Der Bundesrat, mein am wenigsten geliebtes Verfassungsorgan
Der Bundesrat hat kurz vor Ostern zum ersten Mal von einer wichtigen neuen Lissabon-Errungenschaft Gebrauch gemacht: Seinem blitzeblanken neuen Recht nämlich, angebliche Verletzungen des Subsidiaritätsprinzips durch geplante EU-Rechtsakte zu rügen.
Die Länderkammer hat sich dafür die geplante EU-Richtlinie zur Schutzanordnung ausgesucht. Dabei geht es um Opfer von Straftaten, die ihre Peiniger mit gerichtlichen Verfügungen auf Abstand halten, um nicht erneut zum Opfer gemacht zu werden – Musterfall ist die verprügelte Ehefrau, die ihren gewalttätigen Mann daran hindern will, ihr erneut zu nahe zu kommen. Solche Schutzanordnungen gibt es überall, aber sie gelten nur im jeweiligen Mitgliedsstaat. Wenn die Ehefrau im Urlaub nach Österreich fährt, muss sie damit rechnen, dass ihr Gatte am Skilift auftaucht, und kann nichts dagegen unternehmen. Das soll die künftige EU-Richtlinie ändern.
Öhhm. Wieso ist das noch mal ein Verstoß gegen das Subsidiaritätsprinzip? Inwiefern kann bitteschön Deutschland (oder, for that matter, Hessen) selber dafür sorgen, dass die Dame sich in Österreich genauso sicher fühlen kann wie daheim? Wofür ist die EU denn dann da, wenn nicht für diese Art von Dingen?
Gefahrenabwehr
Aha, erfahren wir in dem Beschluss der Länderkammer vom 26. März 2010: Das Problem liegt darin, dass es bei der Schutzanordnung nicht nur um Strafrecht, sondern auch um Zivilrecht bzw. Gefahrenabwehr geht. Und dass die Kompetenzgrundlage Art. 82 AEUV strikt auf das Strafrecht beschränkt bleiben müsse.
Gefahrenabwehr, das ist Polizei. Und Polizei, das sind die Länder.
Es geht dem Bundesrat also überhaupt nicht um Subsidiarität. Es geht ihm mitnichten darum, die Eigenverantwortung der untergeordneten Ebene zu stärken. Es ist ihm kein bisschen daran gelegen, dass Entscheidungen möglichst nahe bei den Menschen getroffen werden.
Ihn interessiert allein, dass Entscheidungen möglichst weitgehend von den Länderregierungen getroffen werden, jedenfalls soweit sie die Gefahrenabwehr betreffen. Und alles andere, das ganze heilige Subsidiaritätsgebimmel inclusive, ist dem Bundesrat erkennbar vollkommen wurscht.
Das also ist die erste und bislang einzige Subsidiaritätsrüge, die die zweite Kammer der deutschen Legislative bislang erhoben hat.
Da ist nicht viel Fantasie nötig, um sich die Reaktion in Brüssel auszumalen.
Dank an Julien Frisch für den Hinweis.
Man kann den Bundesrat sicherlich aus besseren Gründen kritisieren. Ich finde es für ein demokratisches Land schon recht befremdlich, dass die zweite “Kammer” des Parlaments aus den Landesregierungen besteht. Dazu noch die leidliche Geschichte des Bundesrats, bei dem dieser als Blockadeorgan durch die Bundesopposition (und Ländermehrheit) genutzt wurde. Sicherlich gute Gründung für eine Abschaffung oder zumindest eine Rückstufung.
Dass man aber den Bundesrat dafür kritisiert, wofür er nach dem Lissabon-Vertrag bestimmt ist, nämlich über die ständige Ausuferung des EU-Rechts ins nationale Recht zu wachen, finde ich aber unsinnig. Sicherlich ist das Feld Gewaltschutz kein schönes Thema und sehr unpopulär, aber wo fängt man sonst an?
Ob er dann auch Ultra-vires-Kontrolle beim BVerfG suchen wird?
Erstmal sehr herzlichen Dank für den Hinweis; ich hatte noch gar ncihts darüber gelesen! In der Tat geht es dem Bunderat offensichtlich nicht um die Frage der Subsidiarität, gerügt wird vielmehr – wie auch im abweichenden Antrag des Landes Rheinland-Pfalz kritisiert – ein Verstoß gegen das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung aus Art. 5 Abs. 2 EUV aufgrund einer fehlenden Kompetenzgrundlage für den Erlass der Richtlinie. Ob die Subsidiaritätsrüge diese Möglichkeit einer Rüge der Verletzung von Art.5 Abs. 2 EUV umfasst, ist im Schrifttum umstritten; ich halte es aber jedenfalls nicht für ausgeschlossen und Beschluss daher für gar nicht so abwegig (wenn auch im Einzelnen in der Begründgun wenig überzeugend). Die Materialien des Europäischen Konvents, auf die die heutigen Regelungen der Subsidiaritätsrüge zurückgehen, scheinen eher gegen eine Ausweitung des Rügeumfangs auch auf die Frage der Kompetenzgrundlage (und der Verhältnismäßigkeit) zu sprechen, da ein entsprechender Vorschlag in der Arbeitsgruppe explizit abgelehnt wurde. Ich bin mir aber nicht sicher, inwieweit eine getrennte Prüfung der Schrankentrias des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung, des Subsidiaritätsprinzips und des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes überhaupt möglich und sinnvoll ist. Insofern ist es vielleicht gar nicht schlecht, wenn der Bundesrat es einfach mal versucht; dann wird sich jedenfalls herausstellen, wie die Frage in Brüssel gehandhabt wird…