19 December 2024

Deutschland, Israel und der IGH

Art. 63 IGH-Statut ist eine Sackgasse

Das Verfahren zwischen Südafrika und Israel vor dem Internationalen Gerichtshof zählt vielleicht zu den bedeutendsten in der Geschichte des Gerichts. Bereits zehn Staaten sind dem Verfahren beigetreten oder haben ihren Beitritt beantragt. Deutschland kündigte seine Absicht zur Intervention bereits kurz nach der Klageeinreichung Südafrikas an, noch bevor es selbst in einen Rechtsstreit mit Nicaragua über die Unterstützung Israels verwickelt wurde. Die erklärte Absicht der Bundesregierung besteht darin, dem von Südafrika erhobenen Völkermordvorwurf entschieden entgegenzutreten. Eine politisch motivierte Intervention unter Art. 63 des IGH-Status würde sich jedoch dem Vorwurf der Doppelmoral aussetzen. Deutschlands Vorhaben wurde bereits zu Beginn des Jahres kritisch (hier, hier und hier) sowie befürwortend (hier) reflektiert. Die Möglichkeit einer Intervention unter Art. 62 des IGH-Status ist dabei jedoch unberücksichtigt geblieben, obwohl diese einen erweiterten Handlungsspielraum eröffnet.

Die Probleme einer Intervention nach Art. 63 IGH-Statut

Das ist wenig überraschend, da der offensichtliche Weg einer Intervention über Art. 63 des IGH-Statuts führt – diesen hat Deutschland zusammen mit zahlreichen weiteren Staaten bereits in den Völkermordverfahren Ukraine gegen Russland sowie Gambia gegen Myanmar gewählt. Die Vorschrift ermöglicht es allen Vertragsparteien eines multilateralen Abkommens, in Verfahren über dessen Auslegung zu intervenieren. Ziel dieser Regelung ist es, den Vertragsstaaten die Möglichkeit zu geben, Einfluss auf die richterliche Auslegung des Abkommens zu nehmen, die zumindest faktisch eine Bindungswirkung entfaltet (res interpretata). Dabei sind intervenierende Staaten jedoch darauf beschränkt, abstrakte Auslegungsfragen zu adressieren, ohne sich zur Anwendung des Abkommens auf den konkreten Streitfall oder zur Beweislage zu äußern.

In der Praxis wird diese Art der Intervention jedoch selten genutzt, um bestehende rechtliche Unklarheiten auszuräumen. Vielmehr dient es häufig als politisches Instrument zur Unterstützung einer der Streitparteien. Besonders deutlich wurde dies im Verfahren Ukraine gegen Russland, in dem 34 Staaten „auf der Seite“ der Ukraine intervenierten. Ein Vorgehen, das die prozessuale Gleichheit der Streitparteien im gerichtlichen Verfahren zu beeinträchtigen droht. Auch im Verfahren Gambia gegen Myanmar stellte sich Deutschland in einer gemeinsamen Erklärung mit Kanada, Dänemark, Frankreich, den Niederlanden und dem Vereinigten Königreich demonstrativ an die Seite Gambias.

Der IGH hat daraufhin der Art. 63-Intervention jedoch klare Grenzen gesetzt. Zwar wies er eine Beeinträchtigung der prozessualen Gleichheit der Parteien mit einem formalistischen Argument zurück, flexibilisierte jedoch im Gegenzug die prozessualen Rechte der intervenierenden Staaten. Gleichzeitig stellte er klar, dass Stellungnahmen, die über die „construction of the convention“ hinausgehen – etwa indem sie die Anwendung des Abkommens auf den konkreten Fall berühren – unberücksichtigt bleiben. Staaten, die mehr als nur ein politisches Signal setzen und tatsächlich Einfluss auf die Urteilsfindung nehmen wollen, müssen sich daher auf abstrakte Fragen der Vertragsauslegung beschränken.

Interveniert Deutschland nun über Art. 63 des IGH-Status im Verfahren Südafrika gegen Israel, so muss die Argumentation zugunsten Israels in abstrakt-rechtliche Auslegungsfragen gegossen werden. Folglich könnte Deutschland Israel nur helfen, indem es eine restriktive Auslegung der objektiven und subjektiven Elemente des Völkermordtatbestands vertritt. Eine solche restriktive Argumentationslinie scheint nicht nur vor dem Hintergrund der historischen Verantwortung Deutschlands für den Holocaust und den Völkermord an den Herero und Nama unglücklich, vielmehr würde eine solche Linie auch der deutschen Position im Verfahren Gambia gegen Myanmar widersprechen.

Deutschlands extensives Verständnis von Völkermord in Gambia gegen Myanmar

In diesem Verfahren hatte Deutschland schließlich eine weite Auslegung des Völkermordtatbestands gefordert. In der gemeinsamen Erklärung mit den anderen Intervenienten argumentierte Deutschland unter anderem für eine Absenkung des Beweismaßstabs für die Feststellung einer Völkermordabsicht. Ein ausgewogener Ansatz sei von entscheidender Bedeutung, der die Schwelle für die Annahme einer völkermörderischen Absicht nicht so hoch ansetzt, dass die Feststellung eines Völkermordes nahezu unmöglich werde. Unter Anwendung dieses Maßstabs bejahte etwa der umstrittene Bericht vom Amnesty International den Völkermordvorwurf gegenüber Israel (näher hier und hier).

Außerdem führte Deutschland in Gambia gegen Myanmar Indizien an, die auf eine Völkermordabsicht hindeuten, etwa Handlungen gegenüber Kindern und Zwangsvertreibungen. Insbesondere letzteres wird auch Israel im Hinblick auf die Evakuierungen im Gazastreifen vorgeworfen (näher hier). Zudem betonte Deutschland die generelle Beweiskraft von UN-Berichten. Im Hinblick auf den Gazastreifen beinhalten allerdings einige UN-Berichte die Vermutung eines Völkermords (z.B. hier, hier und hier).

Die in Gambia gegen Myanmar geäußerte Position würde im Verfahren Südafrika gegen Israel also kaum zugunsten des Beklagten, Israel, streiten (siehe näher hier und hier). Eine bloße Wiederholung dieser Stellungnahme wäre also sicherlich nicht als das intendierte entschlossene Entgegentreten gegenüber den von Südafrika erhobenen Vorwürfen zu werten.

Nun steht es Deutschland frei, seine Rechtsauffassung zu ändern und ein restriktiveres Rechtsverständnis zu äußern. So könnte Deutschland beispielsweise wieder einen konservativeren Beweismaßstab fordern. Solange ein Urteil im Verfahren Gambia gegen Myanmar noch aussteht, entfaltet die dortige Interventionserklärung keine Bindungswirkung. Nach Art. 63 Abs. 2 des IGH-Statuts wird erst eine Interpretation durch den IGH im Urteil für die Intervenienten rechtsverbindlich.  Dies ist folgerichtig, insofern bis zum Urteil offenbleibt, welches Rechtsverständnis sich letztlich durchsetzt. Eine begrenzte Bindungswirkung an eine frühere Erklärung könnte allenfalls im Prinzip des Rechtsmissbrauchs begründet werden (abweichend hier).

Doppelmoral und Selbstverteidigung

Eine Anpassung von Deutschlands Rechtsauffassung an die politischen Umstände würde jedoch unweigerlich den Vorwurf der Doppelmoral nach sich ziehen – und damit nicht nur die Glaubwürdigkeit Deutschlands, sondern auch die normative Autorität des Völkerrechts insgesamt gefährden. Denn wenn dieselben rechtlichen Normen je nach politischem Kalkül unterschiedlich – mal eng, mal weit – ausgelegt werden, untergräbt dies ihre allgemeine Akzeptanz. Solche widersprüchlichen Auffassungen sind nicht nur rechtlich wenig überzeugend, sondern untergraben auch die Idee einer objektiven (Völker-)Rechtsordnung. In Zeiten einer sich zunehmend spaltenden internationalen Gemeinschaft obliegt es den Staaten, eine Vision des Völkerrechts zu demonstrieren, die tatsächlich rechtsbasiert ist (siehe hier). So schreibt bereits Scott: „the power of international law can only be the power of the idea of international law.”

Deutschland sollte also an seiner in Gambia gegen Myanmar vertretenen Auslegung festhalten. Walter schlägt jedoch vor, dass Deutschland seine Position „präzisieren und fortentwickeln“ könnte. Insbesondere müsse der Kontext des bewaffneten Konflikts und ein Recht auf Selbstverteidigung berücksichtigt werden. Ein überzeugendes abstrakt-rechtliches Argument lässt sich daraus jedoch kaum herleiten. Der IGH stellte in Gambia gegen Myanmar (Rn. 74) und Bosnien und Herzegowina gegen Jugoslawien (Rn. 31) ausdrücklich fest, dass die Pflichten aus der Völkermordkonvention unabhängig vom Bestehen eines bewaffneten Konflikts „identisch“ bleiben. Dies wurde auch in den Interventionserklärungen von Mexiko (Rn. 27) und Chile (Rn. 33) hervorgehoben. Zudem kann auch das Vorliegen einer Selbstverteidigungslage den nach der Völkermordkonvention anzusetzenden Maßstab nicht beeinflussen und auch keine Rechtfertigung darstellen (näher hier, hier und hier).

Eine deutsche Intervention gemäß Art. 63 IGH-Statut könnte daher nur unter Selbstaufgabe einer eigenen kohärenten Rechtsauffassung zugunsten Israels streiten.

Faktische Argumentation und Intervention nach Art. 62 IGH-Statut

Möchte Deutschland dennoch an seinem Vorhaben zur Intervention festhalten, spricht mehr dafür, dies unter Art. 62 des IGH-Statuts zu unternehmen. Diese Vorschrift normiert die zweite Art einer Intervention in einem Verfahren vor dem IGH. Sie erlaubt Staaten, an einem Verfahren teilzunehmen, wenn sie ein eigenes rechtliches Interesse geltend machen können, das durch die Entscheidung berührt wird. Unter bestimmten Umständen kann ein Staat sogar als Streitpartei intervenieren. In jedem Fall erhält er jedoch die Gelegenheit, sich zu allen relevanten Fragen – einschließlich der Beweislage und der Rechtsanwendung auf den Einzelfall – zu äußern.

Dies würde es Deutschland ermöglichen, seine bisher geäußerte Rechtsauffassung beizubehalten und stattdessen auf der Tatsachenebene zu argumentieren. Ob dies inhaltlich erfolgsversprechend wäre, muss außerhalb dieses kurzen Beitrags beurteilt werden.

Allerdings ist eine Intervention unter Art. 62 des IGH-Statuts selten, und der Gerichtshof setzt hohe Standards an die Darlegung des notwendigen eigenen rechtlichen Interesses an. In der Geschichte des IGH gab es bislang lediglich drei erfolgreiche Interventionen dieser Art: Griechenland in Jurisdictional Immunities zwischen Deutschland und Italien, sowie Nicaragua und Äquatorialguinea in Grenzstreitigkeiten zwischen El Salvador und Honduras bzw. Kamerun und Nigeria.

Im Verfahren Südafrika gegen Israel haben bis jetzt zwei Staaten beantragt, nach Art. 62 des IGH-Statuts intervenieren zu dürfen: Palästina und Nicaragua. Während sich Palästina auf die eigene Betroffenheit stützt, beruft sich Nicaragua auf die erga omnes-Pflichten der Völkermordkonvention. Jeder Staat habe ein eigenes Interesse an deren Einhaltung, daraus ergebe sich schließlich auch die Klagebefugnis Südafrikas. Diesem Gedanken wird der IGH jedoch voraussichtlich nicht folgen, denn zwar ähneln sich die Kriterien für Klagebefugnis und für die Art. 62-Intervention, allerdings ist fraglich ob ein Urteil des IGH tatsächlich ein rechtliches Interesse Nicaraguas beeinträchtigen würde. Ähnlich argumentiert Walter im Hinblick auf Deutschland: „Letztlich ist Deutschland nicht anders betroffen als alle anderen Vertragsparteien der Völkermordkonvention auch.“

Dabei konnte ein entscheidender Aspekt jedoch noch nicht berücksichtigt werden: Die Auswirkung eines Urteils im Verfahren Südafrika gegen Israel auf das anhängige Verfahren Nicaragua gegen Deutschland. In diesem Verfahren wirft Nicaragua Deutschland unter anderem vor, Beihilfe zu einem von Israel begangenen Völkermord geleistet zu haben.

Eine gerichtliche Feststellung im Verfahren Südafrika gegen Israel zum Völkermordvorwurf könnte daher zumindest eine de facto Präjudizwirkung für den Beihilfevorwurf entfalten. Denn auch ohne formale stare decisis-Regel, weicht der IGH nicht ohne „very particular reasons“ (Rn. 53) von vorherigen Urteilen ab. Damit könnte eine Feststellung zum Völkermordvorwurf ein eigenes rechtlichen Interesse Deutschlands beeinträchtigen, das in der Rechtsverbindlichkeit eines Urteils im Verfahren Nicaragua gegen Deutschland begründet ist, Art. 59 des IGH-Status. Deutschland ist somit durchaus anders betroffen als andere Vertragsparteien der Völkermordkonvention, die sich einem solchen Vorwurf nicht ausgesetzt sehen.

Verhältnis Intervention und „Monetary Gold“-Argument

Deutschland dürfte in jedem Fall darauf bedacht sein, das eigene „Monetary-Gold“-Argument im Verfahren Nicaragua gegen Deutschland durch eine Intervention nicht zu gefährden. Der IGH hat in seiner „Monetary Gold“-Entscheidung klargestellt, dass er über einen Fall nicht entscheiden kann, wenn der Fall wesentlich die Rechte eines Drittstaats betrifft, der dem Verfahren weder zugestimmt hat noch am Verfahren beteiligt ist.

Im Verfahren Nicaragua gegen Deutschland beruft sich Deutschland darauf, dass die Klage Nicaraguas unzulässig sei, da Israel, dessen Rechte unmittelbar betroffen wären, nicht am Verfahren beteiligt ist. Diese Argumentation legt auf den ersten Blick nahe, dass Deutschland eine Vermischung des Verfahrens Südafrika gegen Israel mit dem eigenen Verfahren vermeiden sollte. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass weder eine deutsche noch eine nicaraguanische Intervention das „Monetary Gold“-Argument beeinträchtigen können. Der Grundsatz schützt hier die Rechte Israels, über die weder Deutschland noch Nicaragua disponieren können.

Fazit

Deutschland hat sich mit seiner angekündigten Intervention in eine schwierige Position gebracht. Eine Intervention nach Art. 63 IGH-Statut lässt sich kaum mit der in Gambia gegen Myanmar vertretenen Rechtsauffassung in Einklang bringen. Es sprechen also gute Argumente gegen eine Intervention. Möchte Deutschland dennoch Einfluss auf das Verfahren nehmen, könnte es den Weg über Art. 62 IGH-Statut wählen, um auf Tatsachenebene argumentieren zu können und so zumindest seine rechtliche Konsistenz zu wahren. Noch bis zum 28. Juli 2025, also dem Datum für das israelische Memorial, wäre nach den Regeln des Gerichtshofs eine Intervention möglich.


SUGGESTED CITATION  von Stosch, Valentin: Deutschland, Israel und der IGH: Art. 63 IGH-Statut ist eine Sackgasse, VerfBlog, 2024/12/19, https://verfassungsblog.de/deutschland-israel-und-der-igh/, DOI: 10.59704/6c2a2cd04ff7bc53.

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