14 June 2016

Supranationale Demokratie als Demokratieflucht: Die Kommission im Freihandelsmodus

Die Europäische Kommission spielt in der auswärtigen Handelspolitik, speziell in den laufenden Freihandelsverhandlungen, seit einiger Zeit „Bäumchen wechsle dich“. Dazu ein kurzer Rück- und Überblick: Der EuGH wird bald im Gutachtenverfahren darüber entscheiden, ob die Union das Freihandelsabkommen mit Singapur allein, d.h. ohne Beteiligung der nationalen Parlamente abschließen kann. Die Kommission, die dieses Verfahren nach Art. 218 Abs. 11 AEUV im Sommer 2015 eingeleitet hat, möchte vom EuGH genau wissen, welche Teile des Abkommens in die Unions- und welche in die mitgliedstaatliche Zuständigkeit fallen (Rs. 2/15). Das hat in der öffentlichen Aufregung, die seit den ersten Verhandlungsrunden über TTIP und später über CETA herrschten, zu wenig Beachtung gefunden.

Die Fragen der Kommission sind präzise gestellt und werden ihr als Blaupause für die Behandlung von CETA und dann – da dieses seinerseits als „Blaupause“ für TTIP gilt – für letzteres dienen. Damit sind wir im Aufmerksamkeitsrahmen der öffentlichen Berichterstattung, nach der es derzeit aufgrund der abneigenden Haltung der US-Präsidentschaftskandidaten ohnehin nicht gut um die Zukunft von TTIP bestellt ist. Näher vor der Tür steht allerdings CETA. Wie hält es die Kommission angesichts der angespannten politischen Lage innerhalb Europas nun mit der Legitimationsbedürftigkeit dieser Abkommen?

Der Streit, was genau von Art. 207 Abs. 1 AEUV, der ausschließlicher EU-Kompetenz unterliegenden gemeinsamen Handelspolitik, umfasst ist, ist politisch und rechtlich bisher unentschieden. Er wird bis ins Detail geführt, ein Beispiel gibt die Unterscheidung zwischen Direktinvestitionen (EU-Kompetenz) und Portfolioinvestitionen (Mitgliedstaaten) (Rn. 47). Doch diese strittigen Spitzfindigkeiten sind keineswegs lästige technische Detailfragen. Sie entscheiden letztlich über die Beteiligung der nationalen Parlamente.

Der Verhandlungsverlauf von TTIP bietet ein anschauliches Beispiel für die Responsivität der Kommission gegenüber kritischen nationalen Öffentlichkeiten. Anfangs vertrat die Kommission die Ansicht, TTIP falle in die ausschließliche Zuständigkeit der Union, mithin reiche die Befassung des Europäischen Parlaments. Die Bundesregierung war früh anderer Ansicht und vertrat diese Auffassung auch gegenüber der Kommission im Handelspolitischen Ausschuss, einem Sondergremium im Bereich der auswärtigen Handelspolitik (Art. 207 Abs. 3 AEUV). Beiden Seiten wird klar gewesen sein, dass es letztlich auf den (noch nicht ausverhandelten) Inhalt der Abkommen ankommt. (hier S. 7 f. und hier S. 2 f.).

Nach kontinuierlich anwachsenden Protesten schaltete sich der damalige Handelskomissar der letzten Barroso-Kommission, Karel de Gucht, aktiv in die deutsche Debatte mittels Gastbeiträgen und Interviews in großen Tageszeitungen ein (z.B. hier). Letztlich schwenkte er, stellvertretend für die Kommission, auf die Linie ein, TTIP werde voraussichtlich als gemischtes Abkommen geschlossen, mithin auch von „Bundestag und Bundesrat“ ratifiziert werden (hier). Auch die Entscheidung, die Verhandlungen um den Investitionsschutz zeitweise auszusetzen, den zivilgesellschaftlichen Kontakt in der Sache zu vergrößern und mehr Verhandlungsmaterial zu veröffentlichen, sollte die Debatte beruhigen, entschleunigen und versachlichen. Die Kommission bastelte nach der anhaltenden öffentlichen Kritik an demokratischen und diskursiven Krücken – ein Erfolg der kritischen politischen Kommunikation der Öffentlichkeit.

Seitdem ist einige Zeit ins Land gegangen. In der Juncker-Kommission muss sich nun Cecilia Malmström als neue Handelskomissarin mit der empfindlichen Materie befassen. Richtig gefruchtet haben die Überzeugungsversuche der Wirtschaft und Politik allerdings nicht, im Gegenteil. Zwar kann man automatisierte Massenprotestformulare im Internet und ähnliche, mit Blick auf ihre Substanz fragwürdige, selbst unternehmerisch organisierte Protestveranstaltungen zu Recht kritisch beäugen (z.B. hier, S. 158 f.; hier; zu gekauften Schauspielern für Demonstrationen hier). Inzwischen hat sich die Ablehnung, ob nun nach geflissentlicher Information über den aktuellen Verhandlungsstand oder nur aus reißerischen Überschriften zu neuesten „Leaks“, allerdings erheblich verbreitert. Sie ist ein der Politik gegenüberstehendes Faktum. Die Berliner TTIP-Demonstration Ende 2015 wurde in der Berichterstattung als die größte seit dem Irakkrieg 2003 beschrieben, die Protestbewegung gegen den Freihandel an sich als die größte seit dem Nato-Doppelbeschluss in den 80er-Jahren (hier). Das kann rational oder irrational sein. Doch wie damit umgehen?

Die letzten Nachrichten deuten auf ein Vorgehen mit der Brechstange seitens der Kommission hin, die zugleich einen neuerlichen Politikwechsel in Sachen Legitimationsbedürftigkeit von Freihandelsabkommen bedeutet. Demnach sollen die Parlamentsabgeordneten der Mitgliedstaaten nicht über CETA – nochmals: das auch ganz offiziell als TTIP-„Blaupause“ bezeichnete Europäisch-Kanadische Freihandelsabkommen – abstimmen, sondern nur noch die Europaparlamentarier. Die Kommission stellt sich damit quer zur Auffassung der Mehrheit der Mitgliedstaaten, des juristischen Dienstes des Rates und der im Januar 2016 geäußerten einhelligen Meinung im Bundestagsausschuss für Recht und Verbraucherschutz (hier, hier S. 3 und hier). Anfang Juli wird die Kommission ihre Entscheidung in dieser Sache bekanntgeben und näher darlegen (hier).

Auf die derzeitige politische Lage in der Union im Allgemeinen und die Haltung eines Teils der Öffentlichkeit zum Freihandel mit einem Verweis auf eine formale Kompetenz – zugunsten der Kommission einmal angenommen, der EuGH entscheidet in Sachen Singapur in ihrem Sinn – und die sachliche Expertise hinzuweisen, ist ein kognitiver Rückschritt der Kommission in Sachen Responsivität gegenüber demokratischer Öffentlichkeit. Sie ist, mit der Prämisse, durch das Europäische Parlament seien die Abkommen noch irgendwie durchzubringen, auch eine demokratische Milchmädchenrechnung. Natürlich sind die Hürden bei einer Ratifikation der nationalen Parlamente enorm. Aber denen, die keine Freihandelsexpertise, aber Wahlrecht und politische Meinung haben und dies, zusammen mit Hinweisen auf teilweise vorläufige Anwendungen über Jahre im Vorfeld der Ratifikation (hier und hier), zur Kenntnis nehmen, kann die Neupositionierung nicht mehr als Versuch der Stärkung supranationaler Demokratie erscheinen, sondern als ihre Instrumentalisierung zur Reduzierung von Demokratie.

Sind die Freihandelsabkommen vorteilhaft für beide Vertragsparteien, muss dies auch rational vermittelbar sein. Befürworter, aber mehr noch Gegner arbeiten zu einem gewichtigen Teil mit Angst – einerseits Herabfallen Europas in die wirtschaftliche Bedeutungslosigkeit, andererseits Umwälzung und „Amerikanisierung“ der Rechts-, Wirtschafts- und Sozialordnung – und tragen nicht zur Möglichkeit bei, sich auf Grundlage der hysterischen Verzerrungen eine ausgewogene Meinung bilden zu können. Die Kommission und die Mitgliedstaaten müssen mehr informieren und von ihrer Haltung überzeugen, als auf Expertenebene Ausverhandeltes „durchzusetzen“. So wirkt das Vorgehen als politischer Verstärker einer schon verbreiteten Europaskepsis, deren Parolen Expertokratie, geheime Elitenherrschaft und Zwangsbeglückung sind. Der Glaube an einen zur eigenen rationalen Geistesanstrengung fähigen Menschen verbietet eine entlastende Demokratieflucht ins Supranationale. Er muss auf allen Ebenen kommunizieren und überzeugen.


SUGGESTED CITATION  Weber, Ferdinand: Supranationale Demokratie als Demokratieflucht: Die Kommission im Freihandelsmodus, VerfBlog, 2016/6/14, https://verfassungsblog.de/demokratieflucht-kommission-freihandelsmodus/, DOI: 10.17176/20160615-093028.

38 Comments

  1. Jessica Lourdes Pearson Tue 14 Jun 2016 at 18:34 - Reply

    Was soll uns dieser Beitrag sagen?

    1. Ob ein Abkommen in die ausschließliche Zuständigkeit der EU fällt – oder ob es ein “gemischtes Abkommen” ist, an dem auch die Mitgliedstaaten beteiligt sind (und dem folglich auch die nationalen Parlamente zustimmen müssen) – ist eine Rechtsfrage, die (im Streitfall letztlich vom EuGH) auf Grundlage der Kompetenznormen des AEUV zu beantworten ist.

    2. Diesen Kompetenznormen haben alle demokratisch legitimierten Gesetzgeber aller Mitgliedstaaten zugestimmt. Sie sind also durchaus demokratisch legitimiert.

    3. Diese Kompetenznormen sind der zentrale Baustein der EU, die auf dem Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung beruht. Sie regeln die vom Vertragsgeber (siehe 2.) gewollte Verteilung von Befugnissen zwischen der EU und den Mitgliedstaaten.

    4. Folglich ist eine Maßnahme der EU nicht per se “legitimer” oder “demokratischer”, wenn ihr zusätzlich auch die Parlamente der Mitgliedstaaten zustimmen.

    5. Die im Beitrag gebrauchte Wendung “kognitiver Rückschritt der Kommission in Sachen Responsivität gegenüber demokratischer Öffentlichkeit” ist also ein Euphemismus für die Forderung, dass die Kommission gegebenenfalls rechtswidrig handeln soll, weil die öffentliche Meinung in manchen Mitgliedstaaten CETA ablehnt. Oder?

  2. Offene Frage Tue 14 Jun 2016 at 20:19 - Reply

    @JPL Was darf man bei der Auslegung einer Kompetenznorm eigentlich alles berücksichtigen?

  3. Jessica Lourdes Pearson Tue 14 Jun 2016 at 21:46 - Reply

    Wie bei der Auslegung jeder anderen Norm auch: Wortlaut, Systematik, Genese, Telos. Kein Auslegungstopos ist: Meinung eines Teils der Bevölkerung. Aber das war ohnehin eine rhetorische Frage, und ihr messerscharfer Einwand wird auf dem Fuß folgen.

  4. Offene Frage Tue 14 Jun 2016 at 22:15 - Reply

    Was den Hinweis eines kognitiven Rückschritts angeht bin ich ganz bei Ihnen. Die von Ihnen angesprochene Rechtsfrage ist nach meinem Verständnis des Beitrags doch recht offen, m.a.W. man kann das mit der Auslegung links oder rechts herum machen. Der Beitrag ordnet die Frage halt in einen allgemeineren politischen Kontext ein und hat vor diesem Hintergrund eindeutig eine Präferenz für eine Lösung unter Einbeziehung der nationalen Parlamente. Dass es per se einen Unterschied im Hinblick auf das Demokratieprinzip des GG machen dürfte, ob Organe einer Internationalen Organisation nach Übertragung von Hoheitsgewalt mit oder ohne Beteiligung des Deutsche Bundestags handeln, ist verfassungsrechtlich weitgehend geklärt. Das können sie natürlich anders sehen, wenn sie ein anderes Demokratieverständnis als das BVerfG zu Grunde legen.

  5. schorsch Tue 14 Jun 2016 at 22:45 - Reply

    An dieser Stelle wäre vielleicht der Hinweis angebracht, dass die Entscheidung darüber, ob Verträge gemischt geschlossen werden oder nicht, häufig pragmatisch politisch gehandhabt worden ist. Das liegt unter anderem an den massiven praktischen Schwierigkeiten bei d