Der Ausnahmezustand
In dem Beitrag zu Gottesdienstverboten auf der Grundlage des Infektionsschutzgesetzes, den der Göttinger Staats- und Kirchenrechtler Hans Michael Heinig soeben auf dem Verfassungsblog veröffentlicht hat, findet sich an dort etwas versteckter Stelle ein Satz, über den sich gründlicher nachzudenken lohnt: Ungern fände man sich in einigen Wochen in einem Gemeinwesen wieder, das sich von einem demokratischen Rechtsstaat in kürzester Frist in einen faschistoid-hysterischen Hygienestaat verwandelt hat. Blickt man sich in der Welt um uns herum um, ist das zwar drastisch formuliert, aber als Befürchtung möglicherweise nicht übertrieben. Dabei geht es nicht darum, die Einschränkungen, denen wir alle uns derzeit ausgesetzt sehen, in ihrer grundsätzlichen Berechtigung anzuzweifeln: Die ganz überwiegende Zahl der Experten, in der Sache nun ausschließlich Virologen, hält sie für unabdingbar, die Regierungen versuchen sie – jedenfalls hierzulande – noch unter Berücksichtigung der Maßstäbe praktischer Vernunft anzuwenden, die Bevölkerung sieht ihre Notwendigkeit ein oder fügt sich jedenfalls ganz überwiegend darin. Und wie in allen diesen Fällen, in denen eine komplexe Gefahrenprognose erforderlich ist, werden wir – wenn überhaupt – erst hinterher wissen, ob wir richtig gehandelt haben, ob man viel früher oder viel härter hätte handeln müssen oder ob das Ganze nicht doch ein „Feuerwerk des Wahnsinns“ war, wie es nun andere Experten auf einer gerade in Frankfurt ausgerichteten Podiumsdiskussion behaupten. Aber wenn wir die Berechtigung der Maßnahmen unterstellen, dann deshalb, weil wir darauf hoffen, dass sie greifen und etwas bewirken, und zwar in nicht allzu ferner Zukunft. Tun sie es, ist alles gut. Aber was, wenn nicht – und wenn der Zustand, der durch sie eintritt, länger und länger dauert, vielleicht ein Ende auch gar nicht absehbar ist? Dazu drei knappe, aber grundsätzliche Bemerkungen aus der Sicht der Staatstheorie, des Verfassungsrechts und der Rechtsphilosophie.
1. Die staatstheoretische Überlegung betrifft das Verhältnis von Normallage und Ausnahmezustand, das durch die Corona-Krise mit einer Wucht auf die Tagesordnung gesetzt ist, die sich noch vor drei oder vier Wochen so niemand hätte vorstellen können. Seitdem leben wir gefühlt im Ausnahmezustand: mit drastischen Beschränkungen des wirtschaftlichen wie des privaten Lebens, in einem Zustand von Gesellschaft, die nach und nach auf Null heruntergefahren wird. Aber er ist außerhalb von Bayern in der Bundesrepublik nirgends erklärt, und auch in Bayern, wo er als Katastrophennotstand ausgerufen ist, ist die Folge wenig mehr als eine Verschiebung und Konzentration der Zuständigkeiten zu den Spitzen der Exekutive. Ansonsten sind alle Maßnahmen, die hier getroffen worden sind, auf der Grundlage und im Rahmen des einfachen Rechts getroffen worden, das alle entsprechenden Ermächtigungen bereithält, von den Regelungen des Infektionsschutzgesetzes bis hin zur Möglichkeit polizeirechtlicher Allgemeinverfügungen zur Schließung von Spielplätzen. Was besagt das dann über dieses Verhältnis? Offenbar sind die Übergänge und auch die Grenzen fließend geworden, und ob wir im Ausnahmezustand oder in der Normallage leben, ist in vielen Fällen, wie es auch in dieser Zeitung jetzt zu lesen war, nur eine Frage der Bezeichnung.
Das verweist auf einen grundsätzlichen Wandel im gegenseitigen Verhältnis, wie er jetzt auch in einigen jüngeren, leider allesamt noch unveröffentlichten juristischen Habilitationsschriften direkt oder indirekt und ungeachtet der im Einzelnen unterschiedlichen Ansätze zum Thema gemacht worden ist. In der klassischen Sicht, wie sie exemplarisch von Carl Schmitt vertreten wurde, sind beide strikt voneinander geschieden, als zwei getrennte Reiche oder Ordnungen, die für den äußersten Gegensatz stehen: der Ausnahmezustand als Situation des Chaos, in der rechtliche Bindungen in nichts mehr gelten und die Ordnung durch souveräne Entscheidung erst wieder hergestellt werden muss, der Normalzustand als der Zustand des Rechts, in dem auf alle kleineren und auch größeren Herausforderungen mit den vorhandenen Mitteln und in den Grenzen des Rechts reagiert wird. Seitdem sind diese Mittel aber beständig ausgebaut und auf alle möglichen Situationen erstreckt worden, was man auch so formulieren kann, dass das frühere Ausnahmerecht mehr und mehr in das Recht der Normallage hineingeholt worden und in diese eingewandert ist. Der klassische Ausnahmezustand, notierte derselbe Carl Schmitt deshalb schon wenige Jahre später, ist dadurch nun etwas Altmodisches geworden.
In der jüngeren Entwicklung zielt insbesondere die Hinwendung zum Präventionsstaat, wie sie etwa seit dem Ende der 1980er Jahre von Erhard Denninger bis zu Dieter Grimm vielfältig beobachtet und diagnostiziert worden ist, darauf ab, Krisen schon weit im Vorfeld zu antizipieren, also nicht erst dann aktiv zu werden, wenn eine konkrete Gefahr besteht, sondern schon die Situation zu verhindern, aus der heraus sie womöglich irgendwann entstehen könnte. Auch für diesen Fall stehen aber die geeigneten Mittel oft schon bereit. Heute führt uns gerade die Corona-Krise vor Augen, wie weit diese Entwicklung vorangeschritten ist: Keine entfesselte Gewalt tritt uns hier vor Augen, sondern ein Verwaltungsstaat in einem Vorgang des allgemeinen und besonderen Verwaltungsrechts, der die Lage mit seinen Mitteln in den Griff zu bekommen versucht und dabei, wie sich zeigt, ziemlich weit gehen kann. Auch in Frankreich, wo der Ausnahmezustand nun mit martialischen Worten vom Präsidenten förmlich erklärt worden ist, wird man im Übrigen bei näherem Hinsehen bemerken, dass rein rechtlich die Unterschiede im Vergleich zum Zustand davor so groß nicht sind, so wie es auch schon bei der letzten Erklärung des Ausnahmezustands durch den vorherigen Präsidenten anlässlich der Terroranschläge im Bataclan zu beobachten war.
Die Frage ist allerdings, ob uns das eher beruhigen oder beunruhigen sollte. Man bekommt, wenn man den Blick von dem gegenwärtigen Problem einmal abwendet, eine Ahnung davon, was auch in demokratischen Rechtsstaaten binnen kurzer Zeit alles möglich ist, wenn einmal die falschen Leute die Hebel der Macht – oder sagen wir es, wie es ist: die des Rechts – in die Hand bekommen. Darüber hinaus haben wir aus der Diskussion um die Ausnahmelage einiges gelernt, was in der derzeitigen Situation vielleicht von Nutzen sein kann, etwa dass diese traditionell die Stunde der Exekutive ist. Opposition wird nicht honoriert und kommt deshalb auch faktisch nicht vor; in der Stunde der Not müssen alle zusammenrücken. Umgekehrt erhält die Regierung eine Prämie, die nicht nur ihr als Institution, sondern auch denen zukommt, die sie als Personen repräsentieren; für diese wirkt sie sich, man muss es so nüchtern sagen, nicht zuletzt in künftigen Wahlchancen aus.
Diese Prämie fällt ihrerseits umso größer aus, je sichtbarer man den Willen zur Tat demonstriert; profilieren können sich letztendlich immer nur diejenigen, die die jeweils härtesten und weitergehenden Maßnahmen vorschlagen, während alle anderen als Zauderer und Zögerer alsbald unter Druck geraten. Das ist eine Eigengesetzlichkeit des politischen Wettbewerbs, von der man nur hoffen kann, dass auch und gerade die bei uns Regierenden sie in all ihrem Handeln selbstkritisch reflektieren; wir jedenfalls sollten es tun. Schließlich erzeugt das Denken in den Kategorien der Ausnahme her typischerweise eine entsprechende Rhetorik, die sich immer weiter selbst verstärkt und von der man sich vielleicht irgendwann wird fragen müssen, wie man davon wieder herunterkommt. Wenn man in einem „Krieg gegen das Virus“ steht, wie ihn der französische Präsident nun ausgerufen hat, wird man ihn am Ende so lange führen müssen, bis er gewonnen ist, koste es, was es wolle.
2. Als reale Situation bleibt die Ausnahmesituation jedenfalls im Recht der Normallage insofern präsent, als sich aus ihr auch ergibt, welche Beschränkungen hierzulande mit der Verfassung, insbesondere mit den Grundrechten vereinbar sind und welche nicht. Auch dazu haben sich eine Reihe von Juristen schon geäußert, und es ist alles so richtig wie trivial: Gleich welche Grundrechte konkret betroffen sind, wie bestimmt und konkret die gesetzlichen Regelungen gefasst sind oder wie tief die Einschränkungen in das individuelle und gesellschaftliche Leben hineinwirken – am Ende sind es immer die Bedeutung der auf dem Spiel stehenden Rechtsgüter und die schiere Größe der Gefahr, die auch ganz drastische Maßnahmen rechtfertigen.
Kein Verwaltungs- oder auch Verfassungsgericht würde es in der derzeitigen Situation riskieren, auch nur eine davon zu beanstanden und der Regierung im Kampf gegen die als existenziell empfundene Bedrohung in den Arm zu fallen. Dem entspricht es, dass die Frage der Verfassungsmäßigkeit solcher Maßnahmen in der öffentlichen Diskussion bislang so gut wie keine Rolle spielt, was gerade in einem Land, das sonst alle politischen Fragen gern als Verfassungsfragen behandelt, durchaus bemerkenswert ist. Natürlich mag man insbesondere im Fall einer Ausgangssperre, wie sie auch hierzulande bald drohen könnte (alle Maßnahmen, die wir in den Nachbarländern beobachten können, erreichen uns ja im Ergebnis immer nur mit einiger Verzögerung) fragen können, was diese eigentlich bewirkt und wieso es für irgendjemanden schädlich sein soll, wenn man alleine oder mit der Familie in genügendem Abstand von anderen im Park oder selbst in der Stadt spazieren geht. Auch ist es eine so tief in die persönliche Freiheit einschneidende Maßnahme, dass man sie sich so vor Ausbruch der Krise nur in China oder, sagen wir, Nordkorea vorstellen konnte.
Aber schon die erleichterte Kontrollierbarkeit und die tatsächlich bewirkte Einschränkung von Kontakt- und damit von Übertragungsmöglichkeiten dürften angesichts des bei der Eignungsprüfung traditionell angelegten großzügigen Maßstabs – am Ende scheitert daran ja nur, was evident ungeeignet ist – im Ergebnis auch sie rechtfertigen. Die entscheidende Frage bleibt allerdings, wie lange diese Rechtfertigung wirkt und wie lange an ihr festgehalten werden kann, wenn alle entsprechenden Maßnahmen nicht oder jedenfalls nicht innerhalb eines begrenzten Zeithorizonts greifen: einen Monat? Zwei oder drei Monate? Ein Jahr oder möglicherweise sogar zwei Jahre, wenn, wie es einige Virologen schon vorhersagen, im Oktober möglicherweise die nächste Welle heranrollt und bis dahin kein Impfstoff gefunden ist?
Spätestens dann werden die Fragen, die wir jetzt verdrängen, wieder auf uns zukommen, und wir werden eine Antwort darauf finden müssen. Sie werden sich praktisch stellen, weil das weitgehende Herunterfahren von Gesellschaft immer nur für begrenzte Zeit aufrechterhalten werden kann; irgendwann wird der Widerstand so groß, dass es nicht mehr geht. Sie stellen sich aber auch verfassungsrechtlich und hier speziell als Frage nach der weiteren Angemessenheit der entsprechenden Einschränkungen, wenn der mögliche Erfolgseintritt immer weiter in der Zukunft liegt und andererseits die sichtbaren Folgeschäden größer und größer werden. Diese betreffen die Individuen, aber sie betreffen auch die Gesellschaft insgesamt in politischer, in kultureller und – man muss dies so sagen – auch in wirtschaftlicher Hinsicht. Niemand will aus dem gegenwärtigen Alptraum in einem Trümmerfeld erwachen, in dem ganze Wirtschaftszweige, eine Vielzahl von Unternehmen und massenhaft individuelle berufliche Existenzen vernichtet sind.
3. Die damit aufgeworfenen Abwägungsfragen führen hinaus aus dem Verfassungsrecht und hinüber in die Ethik oder auch Rechtsphilosophie und können nur von hier aus beantwortet werden; auch die Antworten, die wir in der Sprache des Verfassungsrechts darauf geben, sind letztlich daraus entlehnt oder müssen sich dazu verhalten. In welche Grenzbereiche es führt, wenn die Krankenhäuser an ihre Kapazitätsgrenzen geraten und Ärzte in der konkreten Situation die Entscheidung über Behandlung oder Nichtbehandlung, in der Sache also über Leben und Tod treffen müssen, zeigen uns die einschlägigen Berichte und die Bilder vor Ort; es ist dies eine Situation, die niemand wollen kann. Gleichwohl wird man, wenn sie da ist, Maßstäbe finden und verantworten müssen, nach denen die Entscheidung zu treffen ist. Ebenso wird man auch bei der generellen Abwägung, welche Maßnahmen in welcher Intensität und über welchen Zeitraum aufrechterhalten werden können, irgendwann eine Entscheidung treffen müssen, welche Interessen in sie einzubeziehen sind und welche nicht. Können es auch solche des allgemeinen Wohlstands oder eines gesamtgesellschaftlichen Nutzens sein – und bis zu welchem Grade und von welchem Punkt an? Vom Standpunkt eines normativen Individualismus aus, wie wir ihn grundgesetzlich in der Garantie der Menschenwürde verankert sehen, neigen wir dazu, alle diese Interessen in existenziellen Fragen als irrelevant beiseite zu schieben; immer dort, wo es um den „Höchstwert Leben“ geht, verbietet sich, wie wir sagen, jede Verrechnung.
In der Tat spricht einiges dafür, an diesem Ausgangspunkt auf einer grundsätzlichen Ebene festzuhalten. Auf der anderen Seite muss man sehen, dass wir derartige Abwägungen in vielen Fällen längst vornehmen, ohne sie uns als solche einzugestehen. So wissen wir im Grunde, dass die Zulassung des Autoverkehrs auf unseren Straßen jedes Jahr den Tod von zwischen 3000 – 4000 Menschen zur Folge hat. Diese Folge ist so kausal wie vorhersehbar, sie trifft oft die Schwächsten wie die Kinder, und wir könnten sie ohne weiteres abwenden, wenn wir Autos verbieten würden. Aber wir tun es nicht, weil ihre Produktion uns wirtschaftlichen Wohlstand garantiert, der Austausch und Transport von Gütern ermöglicht wird, wir individuelle Mobilität schätzen etc., und die Risiken des Straßenverkehrs erscheinen uns dann als, wie die Juristen sagen, „erlaubtes Risiko“ oder „sozial adäquat“.
Auch bei den bisherigen Epidemien von der Schweinegrippe bis zur normalen Influenza hätten wir durch Einreisesperren, Verbot von Großveranstaltungen oder zuletzt auch Isolierungen der Menschen voneinander die Todesrate von vornherein erheblich senken können. Aber wir haben es nicht getan, weil uns diese Einschränkungen zu schwerwiegend erschienen und alle Erkrankten in den Krankenhäusern behandelt werden konnten. Und ganz generell könnte irgendwann der Punkt kommen, an dem wir uns eingestehen müssen, dass es Krankheiten gibt, die wir nicht besiegen können, ebenso wenig wie wir den Tod besiegen können. Wir können uns, wie jetzt, eine Zeitlang dagegen anstemmen, am Ende aber eben doch immer nur eine Zeitlang.
So oder so werden wir irgendwann wieder lernen müssen, die Welt nicht nur durch die Brille der Virologen zu betrachten.
Das ist ein guter und lesenswerter Beitrag, der die relevanten Er- und Abwägungen (die eigentlich keine sind, weil wir nicht nur einfach Risiko, sondern vorallem Unwissen und Ungewissheit haben) aufzeigt. Ich bin aber mit einige Gewichtungen und Vergleichen nicht einverstanden.
Es ist richtig, dass wir letztendlich generell und immer nicht *alles Mögliche* tun, um den *Höchstwert Leben* zu schützen (es wäre auch gar nicht so einfach dafür zu sorgen, dass das Mögliche nicht auch irgendwo und irgendwie wiederum Leben gefährdet, aktiv oder durch Unterlassen; die Maximierung von Leben und Lebenszeit zum zentralen Prinzip eines gesellschaftlichen Utilitarismus zu machen, wäre eine sehr absurde Maxime – aber das weiß doch jeder !?).
Und das sieht man letztendlich auch jetzt schon in Bezug auf die Pandemie, weil wir ja jetzt schon dutzende Verstorbene haben, für deren Tod das SARS2-Virus wenigstens mitkausal war, wir haben zwar vlt schon einiges dafür getan das zu verhindern, aber bestimmt nicht alles Mögliche. Aber, und das ist wichtig, die Zahl von 3000 bis 4000 Toten, die im Straßenverkehr in Nationen, die man mit DE vergleichen kann, jährlich erreicht wird, hat die Pandemie in einige Ländern innerhalb von wenigen Wochen oder gar Tagen erreicht. Zum anderen wird im Text explizit die Schweinegrippe von 2009 erwähnt. Auch hier ist es so, dass wir leider überhaupt keine Anlass dazu haben, die aktuelle Pandemie in der gleichen Risikokategorie anzusiedeln, eher das Gegenteil.
https://www.nature.com/articles/s41591-020-0822-7
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Compared with the 1918 and 2009 influenza pandemics, our estimates are intermediate but substantially higher than 2009, which was generally regarded as a low-severity pandemic.
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Sicher, diese Einschätzungen können sich ändern, vorallem durch medizinischen Fortschritt, aber das haben sie eben noch nicht. Und zuguterletzt wird dann noch das, schwer widerlegbare, Argument angeführt, dass der Tod nicht zu besiegen ist. Aber das ist leider nichts anderes als ein Totschlagargument. Auch halte ich die Gefahr, dass sich alle an diesen Zustand gewöhnen (vorallem wenn wir demnächst wirklich Probleme auf der Angebotseite und ggfs. Stagflation bekommen) und jetzt unbedingt Markus Söder wählen wollen, für ziemlich gering.
Den gegenwärtigen weitgehenden shutdown kann man in der Tat nur für sehr begrenzte Zeit aufrechterhalten. Und wenn man dann in Richtung Normalzustand zurückkehrt, flammt notwendigerweise das Virus wieder auf, weil die Gesellschaft noch nicht im notwendigen Maß durchinfiziert ist; dass das möglichst schnell geschieht, wird ja zZt gerade verhindert. Was dann? Da helfen Reflexionen zum Verhältnis von Normallage und Ausnahmezustand nicht weiter. Ich denke, es wird über kurz oder lang darauf hinauslaufen müssen, dass die einschneidenden Restriktionen sich auf Ruheständler und ggf. andere spezielle Risikogruppen konzentrieren. Das scheint mir prima facie, obwohl es mich selbst sehr unangenehm betreffen würde, das Vernünftigste, weil es die günstigste Kombination von Vorbeugung gegen eine Überlastung des Gesundheitssystems und Vermeidung sonstiger, u.a. existentieller wirtschaftlicher Schäden ergibt. Politisch sollte das nach allem, was man den Nicht-Hochrisikogruppen jetzt (nicht ausschließlich, aber doch ganz besonders) im Interesse der Hochriskogruppen zumutet, auch gut zu vermitteln sein. Welche konkreten Maßnahmenkombinationen am ehesten zielführend sind, müssen die Fachleute zu ermitteln versuchen. Aber an einer Differenzierung der auf soziale Distanzierung gerichteten Auflagen, die darauf zielt, vor allem diejenigen aus dem Infektionsgeschehen möglichst herauszuhalten, die im Fall einer Infektion die Ressourcen des Gesundheitssystems voraussichtlich am häufigsten und am intensivsten beanspruchen, führt nach meiner Einschätzung kein Weg vorbei.
Vielen Dank für diesen gelungenen Beitrag und den anregenden Kommentar! Ich möchte drei Punkte zu bedenken geben.
Die Debatte ist meines Erachtens aktuell (vermutlich aus psychologisch verständlichen Gründen) zu einseitig auf die Gruppen mit erhöhtem Sterblichkeitsrisiko fokussiert, so als wären nur diese gefährdet. Die Crux ist aber nicht die erhöhte Mortalität mit steigendem Alter und Komorbidität, sondern (wie Beitrag und Kommentar richtig sagen) die Überlastung der Intensivstationen durch beatmungsbedürftige Patient*innen mit schweren Verläufen. Diese fallen auch bei jüngeren und sonst gesunden Betroffenen an. Übersteigt die Zahl der Fälle die zur Verfügung stehenden Behandlungsplätze, steigt die Mortalität auch dieser Gruppe drastisch an. Ob dem effektiv durch Restriktionen nur für Ruheständler und andere Risikogruppen begegnet werden kann, ist eine offene und schwierige Frage für die epidemiologischen Fachexpert*innen. Mir erscheint das eher zweifelhaft. (Auch dieser Report des Imperial College London auf Basis einer Modellrechnung scheint dagegen zu sprechen: „However, the resulting mitigated epidemic would still likely result in hundreds of thousands of deaths and health systems (most notably intensive care units) being overwhelmed many times over.” Quelle: https://www.imperial.ac.uk/media/imperial-college/medicine/sph/ide/gida-fellowships/Imperial-College-COVID19-NPI-modelling-16-03-2020.pdf.) Zudem stellt sich die Frage, worin solche wirksamen Restriktionen genau bestehen und wie diese selektiv durchgesetzt werden sollen (eine „Ausgangssperre“ kann kontrolliert werden, aber Besuche von Senior*innen bei ihren Verwandten oder untereinander?). Vielleicht wären nach Abklingen der „ersten Welle“ periodische und/oder regional begrenzte (aber dann alle betreffende) Einschränkungen in den sich neu bildenden „Hotspots“ eine Alternative?
Daran wird auch deutlich, dass die Abwägung komplizierter ist, als im Beitrag (vielleicht aus Platzgründen) dargestellt. Neben den direkten Unfalltoten durch den Autoverkehr sind auch die “Kollateralschäden” (etwa Erkrankte und Tote durch Luftverschmutzung und Klimawandel) zu berücksichtigen. In die Abwägung sind entsprechend auch Patient*innen ohne COVID-19 einzubeziehen, die im Fall einer Überlastung der intensivmedizinischen Versorgung schwere Schäden erleiden oder sterben, weil sie nicht (rechtzeitig) behandelt werden können.
Schwierig ist die Entscheidung über die richtige Strategie ganz offensichtlich auch dadurch, dass zentrale Parameter in der Zukunft liegen (wie schnell kann die Produktion von Beatmungsgeräten hochgefahren werden, wann stehen weniger aufwändige Tests in größerer Zahl zur Verfügung, wie schnell erfolgt die Entwicklung einer ersten Therapie/Impfung etc.?) Daher würde ich die in der conclusio des Beitrags formulierte Aufforderung, an unseren geistigen Arbeitsplatz zurückzukehren, so paraphrasieren: Welche Prinzipien und Verfahren ermöglichen es, in dieser Situation der Unsicherheit die normativ gesehen beste Entscheidung zu treffen?
Sehr geehrte Frau Lübbe-Wolff, dass die vom Freistaat Bayern getroffenen Restriktionen nicht bis zur Einsetzbarkeit eines Impfstoffes anwendbar seien, erschließt sich mir nicht. Ich denke, durchaus. Insbesondere wenn sie durch kreative Härtefall- und Entlastungsregelungen für Alleinerziehende und für Familien mit Kindern ergänzt werden. Warum nicht Familien aus beengten Ballungsraum-Wohnverhältnissen in beschlagnahmte Zweiwohnungen oder in Ferienwohnungen einquartieren?
Ruheständler und vulnerable Personen hingegen zu exkludieren, wohlmöglich unbefristet exkludieren zu wollen, um sie vor der Letalität des Virus zu schützen, ist ein befremdlicher, ich finde auch: erschreckender Vorschlag. Denn: 1. Wenn anderen die Restriktionen nicht bzw. nicht mehr zuzumuten sind, warum dann ihnen? 2. Zudem ist es Wunschdenken, der Virus halte sich an soziologische Kategorien; deswegen ist die Exklusionsstrategie im VK gescheitert. 3. Ein Exklusions-Screening der Bevölkerung würde die VN-Behindertenrechtskonvention mit Füßen treten.
Ein Impfstoff würde, wenn er wie von CureVac angekündigt zum Herbst entwickelt wurde, dann erst ins klinische Zulassungsverfahren gelangen.
Selbst, wenn man hier mit Hochdruck vorgehen würde, sind das Monate. Dazu sind das genetisch designte Substanzen, deren Produktionsübergänge vom Labor zum Kleinmengenprozess und zur Massenproduktion in der Regel immer auf große Probleme stößt.
Bereits mit den jetzigen Maßnahmen kann man rechnen, dass die BRD pro Tag etwa 10.000 bis 15.000 Arbeitsplätze verliert und auch hier werden schnell Skaleneffekte einsetzen, wenn es gesamte Ökosysteme aus Zulieferern und Exporteuren erwischt und die Branchengrößen die Inanspruchnahme der Dienstleistungen verringert.
Sie können sich sicher denken, wie lange es dauert, bis eine politische Kraft mit dem Versprechen der Aufhebung der Einschränkungen auf die Bühne springt und dann ein utilitaristischer Ansatz im Sozial- und Gesundheitswesen eben nicht mehr unaussprechlich sein wird. Dieser Djinn wird, einmal in der Debatte, in der kommenden wirtschaftlichen Lage auch nicht mehr einfach in die Flasche zurückzudrücken sein.
Wenn die Politik nicht bis Anfang April einen wirklich greifbaren Ausblick auf eine Lösung liefern kann, werden viele eben nicht mehr einsehen, ihre Existenz zu verlieren und sich spätestens bei der nächsten Wahl von der Mitte abwenden.
Das ist das Bedenken zu den Maßnahmen, das Montgomery in seinem Interview diese Woche äußerte und das ich mehr als vollumfänglich teile.
Zumal, wenn man die Infektion hinter sich hat, auch kein sachlicher Grund für die Einschränkung mehr vorliegt, da man weder erkranken noch übertragen kann.
Somit würde man rein aus Gründen der Typisierung eine anwachsende Zahl in ihrer Freiheit beschränken.
Die VN-Behindertenrechts-Konvention wird wie viele schöngeistige Überlegungen entweder im Zuge der Notstände oder nachfolgenden wirtschaftlichen Krisenzeiten ziemlich sicher auf den Stand eines Schönwettergesetzes oder einer Sonntagsredenanmerkung zusammenfallen.
Aus Sicht eines Ingenieurs und Mathematikers sind die Integrale der Todesraten bei einem Lockdown, selbst wenn man die Werte der Südkoreaner hochrechnet und denen eines Herdenimmunitätsansatzes bei Isolation der Risikopatienten, wie ihn nur noch Schweden verfolgt, sehr ähnlich. Es gibt sogar gute Gründe für eine schnelle Durchseuchung, da so vorhandene Patientenreservoirs schnell erschöpfen und ein genetischer Shift des Virus weniger wahrscheinlich wird. Wenn man die erste Welle zu lange zieht, besteht die Gefahr das erstens zu Beginn entwickelte Behandlungsoptionen versagen und zweitens die später Betroffenen von einem Virus befallen werden, das die meisten Tricks des Immunsystems bereits kennt. Anders Tegnell ist sicher Vertreter einer Minderheit, aber anders als beim Klima hat keine der Seiten einen Referenzfall und beide haben gut gerechnete Modelle.
Mein größtes Problem mit den Verfügungen ist allerdings, dass die Politik mir private Zusammenkünfte und Beziehungshandlungen mit wohnungsfremden Personen untersagt, aber überhaupt kein Problem hat, wenn ich mit 150 Personen in einem Großraumbüro sitze, das ich mit 80 anderen Personen per S-Bahn und davor 50 weiteren per Bus erreicht habe.
Solange diese Diskrepanz herrscht, die nur den Schluss zulässt, dass es sich um politisch motivierten Aktionismus handelt, kann ich persönlich überhaupt keine Legitimation anerkennen.
Ich nehme alle Einwände und Kritikpunkte demütig an, nur vielleicht zwei kurze Anmerkungen: Dass die Dimensionen – konkret: die Opferzahlen – anders sind, ist mir auch klar; der Hinweis darauf ändert nur nichts an der Notwendigkeit des Abwägens an sich, sondern führt selbst in dessen Logik hinein. Und, liebe Frau Lübbe-Wolff: Über Ihren Vorschlag müsste man (und ich) gründlicher nachdenken – sollten Sie ihn nicht noch einmal anders in den Diskurs einspeisen als in der Kommentarspalte zu einem Blogbeitrag?
Auf Phoenix kam dieses Dilemma neulich auch schon zur Sprache. Eva Quadbeck (Rheinische Post) fasste es in die Worte:
“Wo ist eigentlich der Exit aus dieser Situation? Wir können nicht bis zu den Sommerferien oder bis Ende des Jahres, wenn dann der Impfstoff da ist, die Schulen geschlossen halten, und wir können auch auf gar keinen Fall so lange die Wirtschaft lahm legen. Über diese Exitstrategie wird leider zu wenig geredet.” [https://www.phoenix.de/sendungen/gespraeche/phoenix-runde/die-coronakrise–reichen-die-massnahmen-a-1459505.html, ca. ab 14. Minute]
Dem kann ich mich nur anschließen. Wir müssen nun im gesellschaftlichen Diskurs die roten Linien definieren:
(1) Wie definieren wir “Misserfolg” der Maßnahmen, wenn z.B. in 4 Wochen die Kurve sich nicht abgeflacht haben würde? Wollen wir dann verschärfen? Wann brechen wir ab?
(2) Wie definieren wir “Erfolg”? Wann ist die Kurve flach genug, um die Maßnahmen zu lockern?
(3) Was sind wir bereit an wirtschaftlichem Einbruch hinzunehmen, um die Hochrisikogruppen zu schützen?
(4) Wie messen wir die Akzeptanz der Bevölkerung? Wieviel Polizeigewalt sind wir bereit gegen “uneinsichtige” Zeitgenossen einzusetzen, um die Hochrisikogruppen zu schützen, wenn der Konsens auf breiterer Front bröckelt?
Letztlich ist es eine Abwägung der Schutzrechte der Hochrisikogruppen gegen die Grundrechte der anderen. Wer nimmt die Abwägung vor?
Vielleicht es doch Zeit, diese Fragen dem BVerfG vorzulegen.
Und das mit dem Vorsorgestaat beschäftigt mich auch schon lange. Wie ließe sich dieser Riesenanspruch, der da von uns Bürgerinnen und Bürgern an den Staat herangetragen wird wieder etwas relativieren? Ich als Einzelner kann ja noch so lange beteuern, dass ich gerne bereit bin, mehr Lebensrisiken zu verantworten. Das nützt mir bloß nichts. Der Staat beruft sich auf seine Schutzpflicht und definiert diese weit in die Zukunft hinein, wenn nur genügend plausible Modellrechnungen vorliegen, die eine Gefahr als gegeben erscheinen lassen.
Gerade an der jetzt entstehenden Debatte über die Plausibilität dieser Modellrechnungen zeigt sich aber, dass das nicht so einfach ist. Frei nach Churchill könnte man sagen: “Glaube keiner Modellrechnung, die du nicht selbst gefälscht hast!” Es bietet sich hier ein riesengroßes Scheunentor für Manipulationen aller Art.
Bräuchte es nicht so etwas wie einen Modellrechnungs-TÜV? Das TÜV-Siegel erhielte eine Modellrechnung erst, wenn sie von verschiedensten Fachwissenschaftlern und Politikern und meinetwegen auch zufallsgelosten Bürgerräten begutachtet worden ist.
Danke für diesen Artikel. Der mit weitem Abstand beste bisher zu diesem Thema.
Die Carl Schmitt Ideologie ist hier überlegen, weil Sie so brutal sein kann, wie es das menschenrechtliche Wertesystem niemals sein kann.
Die Demokratie ist vorbei, lasst uns eine Theorie des Nationalstaates schreiben. Carl Schmitt 1933
Diese Theorie hat doch gar nichts genutzt, war also auch nicht schädlich. Carl Schmitt 1945
Aber ihr werdet sehen, dass eure Werte zur Tyrannei werden. Brandschrift Carl Schmitt 1965
Wir brauchen jetzt wieder eine Staatsrheorie, die sich über das Individuum stellt. Carl Sxhmitt 2020?
Nein. Selbst Carl Schmitt war sterblich, könnte an Corona 19 erkranken. Aber das wäre ihm nach seiner Staatstheorie egal, wenn nur der Nationalstaat überlebt so wie in dem Schützengräben des Zweiten Weltkrieges, denn das ist der Nationalstaat Carl Schmitt Ideologie.
Und ich habe seit dem 4. Semester Jura Probleme damit, was diese Ideologie noch im Nachkriegsdeutschland nach 1949! zu suchen hat.
In einem auf Grundrechten basierenden Mitgliedstaat der Europäischen Union, in dem Carl Schmitt nie wieder einen Lehrstuhl bekam.
Man kann nichts abwägen, über das man wenig oder nichts weiß; oder falls doch, dann in Form eines Glaubenskrieges. Abgesehen von Schutz für Leib und Leben geht es jetzt eigentlich primär darum, dass ein ungeplantes, ungewolltes aber jetzt unvermeidbares Großexperiment möglichst kontrolliert ablaufen muss. Dann weiß man irgendwann mehr und dann kann man auch irgendetwas abwägen. Die Anreize sich mit der Akkumulation von Wissen zu dem Thema zu beschäftigen sind jedenfalls aktuell enorm hoch. Also wird auch was hängenbleiben. Aber die Ungewissheit ist eben auch noch sehr hoch. Dazu muss man nur mal die Statistiken unterschiedlicher Länder nebeneinander legen und vergleichen. An der Geeignetheit der Maßnahmen kann, wie Prof. Volkmann schon erwähnte, eigentlich niemand Zweifel haben, weil sich Infektionskrankheiten nunmal in Abhängigkeit von Nähe und Menge physischer zwischenmenschlicher Kontakte reproduzieren. Ich denke es ist aktuell leider noch ziemlich unklar, wie man diese Maßnahmen auch effizient machen kann hinsichtlich ihrer Kollateralschäden. Und da hilft auch kein TüV, sondern Zeit für empirische Forschung. Sonst kann es nämlich passieren, dass wir die aktuelle Großübung im Synchronstillhalten in den nächsten Jahren noch ein paar mal abhalten (und das ist nicht der schlimmstmögliche Ausgang).
http://scienceblogs.de/meertext/2020/03/21/corona-covid2019de-wir-muessen-jetzt-die-erkrankungsfaelle-senken-sonst-schaffen-wir-das-nicht/
Vielen Dank für diese hervorragende Abwägung. Als Nicht-Jurist war ich doch ziemlich erschüttert, dass im InfektionsschutzG bis zu 5 Jahre Haft angedroht werden. Sie beschreiben das mit dem Ineinandergleiten von Ausnahme- und Normalzustand sehr gut. Auch ihre Kosten- Nutzen-Abwägung halte ich für sehr notwendig. Gerade der Erfolg des gegenwärtigen Ausnahmezustandes, wenn er den eintritt, wird in Zukunft den Ruf nach ähnlichen Maßnahmen zur politischen Problemlösung verstärken. Führt der shut down der Wirtschaft nicht zu einer ganz erheblichen CO2-Reduktion? Und ist das nicht „Not- wendig“? Muss im Angesicht der Klimakatastrophe der Ausnahmezustand zum Normalzustand werden?
Noch ein Vorschlag zur Exit-Strategie: da es die Einschränkungen nicht beliebig lange aufrecht erhalten werden können und die Beschränkung auf Hochrisikogruppen nicht einfach umzusetzen ist, muss auf jeden Fall die Behandlungskapazität hochgefahren werden, nicht nur kurzfristig. Ressourcenknappheit als Begründung für den Ausnahmezustand kann nur behoben werden durch Ausweitung der Ressourcen im Normalzustand – auch wenn es teuer ist.
Vielen Dank für diesen Artikel. Mich hat der Eindruck der letzten Tage überrollt – nicht durch steigende Infektionszahlen oder Berichte über Tote, sondern durch die blanke Konfrontation mit der schlagartigen Auflösung grundsätzlichster und wichtigster Rechte, durch eine dabei völlig unbehinderte, ja eher schon durch blinden Handlungswunsch angefeuerte Exekutive. Ob oder wann mir und allen anderen diese genommenen Grundrechte tatsächlich wiedergegeben werden, weiß ich nicht, und ich habe keine effektive oder erfolgversprechende Möglichkeit zur Einflussnahme. Ich muss darauf hoffen, dass die Mächtigen einen guten Willen haben. Das System der Bundesrepublik schützt nicht besser als all seine Vorgänger vor dem Machtmissbrauch, und es ist selbst nicht besser geschützt vor dem Machtmissbrauch als seine Vorgänger. Viel beängstigender und viel gefährlicher als ein Virus.
Die Frage ist halt, ab welcher Anzahl von Toten kann man sagen, dass ein Ausnahmezustand verhältnismäßig ist? Sind die halbe Million, die bei ungebremster Seuche wohl auf uns zukommen (Faktor 2 hin oder her, je nach Modell), groß genug? Kann ich wirklich verantworten, dass ich als Mensch meinen Drang zur Freiheit nur ausleben kann, wenn dadurch eine halbe Million Leute sterben, auch wenn das überwiegend alte und kranke Leute sind, also deren Leben um ein, zwei Jahre kürzer wird? Ich bin ja nicht allein, es wird ja nicht extra wegen mir eine Ausnahme gemacht, und alle anderen bleiben hübsch brav in der Quarantäne — das geht ja immer. Man muss das mit dem Kant’schen Imperativ rechnen.
Oder geht der Jurist von der Ist-Situation aus, und erlaubt Prognosen in die Zukunft nicht, kann man die Maßnahmen also erst ergreifen, wenn es schon zu schlimm ist, um noch Maßnahmen ergreifen zu können? Die erfolgreichen Maßnahmen sind aber umso milder, je früher sie kommen. D.h. man kann genau eben nicht diese Abwägung mit dem aktuellen Stand der Dinge machen, sondern muss das alles epidemiologisch vorausrechnen und planen. Dabei können Juristen aufgrund ihrer sprichwörtlichen Dyscalculie („Judex non calculat“) nichts beitragen; von den wenigen Fachjuristen, die auch was aus dem MINT-Bereich studiert haben, mal abgesehen.
Der andere Denkfehler ist, dass wir bei Grippe „nichts“ machen. Ja, sind denn die Impfungen nichts? Sind die Medikamente wie Tamiflu nichts? Natürlich machen wir bei Grippe was. Weshalb die Grippe in einer milden Saison nur einige hundert Leute direkt und ein paar 1000 indirekt dahinrafft.
Der nächste Denkfehler ist, dass das Nichtstun bei Grippe eine Ausrede wäre. Also, angenommen, wir könnten was tun. Z.B. Kinder impfen, die derzeit Hauptvektor der Grippe sind, sie also verbreiten, und dann die Risikopatienten überhaupt erst anstecken. Wäre das nicht geboten? Oder OP-Masken für alle im Winter, wie man das in Asien vielerorts sieht? Die helfen. Natürlich nicht perfekt, aber das verlangt ja auch niemand.
Was wir bei der Grippe nicht brauchen, sind Ausnahmezustand und Ausgangssperre. Es besteht zumindest derzeit keine Gefahr, dass das Militär Leichen wegkarren muss, weil die Krematorien überlastet sind. Bei COVID19 besteht diese Gefahr ganz real, ein Blick nach Bergamo reicht.
Die Frage, die sich der Jurist stellen muss, ist, ob das verhältnismäßig ist, also: wenn es wirkt, ist der Schaden dann nicht größer als der Nutzen? Die Prognose, wie hoch der Schaden durch Nichts- oder Wenigtun wird, kann der Jurist aber gar nicht selber leisten. Das muss er dann doch dem Epidemiologen und Virologen überlassen. Dabei muss natürlich Ziel sein, dass die Maßnahmen so lang wie nötig und so kurz wie möglich die Freiheit einschränken.
Und da muss dem Juristen auch klar sein, dass eine Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand nach Vertrödeln des richtigen Zeitpunkts für die Maßnahmen einfach nicht möglich ist.
Es ist halt auch so, dass nicht nur die Fallzahlen nicht-linear steigen. Sondern auch die “Nebenwirkungen” der Gegenmaßnahmen einen nicht-linearen Effekt haben.
Man kann die Maßnahmen immer strenger machen (keine Großveranstaltungen -> Reisebeschränkungen -> Schule dicht -> Ausgangsbeschränkungen -> Alle Leute einkerkern…) aber es wird trotzdem eine Verbreitung der Viren geben. Ohne Immunität (ob nun per Impfung oder auch Herdendingsda) geht es ja immer weiter. Klar, die Ansteckungsquote geht runter. Aber die Belastung der Bevölkerung auch immer weiter rauf. Ob man die Daumenschrauben so weit anziehen kann, dass sich der Virus totläuft, kann man für unseren Kulturkreis schwer sagen.
Deswegen finde ich die Frage der Effizienz schon sehr wichtig. Zumal ja auch auf der anderen Seite es ja auch nicht trivial ist, woran man das alles aufhängen soll. Fallzahlen steigen und sinken je nach dem wie viel man testet. Jetzt am Wochenende wird es bestimmt weniger neu gemeldete Fälle geben. Aber kann man das nun darauf zurückführen, ob nun die Appelle der letzten Wochen, die Schulschließungen vor einer Woche, die bessere Mitarbeit der Bevölkerung diese Woche den Ausschlag gegeben hat ? Oder weil weniger am Wochenende getestet wird. Oder weil sich vielleicht auch eine gewisse Resistenz der Bevölkerung bildet, sich freiwillig testen zu lassen (was ja eh kaum geht), weil man sich den Trubel nicht antun mag, falls man positiv ist und lieber den “Schnupfen” ne Erkältung sein lässt.
Und bei den Totesfällen sind wir wieder bei Vorerkrankungen usw, da ist auch die Frage, wie weit man da wirklich gut was kurzfristig ableiten kann.
Es ist leider alles sehr nicht-linear und es gibt viele Rückkopplungsschleifen.
Ein ganz anderes Argument zum Thema Verhältnismäßigkeit aber noch:
Beim Straßenverkehr kann man einen gewissen gesellschaftlichen Konsens annehmen, das die Anzahl der Verkehrstoten akzeptiert wird, solange es jedes Jahr ein paar Prozent weniger werden.
Andernfalls müsste man ja mit dem Söderschen Argument von jeder Tote ist einer zu viel auch gleich alle Autos verbieten….
Kann man nicht im Katastrophenschutz und Gesundheitssystem auch einen gewissen Konsens annehmen. Meldungen über Krankenhausschließungen, Bettenreduktion, schlechte Bezahlung, Nachwuchsmangel, Kostenreduktion, kurze Durchlaufzeiten in KHs bei hoher Auslastung sollte jeder irgendwo mal gesehen haben. Und keiner hat was dagegen getan ?
Universitäre Wissenschaft (grad im Biotech-Bereich) wird ja auch mit den Füßen getreten.
Wenn nun das Kind in den Brunnen gefallen ist, sollte man daraus nicht auch ableiten, das wir alle (also die Wähler) es so gewollt haben und nun da durch müssen. Und nicht die Belastung auf andere Gruppen (zB Kleinunternehmer oder eben Leute einsperren) umschlichten.
(Was jetzt kein Argument dafür sein soll, gar nix zu machen. Aber man in der Frage der Verhältnismäßigkeit auch berücksichtigen sollte)
Ob die aktuell unter Anderem von der bayrischen Staatsregierung getroffenen Maßnahmen noch von dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gedeckt sind ist meiner Meinung nach zumindest diskussionswürdig. Die Prüfung der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinn erfordert hier insbesondere die Prüfung der Angemessenheit der Maßnahmen, also eine Gewährleistung der Relation zwischen Intensität des Eingriffs und verfolgtem Zweck. Nachdem der verfolgte Zweck hier regelmäßig das Rechtsgut Leben betrifft muss man sich im Folgenden die Frage stellen, wie weit man zum Schutz dieses Rechtsguts gehen darf. Sollte also das Leben des Einzelnen über den Freiheitsrechten Aller stehen? Im Falle der SARS-CoV-2 Pandemie müssen wir für dieses hypothetische Modell zwei Faktoren als gegeben definieren:
1. Es lässt sich eine Gruppe von Personen definieren, die ein signifikant erhöhtes Risiko haben, an dem Virus zu sterben.
2. Die Wahrscheinlichkeit, dass Personen, die nicht Teil der Risikogruppe sind, an dem Virus versterben ist gering und kann daher unter den Begriff allgemeines Lebensrisiko subsumiert werden.
Hier könnte man einerseits über eine analoge Abwendung der Überlegungen des Bundesverfassungsgerichts in seinem Urteil zum Luftsicherheitsgesetz (Urteil vom 15. Februar 2006, Az. 1 BvR 357/05) nachdenken. In diesem Falle müsste man zu dem Ergebnis kommen, dass zum Schutz des Rechtsguts Lebens – ganz gleich wie vieler Personen – in jedes andere Grundrecht mit nur minimalen Ausnahmen eingegriffen werden kann. Ließe man die Diskussion eskalieren könnte man sagen: Wir verschließen die Türen aller Bewohner und lassen nur noch das unbedingt zum Überleben Notwendigste zu (Unternehmen die Nahrungsmittel liefern, Rettungsdienst, Ärzte). Dies ist sicherlich das Maximum an Einschränkung das wir uns vorstellen können, dürfte aber im Gegenzug auch sicherlich das am besten geeignete Mittel sein, um die Verbreitung des Virus auf ein Minimum zu reduzieren. Ähnlich ging man in Wuhan vor. Mit einer verhältnismäßig starken Einschränkung von Grundrechten (Freizügigkeit, Handlungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, um nur einige zu nennen) könnte man es dadurch eventuell schaffen, auch die deutlich abgeschwächte Weiterverbreitung des Virus, die wir bei den jetzigen Ausgangsbeschränkungen haben, noch weiter zu reduzieren. Fraglich ist jedoch um welchen Preis? Überspitzt formuliert müsste man also fragen: Ist ein eingesperrtes Volk zum größtmöglichen Schutz des Lebens der Einzelnen noch verhältnismäßig?
Spätestens an diesem Punkt sollte man die abstrakte Ebene verlassen und den praktischen Vergleich zu anderen (sozialethisch akzeptierten) Risiken herstellen. Denn klar ist: Wer die aufgeworfene Frage mit ja beantwortet, muss auch so konsequent sein und den motorisierten Straßenverkehr verbieten, da sich dadurch jährlich noch mehr Menschenleben schützen lassen. Denn „Jeder Tote ist Einer zu viel“.
Hier wird klar, dass der absolute und uneingeschränkte Schutz des Lebens sicherlich eine moralisch sinnvolle Überlegung ist, wir aber hingegen nicht in einer „idealen Welt“ leben und Praktikabilitätserwägungen zumindest stellenweise Einzug in unseren Alltag finden müssen, wenn wir unseren Alltag in dem jetzigen Zustand fortführen möchten.
Ähnlich den Erwägungen von Frau Lübbe-Wolff frage ich mich also: Wäre es nicht verhältnismäßig angemessener ausschließlich die Risikogruppen zu schützen und den Rest der Gesellschaft einer kontrollierten Durchseuchung auszusetzen? Wer jetzt sagt „das tun wir doch gerade“ muss sich zumindest vorhalten lassen, dass die aktuell genauste Studie zur hypothetischen Verbreitung von SARS-CoV-2 des Imperial Colleges mit Großbritannien als Referenzland rechnet, das jedoch eine bedeutend geringere Rate an zur Verfügung stehenden Krankenhausbetten mit Beatmungsmöglichkeit pro Einwohner aufweist, als Deutschland.
Und weiterhin stellt sich die Frage: Inwieweit muss oder darf der Staat seine Einwohner vor sich selbst schützen? Drückt eine Person, die sich trotz bestehender Gefahr nicht zu Hause vor dem Virus versteckt nicht die Inkaufnahme des Risikos einer Infektion und die damit verbundenen Folgen für sich als akzeptiertes (Lebens-) Risiko aus? Ähnlich einer strafausschließenden Einwilligung bei Teilnehmern an einer Corona-Party? Dass das Recht auf Leben auch das Recht auf ein selbstbestimmtes Ende des eigenen Lebens einschließt hat das Bundesverfassungsgericht erst kürzlich in seiner Entscheidung zur Verfassungsmäßigkeit des § 217 StGB ausgedrückt. Darf die Executive dann durch die massive Einschränkung von Grundrechten die Menschen vor sich selbst schützen? All diese Fragen werden Verfassungsrechtler in den kommenden Jahren angesichts immer komplexerer, auf uns zukommende Viruserkrankungen zu beantworten haben. Man sollte sich hierbei jedoch über die Folgen der Beantwortung jeder einzelnen dieser Fragen bewusst sein. Hier geht es bei langem nicht mehr um „Ein bisschen zuhause bleiben“. Vielmehr wird in den nächsten Jahren entschieden ob die Bundesrepublik Deutschland seinen Status als eines der wenigen Länder mit einer sehr umfassenden Grundrechtsschutz bestehen bleibt oder eher in die Richtung „der Zweck heiligt die Mittel“ abdriften wird.
Danke für diesen wirklich guten, nachdenklich stimmenden Beitrag, Dank auch an die anderen Kommentatoren, die sich fundiert und sachlich argumentierend mit diesem uns alle momentan beschäftigenden Thema auseinandersetzen. Das meiste ist gesagt, ich schlösse mich den Vor-Kommentatoren an, die versuchen eine baldige Exit-Strategie zu formulieren. Ergänzen möchte ich vielleicht noch, dass auch die Nicht-Hochrisikogruppe (zu der ich gehöre) durchaus in die Pflicht genommen werden kann, Auflagen im Umgang mit einer möglichen Eigenerkrankung (Quarantäne, Zugangsverbot zu bestimmten Treffpunkten usw.) einzuhalten. Damit wäre man immer noch meilenweit entfernt von dem jetzigen tödlichen Stillstand.
Ein Aspekt ist bislang aber noch gar nicht beachtet worden: Es wurde hier geschrieben von einer erwartbaren sinkenden Akzeptanz der rigiden Maßnahmen in der Bevölkerung. Dessen bin ich mir nicht sicher, im Gegenteil. Derzeit werden die Maßnahmen von großen Teilen der Bevölkerung begrüßt, Abweichler werden teilweise extrem harsch angegangen. Ich glaube auch nicht, dass sich das über die Zeit stark ändern wird. Die öffentlich wahrnehmbare Stimmung wirkt auf mich befremdlich und beängstigend, und ich habe immer mehr Zweifel, wie dieses Land nach dem großen Shutdown aussehen wird. Dafür sprechen auch die Beliebtheitswerte derjenigen Politiker, die ohne großes Zögern die harschesten Maßnahmen durchsetzen, während jedes Innehalten und Hinterfragen als Zaudern diskreditiert wird. In diesem Land gibt es meiner Wahrnehmung nach viele Bürger, die sich nach “hartem Durchgreifen” und “einem starken Mann” sehnen. Für die Zukunft heißt das nichts Gutes, fürchte ich.
Dear Dr Volkman,
are you sure having really picked up what Carl Schmitt (1922) meant when discussing the situation called “Ausnahmezustand”?(“Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet”)
Sincerely, B. Jones, PhD. (LSEPS)
[…] Υπό μία γενικότερη δε έποψη, φαίνεται ότι το ιδιότυπο δίκαιο της κατάστασης ανάγκης, που εφαρμόστηκε στις περισσότερες χώρες του πλανήτη, λειτούργησε εν πολλοίς αποτελεσματικά, έτυχε μάλιστα της αποδοχής της συντριπτικής πλειονότητας των πολιτών – παρά τις βαριές οικονομικές και ψυχολογικές συνέπειες που έχει επιφέρει. Εμφανίζεται, άλλωστε, από καιρό αρμονικά ενταγμένο στα σύγχρονα δυτικά Συντάγματα, αποτελώντας τμήμα του δικαίου της κανονικής κατάστασης, και όχι κάποιο ειδικό, εντελώς ξεχωριστό δίκαιο που εκτοπίζει πλήρως το πρώτο. Με άλλες λέξεις, μέσα στο δίκαιο της κανονικότητας υφίστανται κάποια εργαλεία έκτακτης επέμβασης (όπως είναι σε εμάς κατ’ εξοχήν οι πράξεις νομοθετικού περιεχομένου), τα οποία έχουν χρονικά περιορισμένη ισχύ, συνδυάζονται δε με επιμέρους ρυθμιστικά μέτρα που λαμβάνονται επί τη βάσει της κοινής και ήδη υφιστάμενης νομοθεσίας (αποφάσεις αστυνομικής, αγορανομικής, υγειονομικής φύσεως, κοκ – βλ. σχετ. και Volkmann, Der Ausnahmezustand, VerfassungsBlog 20.3.2020, https://verfassungsblog.de/der-ausnahmezustand/). […]
Danke für Ihren gestern in der FAZ veröffentlichen Beitrag “Wir Verdrängungskünstler”, der mich zu diesem Blog geführt hat. Mich erschüttert es, wie wenig Resonanz solche Überlegungen im öffentlichen Diskurs finden. Leider hat sich die Einschätzung der Kommentatorin Inga H. nachhaltig bestätigt und der laute Protest findet in Deutschland weiterhin in einer Gemengelage von Strömungen statt, mit denen man sich nicht gern in Verbindung sieht. Freunden in den USA, die unter der Trumpschen Verleugnungsstrategie litten war die ganze Zeit über schwer vermittelbar, dass die anscheinend doch erfolgreichen Infektionsschutzmaßnahmen hierzulande auch eine äußerst problematische Seite haben. Die gesamte demokratische Welt scheint zum anderen Pol der Verdrängung jeglicher kritischer Überlegungen gedriftet zu sein und die Humanität der Bereitschaft zum Verzicht zu feiern und sich in Opferbereitschaft zu überbieten. In Deutschland scheinen infolge der Nazigreuel begreifliche Tabuisierungen das klare Denken und Abwägen zu erschweren.
Wenig überraschend finden sich Ihre Überlegungen hier in einem Antrag der AfD-Fraktion im Senat der Stadt Berlin wieder, in dem es heißt:
“Die Corona-Maßnahmen vereiteln bzw. gefährden ein lebenswertes Leben, das nackte Überleben wird über das Humanum gestellt. Der italienische Philosoph Giorgio Agamben argumentiert in diesem Sinne: Die europäische Corona-Politik sei darauf fokussiert, den Tod zu vermeiden. Sie kenne kein Ziel, als das physische Überleben möglichst vieler zu sichern. Dabei vernichteten die Corona-Maßnahmen das menschliche Leben in einem höheren Sinne – nämlich im Sinne eines selbstbestimmten, lebenswerten Lebens, wie es freien Menschen einzig angemessen sei. Jenes nackte Leben, das unter den Bedingungendes Lockdowns einzig noch möglich ist – ein Leben ohne Freunde, Kultur und Gemeinschaft – sei kein menschenwürdiges Leben mehr.
Der Rechtsphilosoph Uwe Volkmann, der eine ähnliche Position vertritt, führte den Begriff „Krankheitsvermeidungsabsolutismus“ ein. Damit meinte er, man könne dauerhafte und massive Grundrechtseinschränkungen nicht mit dem Hinweis rechtfertigen, dass dadurch Leben erhalten werde. Nicht das Recht auf Leben sei das höchste Gut unserer Verfassung, sondern die Menschenwürde. Im Namen der Würde sei unter Umständen gegen das Leben zu entscheiden.
Das nackte Leben ist der Güter höchstes nicht. Das höchste Gut ist das Leben als Mensch, das Leben in Freiheit, das Leben in Gott. Zu einem menschenwürdigen Leben gehört die Freiheit der Religionsausübung.”