Der „tote Winkel“ des Rechtsschutzes
Führt der Beschluss des VerfGH Sachsen zu einem Umbruch des Wahlprüfungsrechts?
In einer Medienwelt voll hektischer Eilmeldungen gehen die wirklich wichtigen Dinge das ein oder andere Mal unter. Diesen Eindruck hinterlässt jedenfalls die erregte Debatte rund um die teilweise Zurückweisung der AfD-Liste zur Landtagswahl in Sachsen. Nach dem großen Echo rund um die Entscheidung des Wahlausschusses und der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, ging auch die Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs Sachsen, die AfD-Liste müsse auch für die Plätze 19 bis 30 zugelassen werden (Vf. 77-IV-19 (e.A.), Vf. 82-IV-19 (e.A.)), schnell über die Agentur-Ticker. Wenig Beachtung fand dabei der bemerkenswerte Inhalt der Entscheidung: Die Richter deuteten durch die Entscheidung an, dass sie das geltende sächsische Wahlrecht, das insoweit mit dem gesamtdeutschen Wahlrecht übereinstimmt, in Bezug auf den Rechtsschutz vor der Wahl für verfassungswidrig halten. Sie hätten dabei aber durchaus noch einen Schritt weitergehen können.
Kurzer Prozess vor dem BVerfG
Gegen die Nichtzulassung der Liste ist ein Rechtsweg nicht vorgesehen. Eine betroffene Partei hat einzig die Möglichkeit, die Wahl nach § 2 SächsWahlprüfG anzufechten. Die AfD hat gegen die Zurückweisung Verfassungsbeschwerden vor dem BVerfG und dem VerfGH Sachsen erhoben. Vor dem BVerfG scheiterten diese indes vorhersehbar. Das Gericht hielt an seiner gefestigten Rechtsprechung fest, dass „die Länder den subjektivrechtlichen Schutz des Wahlrechts […] in ihrem Verfassungsraum […] abschließend gewährleisten.“ (2 BvR 1301/19, Rn. 13), womit die Beschwerde grundsätzlich vor die Landesverfassungsgerichte gehöre. Daneben sei die Beschwerde auch wegen fehlender Unterlagen unsubstantiiert und nicht ausreichend begründet, weshalb sie gar nicht erst zur Entscheidung angenommen wurde.
Einstweilige Anordnung des VerfGH Sachsen
Parallel hatte die Partei auch den VerfGH Sachsen angerufen und eine einstweilige Anordnung beantragt. Diese ist begründet, wenn die Hauptsache nicht unzulässig oder offensichtlich unbegründet ist und eine Folgenabwägung zu einem Überwiegen der Rechte des Antragsstellers führt (BVerfG, 1 BvQ 4/19, Rn. 8, zur „Doppelhypothese“ in der Folgenabwägung siehe Rn. 10)
Prüft man nun die Zulässigkeitsvoraussetzungen der Verfassungsbeschwerde einmal näher, so ist jedenfalls bei der Rechtswegerschöpfung bzw. der Subsidiarität inne zu halten. Denn das Gesetz kennt ein Verfahren, um im Aufstellungsverfahren zu beseitigen: Das Wahlprüfungsverfahren ist hierfür das vorgesehene, gleichwohl der Wahl nachgelagerte, Mittel. § 1 Abs. 2 lit. b) SächsWahlPrüfG bestimmt, dass Wahlen ganz oder teilweise für ungültig zu erklären sind, wenn die Verteilung der Abgeordnetensitze durch fehlerhafte Entscheidungen der Wahlorgane bei der Zulassung oder Zurückweisung von Wahlvorschlägen beeinflusst worden ist. § 48 SächsWahlG, der mit § 48 BWahlG deckungsgleich ist, beschränkt den Rechtsschutz auf die Rechtsbehelfe des Landeswahlgesetzes, der Landeswahlordnung (im Folgenden: LWO Sachsen) und des Wahlprüfungsverfahrens. Weil es genau für diesen Fall das Wahlprüfungsverfahren gibt, welches noch nicht durchlaufen wurde, ist die Verfassungsbeschwerde an sich unzulässig. Dies ist auch der Standpunkt der Rechtsprechung mit ihrer Ansicht von der Spezialität des Wahlprüfungsverfahrens, sog. „Spezialitätsthese“ (etwa BVerfGE 74, 96, 101; Nachweise bei Lang, Subjektiver Rechtsschutz im Wahlprüfungsverfahren, 1997, S. 161 ff.).
Der VerfGH Sachsen lässt die Beschwerden jedoch nicht hieran scheitern. Laut der Pressemitteilung zu dem noch unveröffentlichten Beschluss stellt er heraus:
„Der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerden steht die Sperrwirkung des nach der Wahl durchzuführenden Wahlprüfungsverfahrens im Umfang der Stattgabe nicht entgegen. In dem hier zu entscheidenden besonderen Ausnahmefall sind die Verfassungsbeschwerden zulässig, soweit sich die Entscheidung des Landeswahlausschusses als mit hoher Wahrscheinlichkeit rechtswidrig erweist und einen voraussichtlichen Wahlfehler von außerordentlichem Gewicht begründete, der erst nach der Wahl beseitigt werden könnte.“ (Hervorhebungen durch den Autor)
Den Rechtsfehler sieht das Gericht in der vom Wahlausschuss geforderten einheitlichen Aufstellungsversammlung. In Bezug auf die Änderung des Wahlverfahrens sei ein solcher Fehler nicht zu erkennen, womit die Verfassungsbeschwerde nur zulässig sei in Bezug auf die Listenplätze 1-30. Und bei der im einstweiligen Rechtsschutz zu treffenden Folgenabwägung überwögen hier durch die drohenden nachteiligen Auswirkungen der Nichtzulassung die Interessen der Partei.
Aussagegehalt geht über konkrete Entscheidung hinaus
Die Aussagen beinhalten drei verschiedene Aspekte, die voneinander zu trennen sind. Zum einen nimmt das Gericht eine materielle Prüfung der Rechtmäßigkeit der Teilzurückweisung vor und bejaht diese teilweise. Hierum soll es an dieser Stelle nicht gehen. Der oben zitierte Ausspruch legt darüber hinaus Grenzen fest, in denen Verfassungsbeschwerden bereits vor der Wahl gegen Entscheidungen des Wahlausschusses zulässig sein sollen. Es stößt damit energisch eine Tür auf, die bisher verschlossen war. Und zum Dritten lässt sich aus dieser Möglichkeit wohl auch indirekt ablesen, dass das Gericht den bisherigen, nach der Wahl angesiedelten „Rechtsschutz“ für untauglich hält.
Begrüßenswerte Ausweitung des Rechtsschutzes
Die Möglichkeit, die Entscheidung des Wahlausschusses bereits vor der Wahl einer gerichtlichen Kontrolle zu unterziehen, ist ausnahmslos zu begrüßen. Eine solche Möglichkeit besteht für die Zurückweisung der Liste (bisher) nicht. Für den Fall der Nichtanerkennung einer Vereinigung als Partei hat der Gesetzgeber eine „parallele“ Lücke vor einigen Jahren mit der Regelung des Art. 93 Abs. 1 Nr. 4c GG und den ausführenden einfachgesetzlichen Regelungen gelöst. Auch hier bestand gegen die Entscheidung des Wahlausschusses, ob eine Vereinigung als Partei anerkannt wird, kein Rechtsschutz vor der Wahl, es blieb nur die Wahlanfechtung.
In dem ähnlichen Fall der Zurückweisung der Liste kann letztendlich die gleiche Begründung greifen. Zwar sind die Formalitäten der Listenaufstellung weit weniger rechtlich aufgeladen als die Bestimmung der lebhaft umstrittenen Parteieigenschaft, aber auch hier entscheiden Parlamentsparteien in Form des Wahlausschusses über ihre eigene Konkurrenz. Nicht zuletzt diese Konstellation hat die Debatte rund um die AfD-Liste auch dermaßen entfacht. Dass bei einer Entscheidung in eigener Sache mit hoher Missbrauchsanfälligkeit und hoher Eingriffsintensität aber nur eine extrem nachgelagerte Kontrolle möglich ist, erscheint nicht plausibel. Daneben hinterlässt auch das Wahlprüfungsverfahren einen großen „toten Winkel“, der nicht justiziabel bleibt. Dies liegt an der großzügigen Handhabung des besonderen Merkmals der Mandatsrelevanz im Wahlprüfungsverfahren durch die Verfassungsgerichte, das eine weitere hohe Hürde aufstellt, um nach einem Wahlfehler den rechtmäßigen Zustand tatsächlich wieder herzustellen. Liegt eine Mandatsrelevanz nicht vor, bleiben Rechtsverletzungen unbeachtet im genannten „toten Winkel“ der Regelungen – als Kollateralschaden zur Absicherung der Stabilität des Parlaments. Die Wahlprüfung ist damit nicht nur nachgelagert, sondern auch noch inhaltlich beschränkt. Die Rechtsschutzlücken gerade im Bereich der Wahlvorbereitung sind, wie auch in der Literatur geäußert, verfassungsrechtlich bedenklich (siehe etwa Schliesky, in v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, 7. Auflage 2018, Art. 41 Rn. 20 m.w.N. und Lang, Subjektiver Rechtsschutz im Wahlprüfungsverfahren, 1997, S. 137 ff. m.w.N.). Dennoch hält das Bundesverfassungsgericht an der Sperrwirkung in Bezug auf die Verfassungsbeschwerde bisher fest (etwa BVerfGE 74, 96, 101).
Der VerfGH Sachsen bürdet den Parteien den bisher zu beschreitenden Weg „ausnahmsweise“ nicht auf. Damit gibt es auch zu erkennen, dass es die Regelungen zum Rechtsschutz jedenfalls in den Fällen für ungenügend hält, in denen Entscheidungen des Wahlausschusses höchstwahrscheinlich rechtswidrig sind und zu Wahlfehlern von „außerordentlichem Gewicht“ führen. Das Gericht verhindert so einen verfassungswidrigen Zustand und hat hier faktisch unter gewissen Voraussetzungen die Möglichkeit einer Art „präventiver Wahlprüfung“ eröffnet.
Ausgestaltung (noch) nicht nachvollziehbar
Die Art und Weise, wie sich das Gericht beholfen hat, um die Zulässigkeitsprobleme zu umschiffen, ist allerdings kritikwürdig. Aus der bisher veröffentlichten Zusammenfassung ergeben sich im Wesentlichen drei Voraussetzung für ein ausnahmsweises Einschreiten: die hohe Wahrscheinlichkeit der Rechtswidrigkeit der Entscheidung des Wahlausschusses, ein Wahlfehler von „außerordentlichem Gewicht“ als Folge und der Wahlfehler dürfte nicht auf andere Weise vor der Wahl beseitigt werden können.
Wenig überzeugend knüpft das Gericht die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde an die Erfolgswahrscheinlichkeit („mit hoher Wahrscheinlichkeit rechtswidrig“) und damit letztendlich an die überwiegende Begründetheit derselben. Diese Verquickung von Zulässigkeit und Begründetheit ist bemerkenswert. Die hinter der Konstruktion stehende Aussage, wonach nur gewichtige Fehler zu einer Justiziabilität führten, erscheint unter Gleichheits- und Rechtsstaatlichkeitsgesichtspunkten bedenklich.
Die weiteren Voraussetzungen wirken ebenfalls so hoch gegriffen, dass sie nur ausnahmsweise zum Tragen kommen können: Wenn das Gericht einen „Wahlfehler von außerordentlichem Gewicht“ verlangt, stellt sich die Frage, wo hier die Grenze zu einem „normalen“ Wahlfehler zu ziehen ist. Ein Wahlfehler, der „ins Gewicht fällt“, dürfte jedenfalls auch die Prüfung der (im Vorfeld freilich hypothetischen) Mandatsrelevanz umfassen. Was über die Mandatsrelevanz hinaus verlangt ist, bleibt also unklar. Außerdem leuchtet nicht ein, warum nicht alle potentiellen Wahlfehler mit Auswirkungen auf die Zusammensetzung des Parlaments erfasst sind.
Nach der jetzigen Entscheidung erscheinen grundsätzlich alle Entscheidungen des Wahlausschusses als möglicher Gegenstand der Verfassungsbeschwerde. Das Gericht wird nun immer prüfen müssen, ob mit hoher Wahrscheinlichkeit ein rechtswidriges Handeln und ein Wahlfehler von entsprechendem Gewicht vorliegt, um sich nicht in Widerspruch zu der Entscheidung zu setzen. Dass dies beabsichtigt war, lässt sich jedenfalls bezweifeln.
„Wennschon, dennschon“ – Die Notwendigkeit umfassenden Rechtsschutzes
Der „tote Winkel“ des Rechtsschutzes ist damit noch immer nicht kleiner geworden: Wenn das Gericht lediglich in Fällen von derart extrem gewichtigen Fehlern die Verfassungsbeschwerde eröffnen möchte, die sich auch auf das Ergebnis auswirken, wäre auch eine anschließende Wahlprüfung erfolgreich. Der Mehrwert liegt hier ausschließlich darin, sich eine notwendige Neuwahl zu ersparen. Die Fehler allerdings, die wohl keine Mandatsrelevanz entfalten und so durch das grobmaschige Netz der Wahlprüfungsbeschwerde fallen, bleiben nicht justiziabel. Das Gericht hat damit zwar eine Vorverlagerung vorgenommen, die hohen Hürden aus der Wahlprüfung aber offenbar teilweise übertragen und damit den Rechtsschutz nicht in die Breite ausgedehnt. Richtig wäre es gewesen, den Rechtsschutz durch die Verfassungsbeschwerde grundsätzlich zu eröffnen und dies nicht nur auf extrem schwerwiegende Fehler zu begrenzen. Die Rechtsschutzlücke liegt an anderer Stelle. Um es auf den Punkt zu bringen: Wenn das Gericht die Tür für Wahlfehler öffnet, dann nicht nur für die Extremfälle.
Erhellendes wird daher die Hauptsache der Verfassungsbeschwerdeverfahren mit sich bringen, hier muss das Gericht die Zulässigkeit der Beschwerden näher erklären. Der eingeschlagene Weg ist, trotz der Kritik im Detail, aber der richtige. Nun ist einmal mehr der Gesetzgeber am Zuge, der eine Art. 93 Abs. 1 Nr. 4c GG vergleichbare Regelung auch für die Listenzurückweisung bereitstellen sollte – auf Bundes- wie auf Landesebene, damit es keiner Kunstgriffe einer ausnahmsweise zulässigen Verfassungsbeschwerde mehr bedarf.
In einer früheren Version war von den Listenplätzen 19-31 die Rede. Der Fehler wurde korrigiert (Anm. der Redaktion).
Guter Artikel zu einem interessanten Problem.
Dachte bisher, Verfassungsbeschwerde sei nicht gesperrt, da ja Wahlprüfungsbeschwerde ebenfalls zum Verfassungsgericht geht. Aber die erste Verfahrensstufe im Parlament könnte den Subsidiaritätsvorbehalt auslösen. Allerdings gilt der Subsidiaritätsvorbehalt wohl nur, falls das vorherige Ausschöpfen einer anderen Rechtsschutzmöglichkeit zumutbar ist. Das dürfte hier jedoch nicht der Fall sein, da der nachgelagerte Rechtsschutz im Wahlprüfungsverfahren zu spät kommt. Vorrang des Wahlprüfungsverfahrens in der bisherigen Rspr muss also anders begründet sein, nämlich aus einer Art Konzentrationswirkung und Monopolstellung des Wahlprüfungsverfahrens. Scheint Roßner in lesenswertem Artikel auf LTO ähnlich zu sehen: https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/kandidaten-landtagswahl-wahlzulassung-urteil-rechtschutz-reform/ Dort wird der Vorrang im Wesentlichen historisch erklärt.
Bin gespannt auf Entscheidungsbegründung in der Hauptsache.
Nach Auffassung des BVerfG besteht die Sperrwirkung vor der Wahl lediglich dadurch, dass die Zuordnung der Wahlprüfung zur Legislative die Rechtsweggarantie entfallen lässt und damit der einfache Gesetzgeber Rechtsbehelfe vor der Wahl ausschließen kann (aber nicht muss).