16 February 2021

Der Wallrabenstein-Beschluss und die politische Dimension des Verfassungsprozessrechts

Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hat am 12. Januar 2021 beschlossen, sein neues Mitglied Astrid Wallrabenstein von der Entscheidung über die Vollstreckung des PSPP-Urteils auszuschließen. Astrid Wallrabenstein hatte sich kurz nach ihrer Wahl, aber vor Amtsantritt in einem Interview mit der FAS auf eine Weise über das PSPP-Verfahren geäußert, die einer der Beschwerdeführer dieses Verfahrens zum Anlass nahm, sie wegen Besorgnis der Befangenheit abzulehnen. Dieses Ablehnungsgesuch stellte den Zweiten Senat vor ein Dilemma: Zum einen waren Wallrabensteins Äußerungen angesichts der politischen Brisanz des PSPP-Verfahrens kaum mit dem Gebot der richterlichen Unabhängigkeit zu vereinbaren. Ebenso klar war aber andererseits, dass eine Stattgabe für die neue Richterin einen denkbar schlechten Start bedeuten und wahrscheinlich auch als Signal im heiklen Feld des Integrationsverfassungsrechts verstanden werden würde. Was also tun? In ihrem Beschluss versuchen die übrigen Mitglieder des Senats, das Problem mit einer für Gerichte nicht untypischen Strategie zu bewältigen. Sie argumentieren mit den Besonderheiten des konkreten Falles und leiten aus der prozessual recht ungewöhnlichen Situation der Vollstreckung eines bereits ergangenen Urteils besonders strenge Maßstäbe für die richterliche Zurückhaltung ab. Der nachfolgende Beitrag zeigt auf, dass und warum diese Strategie zu kurz greift.

I. Über das erkennbare Unbehagen des Zweiten Senats bei seinem Wallrabenstein-Beschluss

Für ein Unbehagen des Senats in dieser Sache gibt es zwei äußere Anzeichen. Das erste ist der zum Spekulieren geradezu einladende Hinweis, dass die Entscheidung „mit Gegenstimmen“ ergangen sei. Diese Formulierung ist in der Praxis des Bundesverfassungsgerichts unüblich. Normalerweise erfährt man das Abstimmungsergebnis entweder gar nicht oder zumindest hinsichtlich des Stimmverhältnisses vollständig. Warum hier so geheimnisvoll? Mindestens zwei Gegenstimmen müssen es ja offensichtlich gewesen sein. Bei einer Besetzung mit sieben Richterinnen und Richtern heißt das, dass entweder mit 5:2 oder mit 4:3 entschieden wurde. Welchen Grund kann es geben, diese Zusatzinformation zu verschweigen?

Noch mehr zeigt sich das Unbehagen an der Öffentlichkeitsarbeit. Es gab keine Pressemitteilung, und der Beschluss wurde zunächst auch nicht auf der Homepage des Gerichts veröffentlicht. Hat man ernsthaft erwartet, man könne einen Beschluss von dieser politischen Dimension in der Tiefe juristischer Datenbanken verstecken? Dagegen sprachen doch schon der zu erwartende Jubel des Beschwerdeführers und die notwendige Ergänzung des Zweiten Senats durch ein Mitglied des Ersten Senats im Losverfahren. Auch das sorgt für öffentliches Interesse. Warum verschaffte das Gericht durch seine defensive Öffentlichkeitsarbeit der FAZ den Scoop einer „Erstveröffentlichung“ der Befangenheitsnachricht? Abgenommen hat die Aufmerksamkeit dadurch jedenfalls nicht.

Man wird den Richterinnen und Richtern des Zweiten Senats wohl nicht unrecht tun, wenn man aus diesen äußeren Anzeichen auf ein inhaltliches Unbehagen schließt. Heikel war die Sache ja allemal, und das nicht nur wegen der mit jeder kontroversen Befangenheitsentscheidung verbundenen potentiellen Rückwirkungen auf das kollegiale Miteinander im Senat. Von der Fortsetzung des PSPP-Verfahrens hängt ab, ob und gegebenenfalls wie sich der Konflikt zwischen Bundesverfassungsgericht und EuGH über die Anleihekaufprogramme der EZB beilegen lässt. Es geht um nichts Geringeres als den Ausgang des ersten Falls, in dem das Bundesverfassungsgericht dem EuGH explizit die Gefolgschaft verweigert hat.

Ein zweiter heikler Punkt ist der Richterwechsel, welcher zwischen der Urteilsverkündung in der Hauptsache und der nun anstehenden Fortsetzung des Verfahrens über die Vollstreckungsregelung stattgefunden hat. Dass der für den bisherigen Kurs des Zweiten Senats stehende ehemalige Präsident Andreas Voßkuhle durch die als europafreundlich geltende Richterin Astrid Wallrabenstein ersetzt wurde, hat – je nach persönlicher Perspektive auf das Thema der verfassungsrechtlichen Grenzen für die europäische Integration – Hoffnungen oder Befürchtungen geweckt. Gerade deshalb ist es ein Politikum, wenn die neue Richterin bei ihrem ersten großen Verfahren zu den Grenzen der europäischen Integration von den übrigen Senatsmitgliedern für befangen erklärt und damit von diesem Verfahren gleich wieder ausgeschlossen wird. Womöglich hätte der Zweite Senat angesichts dieser vielen Fallstricke gerne auf eine Entscheidung verzichtet. Das war ihm durch das vom Beschwerdeführer gestellte förmliche Ablehnungsgesuch freilich verwehrt.

II. Die besondere Situation der Vollstreckungsregelung als Ausweg?

Der Beschluss sucht sich aus den genannten Fallstricken herauszuwinden, indem er auf der Ebene der Maßstabbildung an den bisherigen Kriterien zur Befangenheit von Richterinnen und Richtern des Bundesverfassungsgerichts festhält und bei der Subsumtion den singulären Charakter des Verfahrens in den Vordergrund rückt. Dieser soll sich vor allem daraus ergeben, dass es um die Vollstreckung eines bereits ergangenen Urteils nach § 35 BVerfGG geht. So hält der Senat Astrid Wallrabenstein „insbesondere“ vor, dass sie die Notwendigkeit eines neuen EZB-Beschlusses in Frage gestellt und dadurch ein Verständnis des Urteils geäußert habe, das „dem Wortlaut des Urteils keine entscheidende Bedeutung beimisst.“ (Rn. 33 f.). Der Senat hält es für möglich, dass sie „an die Umsetzung des Urteils vom 5. Mai 2020 andere Maßstäbe anlegen wolle, als es der Senat getan hat“ (Rn. 37). Dies insinuiert eine bei Vollstreckungsfragen besonders starke Bindung an das ursprüngliche Urteil.

Überzeugt das Argument der besonderen Bindung bei der Vollstreckung nach § 35 BVerfGG? Um dies zu beurteilen, muss man sich die genaue Vollstreckungssituation vergegenwärtigen: In seinem Urteil im PSPP-Verfahren hatte sich das Bundesverfassungsgericht erstmals explizit gegen den EuGH gestellt und gedroht, einer vom EuGH für unionsrechtskonform erachteten Entscheidung der EZB in Deutschland die Gefolgschaft zu verweigern. Es hielt die bislang von der EZB durchgeführte (und vom EuGH für ausreichend erachtete) Prüfung der potentiellen Wirkung von Anleihekaufprogrammen für zu ungenau und verlangte eine intensivierte Verhältnismäßigkeitsprüfung. Zu deren Durchsetzung stellte es die weitere Mitwirkung der Bundesbank an den Anleihekäufen unter eine Bedingung. Die Bundesbank dürfe sich daran nur weiter beteiligen, wenn innerhalb einer Frist von drei Monaten „der EZB-Rat in einem neuen Beschluss nachvollziehbar darlegt, dass die mit dem PSPP angestrebten währungspolitischen Ziele nicht außer Verhältnis zu den damit verbundenen wirtschafts- und fiskalpolitischen Auswirkungen stehen.“ (Rn. 235).

Über den konkreten Inhalt dieser Bedingung wurde anschließend intensiv in Bundestag und Fachöffentlichkeit diskutiert, angefangen von der Frage, ob die Bedingung bereits selbst eine Vollstreckungsregelung im Sinne von § 35 BVerfGG darstellt, über die genauen Pflichten von Bundestag und Bundesregierung bis hin zu der im Hinblick auf die Äußerungen von Frau Wallrabenstein zentralen Frage, was genau denn mit einem „neuen Beschluss“ der EZB gemeint sein kann.

Die Formulierung des Beschlusses, wonach das Interview die Sorge hervorrufen könne, dass Frau Wallrabenstein „an die Umsetzung des Urteils vom 5. Mai 2020 andere Maßstäbe anlegen wolle, als es der Senat getan hat.“ (Rn, 37), bedürfte vor diesem Hintergrund weiterer Erläuterung. Schon die intensive Diskussion um Inhalt und Bedeutung der in Rn. 235 des PSPP-Urteils formulierten Bedingung zeigt doch, dass gerade nicht eindeutig feststeht, welche Maßstäbe der Senat an die Umsetzung angelegt hat. Von daher besteht hinsichtlich der Bindungswirkungen des PSPP-Urteils bei seiner Vollstreckung nach § 35 BVerfGG letztlich kein Unterschied zu anderen rechtlichen Bindungen. Hier wie dort geht es darum,  eine normative Vorgabe zunächst zu konkretisieren und sie anschließend auf den konkreten Fall anzuwenden. Der Senat erklärt nicht, worin die Besonderheit bei der Vollstreckung bestehen soll, obwohl darin offenbar das zentrale Argument für die Ablehnung von Frau Wallrabenstein liegt.

III. Die neue Richterin im „alten“ Verfahren

Und selbst wenn man eine solche besondere Bindung bejaht, müsste diese nicht umso mehr für diejenigen Mitglieder des Senats gelten, die an dem zu vollstreckenden Urteil beteiligt waren? Äußern sie sich öffentlich, so kommt ihnen besondere Autorität zu, da die Öffentlichkeit von einer quasi-authentischen Urteilsinterpretation ausgeht. Sie waren es schließlich, die dieses Urteil gefällt und seine Begründung verfasst haben. Beispielsweise hat Peter M. Huber, der zudem zuständiger Berichterstatter war, nach der Urteilsverkündung mehrfach signalisiert, dass es zur Urteilsumsetzung möglicherweise keines förmlichen Beschlusses der EZB bedürfe. Auf seine Stellungnahme in einem Webinar der grünen Europagruppe im Sommer 2020 wurde bereits in einem Post hier auf dem Verfassungsblog hingewiesen. Bemerkenswert ist auch die Aussage in einem Interview, das am 29.6.2020 in der FAZ erschien. Dort antwortet er auf die Frage nach seiner Präferenz zwischen verschiedenen Umsetzungsvorschlägen zwar zunächst, dass es nicht seine Aufgabe sei, dies zu beurteilen. Er schiebt dann aber folgende Sätze nach: „Worauf es uns ankommt: Dass es in einer Rechtsgemeinschaft keine begründungslosen Entscheidungen gibt. Entscheidungen müssen gegenüber der Öffentlichkeit gerechtfertigt werden. Wie das gemacht wird, ist mir eigentlich egal. Wichtig ist, dass es für jeden Bürger und für die Institutionen nachvollziehbar ist.“ Kann man nicht auch diese Sätze als eine vorsichtige Abkehr vom Erfordernis eines neuen Beschlusses der EZB verstehen? Anstatt „Wie das gemacht wird, ist mir eigentlich egal“ hätte man einen Satz wie „Unser Urteil verlangt einen neuen Beschluss der EZB“ erwarten dürfen.

Nun mag man einwenden, dass das Gericht sich seine Befangenheitsanträge nicht aussuchen kann, und der Beschwerdeführer nun einmal die Richterin Wallrabenstein abgelehnt hat und nicht den Richter Huber. Das ist natürlich richtig, löst aber nicht das Problem, dass recht ähnliche öffentliche Äußerungen zu höchst unterschiedlichen Ergebnissen führen. Während die eine Richterin vom Verfahren ausgeschlossen wird, bleibt der andere weiter beteiligt. Dabei liegt in der quasi-authentischen Interpretation durch den Berichterstatter („Worauf es uns ankommt“) doch ein mindestens ebenso großer Vorgriff auf die erst noch zu treffende Vollstreckungsentscheidung.

IV. Problematische Ungleichheiten durch die gegenwärtige Ausgestaltung und Anwendung des Prozessrechts

Wer wann welche Senatsmitglieder ablehnen kann, hängt zentral vom Verfassungsprozessrecht ab. Maßgeblich hierfür ist die Unterscheidung zwischen (bloß) Äußerungsberechtigten und echten Verfahrensbeteiligten. Nur letztere können Richterinnen und Richter wegen Befangenheit ablehnen. Äußerungsberechtigte sind hingegen auf die Möglichkeit einer Stellungnahme beschränkt. Bei der Verfassungsbeschwerde gesteht das BVerfGG allein dem Beschwerdeführer oder der Beschwerdeführerin automatisch die Stellung eines Verfahrensbeteiligten zu. Selbst Verfassungsorgane wie der Bundestag oder die Bundesregierung sind grundsätzlich nur äußerungsberechtigt und müssen einem Verfassungsbeschwerdeverfahren erst nach § 94 Abs. 5 BVerfGG beitreten, um die Rolle eines Verfahrensbeteiligten zu erlangen. Soweit es bei einer Urteilsverfassungsbeschwerde Begünstigte des Ausgangsverfahrens gibt, haben diese gar keine Möglichkeit, Verfahrensbeteiligte zu werden (vgl. § 94 Abs. 3 BVerfGG).

Diese Privilegierung des Beschwerdeführers passt zur Rolle der Verfassungsbeschwerde als außerordentliches Jedermann-Recht, mit dem man die Verletzung eigener Grundrechtspositionen rügen kann. Seit dem Maastricht-Urteil hat das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsbeschwerde aber zu einem eigenständigen Kontrollinstrument für die Einhaltung der verfassungsrechtlichen Grenzen bei der europäischen Integration ausgebaut. Hier ist die mögliche Verletzung subjektiver Grundrechtspositionen (in Gestalt des Art. 38 Abs. 1 GG) eigentlich nur noch das prozessuale Vehikel für eine objektive Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit.

Diese Subjektivierung des Rechtsschutzes in Unionsrechtssachen generiert praktisch ausschließlich Verfassungsbeschwerden gegen ein (behauptetes) Zuviel an europäischer Integration. In solchen Verfahren dürfte es kaum jemals Ablehnungsgesuche wegen integrationskritischer Äußerungen geben. Hieraus ergibt sich ein strukturelles Ungleichgewicht. Man darf annehmen, dass Verfassungsorgane wie die Bundesregierung oder der Bundestag weder in Bezug auf die Äußerungen von Frau Wallrabenstein noch in Bezug auf diejenigen von Herrn Huber Ablehnungsanträge nach § 19 Abs. 1 BVerfGG gestellt hätten. Man hätte gegenüber dem Bundesverfassungsgericht als Verfassungsorgan wohl Zurückhaltung geübt. Für einzelne Beschwerdeführer gibt es keine Notwendigkeit für eine solche politische Rücksichtnahme. Sie können und dürfen ihr Klageziel mit allen ihnen zur Verfügung stehenden prozessualen Mitteln verfolgen.

Auch für Begünstigte des Ausgangsverfahrens kann es schwierig sein, auf integrationskritische Äußerungen von Richterinnen und Richtern mit einem Ablehnungsgesuch zu reagieren. So wurde beispielsweise die katholische Kirche im sog. Chefarzt-Verfahren von Mitgliedern des Gerichts offenbar geradezu zum Erheben einer Verfassungsbeschwerde aufgefordert, welche es dem Gericht ermöglicht hätte, die Grenzen der unionsrechtlichen Überformung des kirchlichen Arbeitsrechts zu überprüfen. Vor dem Hintergrund der erfolgreichen Ablehnung der Richterin Wallrabenstein erscheinen solche Aufforderungen noch problematischer. Zwar hat die katholische Kirche sich letztlich gegen eine Verfassungsbeschwerde entschieden. Aber dem Zweiten Senat liegt eine Verfassungsbeschwerde der Evangelischen Diakonie gegen ein Urteil des Bundesarbeitsgerichts vor, in der über die gleichen Rechtsfragen gestritten wird (Az. 2 BvR 934/19; vgl. hier und hier). Im Ausgangsrechtsstreit hatte das Bundesarbeitsgericht entschieden, dass es gegen europäisches Antidiskriminierungsrecht verstieß, eine konfessionslose Bewerberin nicht einzustellen. Schlagen die Äußerungen der Senatsmitglieder im Chefarzt-Fall auf dieses Verfahren durch und führen dort zu einer Befangenheit? Ein Interesse an der Klärung dieser Frage hat in erster Linie die ursprünglich nicht eingestellte Bewerberin als Begünstigte des Ausgangsverfahrens. Als solche ist sie jedoch – wie erwähnt – nur äußerungsberechtigt, sodass ihr die prozessuale Rechtsstellung für ein Ablehnungsgesuch fehlt.

V. Folgerungen

Was folgt aus diesen Überlegungen für die Entscheidung über Ablehnungsgesuche im Allgemeinen und den Wallrabenstein-Beschluss im Konkreten? Selbstverständlich kann man die gerade beschriebene Unwucht im Verfassungsprozessrecht nicht dem Bundesverfassungsgericht anlasten. Aber an den Wirkungen dieser Unwucht zeigt sich, dass auch das Verfassungsprozessrecht in einem politischen Gesamtkontext steht, den das Gericht bei seinen Entscheidungen nicht außer Acht lassen darf. Diesem Gesamtkontext hat der Senat in seinem Wallrabenstein-Beschluss zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Der Beschluss versäumt es, das konkrete Ablehnungsgesuch in den größeren Zusammenhang von Äußerungen anderer Senatsmitglieder zu stellen und die tatsächlichen Wirkungen des Prozessrechts zu berücksichtigen. Gerade im Vergleich mit bisher ohne Konsequenz gebliebenen integrationskritischen Äußerungen entsteht so der problematische Eindruck einer einseitigen Beurteilung.

Der Autor Walter vertritt in dem angesprochenen Verfahren zum kirchlichen Arbeitsrecht (Az. 2 BvR 934/19) die Begünstigte des mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen BAG-Urteils.