechtsdimension der Schutzpflichten. Hiernach ist der Staat verpflichtet, das Leben und die körperliche Unversehrtheit der Einzelnen auch vor Eingriffen Dritter zu schützen1).
Freilich obliegt den Legislativ- und Exekutivorganen bei der Wahrnehmung dieser Aufgabe eine weite Einschätzungsprärogative. Sie haben das Recht (und die Pflicht), Umfang und Gestalt des Schutzes zu bestimmen2). Während die Grundrechtsdimension der Schutzpflichten die Frage des „Ob“ von Maßnahmen verfassungsrechtlich beantwortet, lässt sich das „Wie“, also die Frage der Ausgestaltung der Schutzmaßnahmen regelmäßig nicht unmittelbar aus dem Grundgesetz ableiten.
Schon in der (keineswegs unumstrittenen) Abtreibungsentscheidung von 19753) und noch deutlicher im Beschluss zur Entführung von Hanns Martin Schleyer 19774) sind subjektive Ansprüche von Bürger*innen auf Erfüllung eines Untermaßes der Schutzpflichten angelegt. Die Anforderungen dafür sind bis heute weitgehend ungeklärt5).
Ein Grund dafür mag der karge Wortlaut des Grundgesetzes sein. Dieser hält nur fest, dass jeder ein „Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit“ (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) hat, während sich die genauen Anforderungen des Schutzanspruches nicht unmittelbar aus dem Wortlaut des Grundgesetzes ergeben. Gleichwohl ist der Verfassung das Gebot zu entnehmen, das Leben und körperliche Unversehrtheit der Einzelnen zu schützen.
Für die aktuelle Situation bleibt festzuhalten: Ziel der staatlichen Maßnahmen in der Pandemiebekämpfung darf und muss der Schutz der individuellen Gesundheit der Büger*innen sein, nicht nur der Schutz vor Überlastung des Gesundheitssystems, wenn auch beide miteinander zusammenhängen.
Grundrechtliche Schutzpflichten als Legitimation von Eingriffen in Freiheitsrechte
Eine wesentliche Funktion der Schutzpflichten ist die Rechtfertigung von Eingriffen in Freiheitsrechte6). Selbstverständlich müssen diese Eingriffe auf einer gesetzlichen Grundlage beruhen – Eingriffsbefugnisse können nicht unmittelbar aus der Schutzpflichtendimension der Grundrechte abgeleitet werden, sondern bedürfen gesetzlicher Anordnung7). Genau hier liegt ein wesentliches Problem der Corona-Bekämpfungsmaßnahmen. Die im Infektionsschutzgesetz enthaltenen, auf Einzelfälle von Infektionen bezogenen Standardmaßnahmen decken zwar in der Eingriffsintensität, nicht jedoch in Umfang und Ausmaß die in der Corona-Pandemie getroffenen Regelungen. Auf die Generalklausel kann dann vor dem Hintergrund der hohen Eingriffsintensität eigentlich nicht mehr zurück gegriffen werden8).
Der verfassungsrechtliche Rahmen ist grundrechtlich zwischen Untermaß der Schutzpflichtverwirklichung einerseits und Übermaß der Eingriffe andererseits aufgespannt. In diesem Rahmen obliegt es Exekutive und Legislative, über konkrete Maßnahmen zu entscheiden. Dies umfasst grundsätzlich auch die Entscheidung über die Lasten der Pandemie – etwa, ob Bars und Clubs oder Schulen und Hochschulen zur Pandemiebekämpfung zu schließen sind.
Willkürkontrolle und Begründungserfordernis
Derartige Entscheidungen über die pandemische Lastenverteilung unterliegen wie alle hoheitlichen Entscheidungen einer aus dem allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) folgenden Willkürkontrolle, wie sie das OVG Schleswig-Holstein anschaulich zuletzt in einem Beschluss zum Beherbergungsverbot vorgenommen hat9).
Das Willkürverbot zwingt die Exekutiv- und Legislativorgane zu rationalen Entscheidungen. Diese Anforderung legt Legislative und Exekutive zugleich eine Pflicht zur Eigenkontrolle durch Begründung auf, die mit zunehmendem Wissen über das Virus und dessen Verbreitung präziser werden muss. Dieser Anforderung scheinen die zuständigen Stellen zunehmend gewahr zu sein, nachdem Gerichte allzu spärliche Begründungen berechtigterweise nicht mehr als ausreichend angesehen haben10). Die konzise Begründung des Bund-Länder-Beschlusses vom 29.10.2020 zeigt genau ein solches Bewusstsein von der Begründungspflichtigkeit weitreichender Bekämpfungsmaßnahmen.
Kohärenz der Maßnahmen?
Teilweise wird erwogen, über die Willkürkontrolle hinaus auch die Kohärenz der Maßnahmen als verfassungsrechtliche Anforderung zu verlangen11). Diese folgenreiche Überlegung ergibt sich weder unmittelbar aus dem Text des Grundgesetzes noch aus überkommener Verfassungsdogmatik und verlangt schon deshalb gründliche verfassungsrechtliche Untersuchung und wissenschaftliche Diskussion. Einige erste Überlegungen seien hier in die Debatte eingebracht.
Die Vorstellung von einer Kohärenz aller staatlichen Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie trägt die Gefahr vollständiger Determination der Maßnahmen durch vermeintliche Verfassungsprinzipien in sich. Eine solche Anforderung könnte den Entscheidungsrahmen von Exekutiv- und Legislativorganen wesentlich, möglicherweise entscheidend verkürzen, was demokratietheoretisch nicht unmittelbar einleuchtet.
Die Erwartung von vollständiger Kohärenz aller staatlichen Maßnahmen widerspräche der föderalen Staatsorganisation, wie sie bislang verstanden wurde. Ein Kohärenzkriterium ließe außer Acht, dass eine föderal organisierte Pandemiebekämpfung auf verschiedenen Ebenen in unterschiedlichen Zweckbestimmungen, Maßnahmen und deren jeweiligen Voraussetzungen resultiert. Diese föderale Regelungspluralisierung geschieht in der Erwartung, dass die Unterschiedlichkeit der Maßnahmen für die lokal oder regional spezifischen Situationen jeweils grundrechtschonende und gleichzeitig effektive Mittel zur Pandemiebekämpfung hervorbringen. Eine konsequente Prüfung auf Kohärenz all dieser disparaten Maßnahmen übersteigerte die Anforderungen an die entscheidungstragenden Personen in Exekutive, Legislative und Judikative in einer Weise, die praktische Maßnahmen sehr erschwerte.
Die einzelnen Bekämpfungsmaßnahmen als Gesamtkonzept
Das aktuelle Konzept individuellen Rechtsschutzes spricht jedoch möglicherweise dennoch für eine gesamthafte Betrachtung der Corona-Maßnahmen. Verwaltungs- und verfassungsrechtlicher Rechtsschutz ist auf die Überprüfung individueller oder genereller Einzelmaßnahmen angelegt. Die Rechtsprechung muss also Einzelmaßnahmen in den Blick nehmen und jeweils für sich genommen auf ihre Recht- und Verfassungsmäßigkeit überprüfen.
Gleichwohl entfalten die Maßnahmen erst und vermutlich nur in ihrer Gesamtheit Wirkung in der Pandemiebekämpfung, worauf Alexander Thiele zutreffend hinweist. Gerichte sollten oder müssen bei der Überprüfung der Geeignetheit einer einzelnen Maßnahme das Gesamtkonzept der verschiedenen Maßnahmen in den Blick nehmen, freilich weniger unter dem Gesichtspunkt der Kohärenz als unter dem Gesichtspunkt des Zusammenspiels der Einzelmaßnahmen.
Parlamentsbeteiligung
Schon seit dem Anfang der Pandemie wird im juristischen Diskurs darauf hingewiesen und neuerdings auch im politischen Diskurs darauf gedrungen (etwa Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble oder die Protokollerklärung des Landes Thüringen im Bund-Länder-Beschluss vom 28.10.2020), dass Bundestag und Landesparlamente die wesentlichen grundrechtsrelevanten Regelungen der Pandemiebekämpfung treffen sollten. Dies gebietet schon Vorbehalt des Gesetzes aus Art. 20 Abs. 2 S. 1, 2 GG, wonach die Gesetzgebungsorgane alle wesentlichen Entscheidungen zu treffen haben12).
Es steht und stand dem Bundestag jederzeit offen, das Ende der pandemischen Lage nach § 5 Abs. 2 S. 2 IfSchG festzustellen, das Infektionsschutzgesetz zu ändern oder ganz neue Pandemiegesetze zu erlassen. Die Landesparlamente können gem. Art. 80 Abs. 4 GG i. V. m. den Regelungen der jeweiligen Landesverfassung ebenfalls von §§ 32 S. 1, 28 Abs. 1 IfSchG Gebrauch machen und Gesetze anstelle der durch die Regierungen zu erlassenden Rechtsverordnungen verabschieden. Nach Art. 76 Abs. 1 GG können Initiativen zur Gesetzgebung aus der Mitte des Bundestages eingebracht werden. Entsprechende Regelungen finden sich in den Landesverfassungen. Die Abgeordneten des Bundestages und der Landtage haben also jederzeit die Möglichkeit, die Parlamente auch außerhalb des Haushaltsrechts wieder ins Spiel zu bringen. Allein: Sie tun es (bislang) nicht.
Aus demokratischer Sicht ist es vorzugswürdig, wenn die Exekutivlastigkeit der Pandemiebekämpfung nach mehr als einem halben Jahr abgelöst wird und die Parlamente die Maßnahmen in ihren Grundzügen diskutieren und legitimieren, bevor sie beschlossen werden. Die Regierungserklärung der Bundeskanzlerin Angela Merkel am vergangenen Donnerstag, 29.10.2020, im Deutschen Bundestag, war deswegen ein richtiger Schritt für die öffentliche Deliberation, aber eben ein den eigentlichen Entscheidungen nachfolgender. Gleichwohl sollten die Parlamente nicht abwarten, bis die Exekutive tätig wird, sondern aus eigenem Gestaltungswillen tätig werden. Anlass gäbe es genug, etwa bei den inzwischen zu neuen Standardmaßnahmen geronnenen Pandemiemaßnahmen, die eigenständiger Regelung bedürfen.
Rechtsstaat und Kontrollfunktion der Justiz
Es wäre überraschend, wenn in einer Pandemie ungekannten und unerforschten Ausmaßes die vielen unterschiedlichen Agierenden im Bund, den Ländern und den Kommunen alle Maßnahmen im ersten Anlauf perfekt treffen würden. Hier hat der Rechtsstaat im Großen und Ganzen sehr gut funktioniert. Die sehr schnelle und effektive institutionelle Kontrolle durch Rechtsprechung und Bundesverfassungsgericht hat überschießende Maßnahmen in den letzten Monaten stets rasch und mit klarem Blick auf die grundrechtliche Konfliktsituation wieder kassiert. Das haben zuletzt etwa das OVG Schleswig-Holstein und das Bundesverfassungsgericht in ihren differenzierten Beschlüssen zum Beherbergungsverbot gezeigt13).
Selbstverständlich wäre es schön, wenn für solche Gerichtsentscheidungen gar keine Notwendigkeit bestünde. Die politische Verantwortung für die Verfassungskonformität getroffener Maßnahmen obliegt denn auch weiterhin in erster Linie Exekutive und Legislative. Kritische öffentliche Debatte kann und muss diese Verantwortung mit Nachdruck einfordern, so etwa die Befassung der Parlamente mit den Maßnahmen. Aus verfassungsrechtlicher Sicht ist dennoch beruhigend, bei aller berechtigten Kritik an Einzelentscheidungen die deutsche Justiz als hervorragende und pandemiefeste Immunabwehr im Rechtstaat zu wissen.
References