Der Einheitsjurist
Oder: das Fehlen einer rassismuskritischen juristischen Ausbildung
Die bundesdeutsche juristische Ausbildung ist darauf ausgerichtet, Jurist:innen auszubilden, die in allen Kernbereichen des deutschen Rechts einsetzbar sind. Oder in den Worten der Gesetzesbegründung von 1983 zum § 5a Deutsches Richtergesetz: „Ziel der Juristenausbildung soll auch künftig der Einheitsjurist sein, der befähigt ist, in jedem volljuristischen Beruf tätig zu werden.“ (BT Drs. 9/2376, S.6). Dieses Ziel, den „Einheitsjuristen“ möglichst breit einzusetzen, mag in Zeiten der juristischen Spezialisierung und Ausdifferenzierung der juristischen Arbeit anachronistisch erscheinen; es erklärt sich jedoch durch die staatliche Sichtweise, die die juristische Ausbildung prägt. Der Einheitsjurist ist eben zuvorderst ausgebildet für den Staatsdienst. Dabei bleibt aber vor allem eine diskriminierungssensible Ausbildung auf der Strecke. Insbesondere rassismuskritische Aspekte glänzen dabei durch ihre Abwesenheit.
Warum bedarf es einer rassismuskritischen universitären Ausbildung?
Maßgebliche Impulse für gesellschaftlichen Wandel kommen aus dem wissenschaftlichen Raum. So führt Nikolas Eisentraut in einem Beitrag an, dass Hochschulen in der bundesdeutschen Geschichte von Beginn an ein Austragungsort politischer Konflikte waren. Ihre Stärke liege darin, ein Forum für die Versachlichung, wissenschaftliche Vertiefung und Reflexion dieser Konflikte zu bieten. Insoweit ist es nur nachvollziehbar, dass Studierende eine rassismuskritische Ausbildung fordern. Sie erleben, dass gerade ihr Ausbildungsort es versäumt, die gesellschaftliche Realität abzubilden. Die Universität sollte aber gerade, wie Amadou Korbinian Sow an anderer Stelle schreibt, ein safe space sein, der diesen Diskurs ermöglicht. Hochschulen müssen ein Umfeld schaffen, in dem rassistische Äußerungen und Handlungen keinen Platz haben. Dies beinhaltet auch die aktive Förderung einer offenen und inklusiven Diskussionskultur. Hilfreich sind institutionelle Einrichtungen wie Ombudsstellen oder Beauftragte (mit ausreichend Personal!). Anknüpfungspunkt sind hier vor allem auch die Hochschulgesetze der einzelnen Bundesländer. Darin kann beispielsweise wie im § 59a Berliner Hochschulgesetz verankert werden, dass die Hochschulen Diversitätsbeauftragte einzusetzen haben.
Auch können Maßnahmen wie die Anonymisierung von Lebensläufen bei Prüfungen helfen, diskriminierende Vorurteile zu reduzieren. Studien zeigen, dass Studierende mit Migrationshintergrund oft schlechtere Examina schreiben, was auf rassistische Voreingenommenheiten zurückzuführen ist.
Ein weiterer Grund, warum es einer rassismuskritischen Universität bedarf ist, dass sich Mängel in den Folgen der juristischen Ausbildung zeigen: So hinkt beispielsweise die deutsche Rechtsprechung in Sachen rassistischer Diskriminierung hinter der Rechtsprechung des EGMR hinterher, wie zuletzt im Fall von Racial Profiling deutlich wurde. Zudem ist auffällig, dass Universitäten andernorts (beispielsweise UK, USA, Niederlande) durchaus kritische Ansätze zu Rassismus und Recht in den Curricula unterbringen. Warum also hierzulande nicht?
Wie könnte eine rassismussensible juristische Ausbildung gelingen?
Die Critical Race Theory als US-rechtswissenschaftlicher Theorieansatz, entwickelte sich in den 1970er Jahren und setzt sich mit der Verwobenheit von Rasse, Rassismus und Recht auseinander (hierzu näher Cengiz Barskanmaz). Dieser Ansatz kann zunächst dahingehend aushelfen, dass Rassismus als eine gesellschaftliche Realität angesehen wird, nicht als Ausnahme oder gar Befindlichkeit. Rassismus wirkt und reproduziert sich in unterbewussten Vorurteilen, unhinterfragtem Wissen und in Institutionen. Es ist ein Machtverhältnis, das rechtlich geformt ist und rechtliche Regeln und Entscheidungen prägt. Das führt uns zu dem Eingeständnis, dass das Recht angesichts der sozialen Realität des Rassismus weder per se objektiv noch neutral ist, womöglich gar nicht sein kann. Wissen über Rassismus zu erlernen, sich mit eigenen biographischen Prägungen auseinandersetzen, eigene Rassismen zu reflektieren und die Studierenden- wie Lehrendenschaft zu diversifizieren — all dies kann dazu beitragen, eine kohärente Antidiskriminierungskultur in Rechtswissenschaft und Rechtspraxis zu etablieren. Das wäre ein erster Schritt. Um aber gesellschaftliche Realitäten, an denen sich die juristische Ausbildung ja orientieren soll, abzubilden, bedarf es einer Einbettung in die Curricula der juristischen Ausbildung.
Curricula der juristischen Ausbildung rassismussensibel gestalten
§ 5a Abs.2 DRiG regelt, dass Gegenstand des Studiums die Pflichtfächer und Schwerpunktbereiche mit Wahlmöglichkeiten sind. Als Pflichtfächer werden dabei die Kernbereiche des Bürgerlichen Rechts, des Strafrechts, des Öffentlichen Rechts und des Verfahrensrechts einschließlich der europarechtlichen Bezüge, der rechtswissenschaftlichen Methoden und der philosophischen, geschichtlichen und gesellschaftlichen Grundlagen festgelegt. Weiter heißt es, dass die Pflichtfächer auch „in Auseinandersetzung mit dem nationalsozialistischen Unrecht und dem Unrecht der SED-Diktatur“ vermittelt werden sollen. In Abs. 3 S.1 dann weiter, dass die „Inhalte des Studiums die ethischen Grundlagen des Rechts [berücksichtigen] und die Fähigkeit zur kritischen Reflexion des Rechts [fördern]“. Erstaunlich und zugleich erschreckend ist der Umstand, dass diese Änderung des § 5a DRiG erst 2022 Einkehr in den § 5a DRiG fand. Doch was impliziert der Zusatz konkret? Die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz vom 9.6.2021 führt auf S. 21 zu den Neuerungen aus: „[Jurist:innen] soll ein methodisches Reflexionspotenzial zur Behandlung ethischer Dilemmata an den Schnittstellen von Recht und Ethik vermittelt werden“.
Offenbart sich da etwa ein leiser Wandel in der Ausbildung des „Einheitsjuristen“?
In Anbetracht der Tatsache, dass Rassismus neben Antisemitismus als Motor für nationalsozialistische Strömungen dient, ist es jedenfalls mindestens verwunderlich, dass der Begriff Rassismus weder im Gesetzeswortlaut noch in der Gesetzesbegründung zum DRiG fällt. Die Juristische Ausbildung sollte endlich kritisch mit der bestehenden Literatur umgehen und rassistische Inhalte hinterfragen. Lehrmaterialien sollten diverse Perspektiven beinhalten und rassismuskritische Theorien integrieren. Besonders kritisch reflektiert werden sollte klar rassistische Literatur. So heißt es doch tatsächlich noch im Jarass/Pieroth GG-Kommentar von 2022 zu Art. 3 GG, unter Rnr. 122: „Das Merkmal der Rasse (wohl ein Unterfall der Abstammung) bezieht sich auf Gruppen mit bestimmten wirklich oder vermeintlich biologisch vereinbaren Merkmalen. Erfasst werden Farbige, Mischlinge [Begriffe durch Autorin durchgestrichen], Juden, Sinti und Roma, wobei es meist um vermeintliche Rassenmerkmale geht.“ (hierzu ausführlich Doris Liebscher). Praxisübungen sollten reale Beispiele von Diskriminierung und Ungleichbehandlung einbeziehen, um Studierende für solche Themen zu sensibilisieren. Was gerade nicht reproduziert werden sollte sind rassistische Stereotype à la Tatverdächtiger Ö (finde einen deutschen Namen, der mit Ö beginnt).
Methodenlehre und die Illusion der Neutralität
Die Methodenlehre im Recht, immerhin ein Kernbereich des Studiums, betont die Wichtigkeit der Objektivität zur Sicherung der Autonomie des Rechts. Doch selten bis gar nicht wird in der juristischen Ausbildung reflektiert, was unter Objektivität eigentlich zu verstehen ist. Wer ist der sogenannte „objektive Dritte“? So bleibt oftmals unterbeleuchtet, dass die vermeintliche Neutralität meist aus der Perspektive einer weißen Mehrheitsgesellschaft verstanden wird. Objektivität wird als bloße Fiktion eingesetzt und die dahinterstehende partikulare Perspektive verschleiert, schreibt Sué Gonzalez Hauck. Das führt dazu, dass rassistische Voreingenommenheiten und Strukturen unreflektiert bleiben und sich weiter manifestieren. Soll der Anspruch der Gleichheit vor dem Recht nicht aufgegeben werden, muss Objektivität neu gedacht werden. Objektivität als Neutralität, als ein vermeintlicher Blick aus dem Nirgendwo, ist jedenfalls eine Mär.
Materielles Recht
„Das Recht ist nicht per se rassistisch oder antirassistisch. Recht kann genutzt werden, um die Produktion antirassistischen Wissens zu stärken“ (Tarek Naguib)
So könnte im Bereich des materiellen Rechts, spätestens im Schwerpunkt Völkerrecht, die „ICERD: International Convention on the Elimination of Racial Discriminination“ als von Deutschland schon 1969 ratifizierter völkerrechtlicher Vertrag untersucht werden. Im Zuge dessen würde deutlich, dass die Bundesregierung ihre Einverständniserklärung zum Individualbeschwerdeverfahren laut Artikel 14 des Übereinkommens erst im August 2001 abgegeben hat, also kurz bevor der Entwicklungsprozess zum Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz an Fahrt aufnahm.
Wer erinnert sich, im Grundstudium die geschichtliche Entwicklung des Grundrechts auf Asyl von Art. 16 GG aF hin zur Einführung des Art.16a GG im Lauffeuer der Brandanschläge auf Asylunterkünfte und den Asyldebatten behandelt zu haben? Warum sind diese Normen nicht examensrelevant?
Prozessrecht
Zwar bietet das Strafprozessrecht mittlerweile mit dem § 46 Absatz 2 StGB, wonach seit 2015 rassistische, fremdenfeindliche und seit 2021 auch antisemitische Motive bei der Strafzumessung berücksichtigt werden sollen, einen Schritt in die richtige Richtung. In der Praxis zeigt sich aber, dass die Justiz immer noch nicht ausreichend für die Erkennung und Berücksichtigung dieser Motive sensibilisiert ist (s. Deutsches Institut für Menschenrechte, Rassismus in der Strafverfolgung, Von der Notwendigkeit struktureller Veränderungen, 2023). Was fehlt und immer wieder im Rahmen von Diskussionen um verpflichtende Fortbildungen für Richter:innen und Staatsanwält:innen vorgebracht wird, ist ein kritisches Bewusstsein für die eigenen Vorurteile und die strukturellen Rassismen innerhalb der Justiz. Wie die Erfahrungen in der insgesamt sechsjährigen Projektarbeit des DIMR gezeigt haben, werden Justiz (und Polizei) häufig als ahistorische und von Gesellschaft abgekoppelte Instanzen begriffen, sowohl im allgemeinen gesellschaftlichen Diskurs als auch von den Institutionsangehörigen selbst. Diese Annahme geht der Verpflichtung von Justiz und Polizei, per se objektive und neutrale Institutionen zu sein, bewusst oder unbewusst voraus und verkennt, dass Richter*innen, Staatsanwält*innen und Polizist*innen Subjektpositionen einnehmen, in gesellschaftliche Machtverhältnisse eingebunden sind und Vorannahmen mit sich führen – auch solche, die diskriminierend sein können.
Die Grundlagen des Rechts: Rechtsphilosophie und Rechtsgeschichte
Wenn nach Hegel die Rechtswissenschaft als Teil der Philosophie betrachtet wird, müssten nicht dann erst recht im Rahmen der Rechtsphilosophie die Konzepte der formalen und materiellen Gleichheit dahingehend untersucht werden, wie Gleichheit und Differenz dergestalt miteinander in Einklang gebracht werden können, damit echte Gerechtigkeit entsteht? Wie kann es sein, dass die Philosophie der Aufklärung, deren Grundgedanke die Gleichheit der Menschen ist und die das Recht so beeinflusst hat, genau in die Zeit von Versklavung und Unterwerfung fiel?, fragt Sow zu Recht. Sich mit Gerechtigkeitsfragen zu beschäftigen, sollte schließlich auch beinhalten, die historischen Wurzeln von Rassismus im Recht zu verstehen. Doch nach wie vor findet sich nahezu nirgendwo in den Curricala der Universitäten eine tiefgehende (rechtswissenschaftliche) Auseinandersetzung mit der deutschen Kolonialgeschichte und beispielsweise den damals erlassenen Verordnungen. Aus diesem Anspruch erwächst somit die Forderung, das Studium zu diversifizieren, indem das Thema Rassismus beispielsweise in den Grundlagenfächern aufgenommen wird.
All Law is political!
Der § 5a DRiG Abs.4 überlässt den Bundesländern eine Regelungskompetenz: das heißt beispielsweise, dass konkrete Prüfungsgegenstände in Verordnungen der Justizbehörden der Länder entwickelt werden. Hier besteht also Raum, um sich durch Bündnisse an die jeweiligen Justizministerien der Länder zu wenden, mit diesen ins Gespräch zu kommen, sich an die zuständigen rechtspolitischen Sprecher:innen der parlamentarischen Fraktionen zu wenden, um Änderungen auf einer niedrigschwelligeren Ebene als durch Bundesgesetze zu bewirken. Insgesamt – und das kommt in der juristischen Ausbildung schlichtweg zu kurz – darf nicht außer Acht gelassen werden, dass Jurist:innen mit Regeln hantieren, die maßgeblich in der politischen Arena entwickelt wurden. Was wir erleben, und womit sich dann die Wissenschaft, aber auch Studierende herumplagen müssen, sind zahlreiche unbestimmte Rechtsbegriffe in den Rechtsvorschriften.
Hier schließt sich sodann in der Rechtsanwendung der Kreis zum „Einheitsjuristen“: Wenn die juristische Ausbildung eben nur solche produziert, werden diese zahlreichen unbestimmten Regelungen von diesen Personen angewendet, die gar nicht in der Lage sein können, die Vielschichtigkeit gesellschaftlicher Herausforderungen zu erkennen und differenzierte Entscheidungen zu treffen.