Deutschlands Blockade beim europaweiten Gewaltschutz
Warum eine europaweite Harmonisierung des Vergewaltigungsstraftatbestandes möglich und nötig ist
Geschlechtsspezifische Gewalt ist in der Europäischen Union (EU) in den letzten Jahren dramatisch gestiegen. Frauen sind dabei besonders häufig von Vergewaltigungen betroffen. In 16 EU-Mitgliedstaaten ist die Vergewaltigung aber nur bei Anwendung oder Androhung von Gewalt strafrechtlich verfolgbar (s. Abschn. 2.1.2. European Commission, Impact Assessment Report). Ein einfaches „Nein“ der betroffenen Person findet dort rechtlich keine Anerkennung. Die Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt ist deshalb ein zentrales Anliegen der EU-Kommission unter der Führung von Ursula von der Leyen. Mit dem lange verzögerten Beitritt der EU zur Istanbul-Konvention, dem Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, am 1. Oktober 2023 ist ein erster Schritt getan, Betroffene besser zu schützen. Zudem hat die Kommission am 8. März 2022 einen Richtlinienentwurf (RL-E) für einen umfassenden und zugleich effektiven und durchsetzbaren Schutz vor geschlechtsspezifischer Gewalt in allen EU-Mitgliedstaaten unterbreitet. Das Europäische Parlament (EP) und der Rat befinden sich bereits in der letzten entscheidenden Phase der sog. Trilogverhandlungen.
Hauptstreitpunkt in den Verhandlungen, an dem die Annahme der Richtlinie letztendlich scheitern könnte, ist die Streichung des Vergewaltigungsstraftatbestands (Art. 5 RL-E) – der das Delikt europaweit und konsenszentriert harmonisieren soll – durch den Rat. Hierfür haben sich zwölf Mitgliedstaaten unter Berufung auf ein Gutachten des Juristischen Dienstes des Rates (JD-R) ausgesprochen. Ausschlaggebend sind hierbei Deutschland und Frankreich. Das federführende Bundesjustizministerium (BMJ) führt zur Begründung seiner Blockadehaltung „erhebliche Zweifel“ am Vorliegen der EU-Rechtsgrundlage an. Bei Vergewaltigungen handele es sich weder um „sexuelle Ausbeutung“ noch um grenzüberschreitende Kriminalität im Sinne des Art. 83 Abs. 1 AEUV. Das EP, die Kommission und zahlreiche Frauen- und Menschenrechtsverbände, einschließlich des djb, haben unisono, aber bislang erfolglos betont, effektiver Gewaltschutz dürfe nicht davon abhängen, in welchem Mitgliedstaat eine Frau lebe. Während das Thema in Frankreich viel mediale Aufmerksamkeit erfahren hat, wurde es in Deutschland kaum aufgegriffen.
Dieser Beitrag befasst sich mit der Kompetenzgrundlage aus europarechtlicher Perspektive. Er zeigt auf, dass die „erheblichen Zweifel“ des BMJ nicht verfangen und eine europaweite Harmonisierung des Vergewaltigungsstraftatbestands gemäß Art. 83 Abs. 1 AEUV möglich ist.
Vergewaltigung als sexuelle Ausbeutung i.S.d. Art. 83 Abs. 1 UA 2 AEUV
Art. 83 AEUV statuiert im Zuge des Prinzips der limitierten Einzelermächtigung eine Richtlinienkompetenz im materiellen Strafrecht für abschließend in Art. 83 Abs. 1 UA 2 AEUV aufgeführte Kriminalitätsbereiche. Kern der Auseinandersetzung ist die Frage, ob das Vergewaltigungsdelikt unter den Kriminalitätsbereich „Menschenhandel und sexuelle Ausbeutung von Frauen und Kindern“ gem. Art. 83 Abs. 1 UA 2 AEUV gefasst werden kann.
In dem Gutachten des JD-R wird ein sehr enges Verständnis der sexuellen Ausbeutung verfolgt. Der JD-R geht u.a. wegen einer vermeintlichen Verletzung des Grundsatzes der Nichtdiskriminierung bei frauenspezifischen Strafregelungen davon aus, dass die „sexuelle Ausbeutung von Frauen“ im Zusammenhang mit Menschenhandel stünde oder ein spezifischer Aspekt des Menschenhandels und damit restriktiv als Teilbereich des Menschenhandels mit dem Element der Ausbeutung als gemeinsamer Komponente zu interpretieren sei (Rn. 24, 25, 44). Mit dem Fokus auf die Ausbeutung umfasse der Begriff im Allgemeinen keine Straftaten, bei denen das wesentliche Tatbestandsmerkmal sexuelle Gewalt sei (Rn. 26, 44). Der JD-R trennt somit zwischen Ausbeutung und Gewalt und schließt Vergewaltigung, die als wesentliches Merkmal die fehlende Einwilligung habe und daher primär unter Gewalt zu fassen sei, vom Kriminalitätsbereich aus (vgl. Rn. 32).
Diesem Ergebnis ist nach einer rechtlichen Analyse des Begriffs der „sexuellen Ausbeutung“ zu widersprechen. Aufgrund des Mangels an einer (Legal-)Definition sowohl im internationalen als auch im europäischen Primärrecht ist er als autonomer Begriff des EU-Rechts auszulegen. Dafür sind nach ständiger Rechtsprechung des EuGH der Wortlaut, die Entstehungsgeschichte, der Zusammenhang der Vorschrift des Unionsrechts und das gesamte Unionsrecht sowie die mit der Vorschrift verfolgten Ziele zu berücksichtigen (Rn. 50). Insgesamt ist der Art. 83 Abs. 1 UA 2 insbesondere vor dem Hintergrund der völker- und europarechtlichen Praxis zu den Harmonisierungsinstrumenten auszulegen (Grabitz/Hilf/Nettesheim/Vogel/Eisele, AEUV Art. 83 Rn. 52; Schwarze/Becker/Hatja/Schoo/Böse, AEUV Art. 83 Rn. 9).
Wortlaut
Der Wortlaut lässt zunächst ein enges Begriffsverständnis der „sexuellen Ausbeutung“ anmuten, doch ist zu beachten, dass es sich bei den Kriminalitätsbereichen nicht um eine Aufzählung von Straftatbeständen i.e.S., sondern um Deliktsbereiche bzw. kriminologische Phänomene handelt (Streinz/Satzger, AEUV Art. 83 Rn. 13). Daher erfassen sie nicht nur einzelne Delikte, wie z.B. die Zwangsprostitution, sondern jeweils eine Gruppe strafbarer Handlungen. Ferner sind die Übergänge zwischen den Delikten, die Missbrauch als Form von Gewalt und/oder Ausbeutung betreffen, fließend. Sexualisierte Gewalt dürfte so nach dem Wortlaut nicht ausgeschlossen sein. Darüber hinaus halten mittlerweile moderne Rechtsinstrumente an einer strikten Trennung von sexueller Ausbeutung, sexuellem Missbrauch und Pornographie nicht mehr fest. Stattdessen werden sexuelle Ausbeutung und sexueller Missbrauch als eine gemeinsame Kategorie verstanden (beispielsweise hier und hier). Sexuelle Ausbeutung ist als übergreifender Begriff zu verstehen, unter welchem sich sexueller Missbrauch, Ausnutzen von Prostitution und Pornographie und damit große, über die Aspekte einer ökonomischen Ausbeutung hinausgehende, Teile des Sexualstrafrechts sammeln und harmonisieren lassen (Grabitz/Hilf/Nettesheim/Vogel/Eisele, AEUV Art. 83 Rn. 56).
Diese Auffassung vertritt auch der EU-Gesetzgeber. Insbesondere die EU-Richtlinie zur Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs und der sexuellen Ausbeutung von Kindern sowie der Kinderpornografie (Kindesmissbrauchs-RL) von 2011 wurde auf Grundlage des Kriminalitätsbereichs der „sexuellen Ausbeutung“ in Art. 83 Abs. 1 UA 2 AEUV erlassen. Sie harmonisiert nicht nur Straftatbestände wie die Kinderprostitution, sondern in Art. 3 umfassend auch Straftaten im Zusammenhang mit sexuellem Missbrauch, die über die wirtschaftliche Komponente deutlich hinausgehen. Dabei enthält die Richtlinie auch Vorschriften, bei denen der Schwerpunkt auf der Gewaltanwendung und der erzwungenen sexuellen Handlung liegt.
Entstehungsgeschichte
Des Weiteren legt die Entstehungsgeschichte des Art. 83 nahe, dass der sexuellen Ausbeutung ein vom Menschenhandel losgelöstes und weitergefasstes Verständnis zugrunde zu legen ist. In den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates von Tampere vom 15./16. Oktober 1999 wurde die Ausbeutung von Frauen noch als eine Komponente von Menschenhandel verstanden, indem der Kriminalitätsbereich als ein Bereich „Menschenhandel, insbesondere die Ausbeutung von Frauen, sexuelle Ausbeutung von Kindern“ definiert wurde. Im Verfassungsvertrag und danach im Lissabon-Vertrag hat sich aber letztlich der Wortlaut „Menschenhandel und sexuelle Ausbeutung von Frauen und Kindern“ niedergeschlagen (Rn. 13 ff.). Dieser Wandel zeugt davon, dass die sexuelle Ausbeutung von Frauen nicht mehr nur eine spezifische Form des Menschenhandels darstellt, sondern eigenständig und weiter gefasst werden und somit schwerpunktmäßig auch sexualisierte Gewalt, d.h. nicht-einvernehmliche sexuelle Handlungen, erfassen kann. Dies erkennt selbst der JD-R an (Rn. 17, 27).
Zusammenhang der Vorschrift und das gesamte Unionsrecht
Während der Verhandlungen zum RL-E haben die Kommissionsdienststellen als Argument für die Inklusion des Art. 5 RL-E auf die Definition der „sexuellen Ausbeutung“ des VN-Generalsekretariats hingewiesen. Danach erfasst sexuelle Ausbeutung als zentrale Elemente jeglichen tatsächlichen oder versuchten Missbrauch einer Situation der Vulnerabilität, eines Machtgefälles oder eines Vertrauensverhältnisses für sexuelle Zwecke, einschließlich, jedoch nicht beschränkt auf ein Erzielen wirtschaftlicher, sozialer oder politischer Vorteile.
Selbst wenn der JD-R diese Definition nicht für relevant erklärt (Rn. 29 Fn. 20), verkennt er, dass auch in zahlreichen EU-Instrumenten in enger Anlehnung an die VN-Definition ein weiteres Verständnis der „sexuellen Ausbeutung“ anzunehmen ist.
Zunächst zeigen die Menschenhandelsinstrumente, dass der Begriff der „Ausbeutung“ sich nicht auf die ökonomische Ausbeutung und damit die Prostitution beschränkt. So halten das Übereinkommen des Europarats zur Bekämpfung des Menschenhandels von 2005 sowie Art. 2 Abs. 3 der EU-Richtlinie zur Bekämpfung des Menschenhandels fest, dass die Ausbeutung mindestens die Ausnutzung der „Prostitution anderer oder andere Formen sexueller Ausbeutung“ (Hervorh. d. Verf.) umfasst.
Weiterhin zeigt die Kindesmissbrauchs-RL, dass sexuelle Ausbeutung sich zum einen schwerpunktmäßig über die Schutzbedürftigkeit durch bestimmte Ausnutzungsverhältnisse definieren kann, die geprägt sind von Machtgefällen, schwachen Positionen, u.a. aufgrund einer Abhängigkeitssituation, oder dem Missbrauch von Vertrauensverhältnissen (vgl. Tathandlungen des Art. 3 Abs. 5 i)-ii)). Dabei muss die Schutzbedürftigkeit nicht in der Person per se begründet sein, sondern kann schwerpunktmäßig auf dem Ausnutzungsverhältnis beruhen, insbesondere, weil diese Regelungen auch für ältere Kinder gelten, die das Alter der sexuellen Mündigkeit erreicht haben. Zum anderen sind nach Art. 3 Abs. 5 iii) und Art. 6 dieser Richtlinie sexuelle Handlungen unter Strafe zu stellen, wenn dabei Zwang, Gewalt oder Drohungen angewendet wurden oder Kinder dadurch zu sexuellen Handlungen mit Dritten veranlasst wurden. Demnach kann der Fokus einer „sexuellen Ausbeutung“ auch in einer aufgezwungenen sexuellen Handlung liegen, die nicht primär an die Schutzbedürftigkeit durch den Minderjährigenstatus, sondern an andere Faktoren, wie hier Zwang, Gewalt oder Drohung, anknüpft.
Nach diesem weiteren Verständnis der sexuellen Ausbeutung müssen auch Vergewaltigungen von Frauen unter „sexuelle Ausbeutung“ erfasst werden können. Während das sexuelle Element der Ausbeutung bei der Vergewaltigung offensichtlich ist, ist zwar die Vulnerabilität und Schutzbedürftigkeit von Kindern im Verhältnis zu Erwachsenen aufgrund des inhärenten Machtungleichgewichts durch ihre noch unausgereifte körperliche, geistige und seelische Entwicklung nicht gleichzusetzen mit der Vulnerabilität und Schutzbedürftigkeit von Frauen gegenüber ihren Täter:innen. Jedoch ist mit der Istanbul-Konvention völkerrechtlich anerkannt, dass geschlechtsspezifische Gewalt, darunter Vergewaltigungen, Ausdruck historisch gewachsener ungleicher Machtverhältnisse sind, die zur Diskriminierung der Frau durch den Mann und zur Verhinderung der vollständigen Gleichstellung der Frau geführt haben. Diese Gewalt hat strukturellen Charakter und dient als entscheidender sozialer Mechanismus, durch den Frauen in eine untergeordnete Position gegenüber Männern gezwungen werden. Diese strukturelle Diskriminierung und das Machtungleichgewicht sind somit nicht nur Ursachen von Vergewaltigungen, sondern sie ermöglichen sie auch. Darüber hinaus ist vergleichbar zentral, dass Vergewaltigungen häufig in einem Kontext geschehen, in dem die betroffene Person besonders vulnerabel ist. Die Vulnerabilität kann durch zahlreiche Faktoren bedingt sein. Auch wenn bei sexualisierter Gewalt richtigerweise als tatbestimmendes Merkmal auf eine fehlende Einwilligung abzustellen ist, geschehen insbesondere Vergewaltigungen häufig im Kontext von Zwang, Gewalt oder Drohungen, die eine besondere Vulnerabilität erzeugen. Weitere vulnerabilisierende Faktoren sind Drogen- oder Alkoholkonsum oder familiäre oder sonstige Abhängigkeitsverhältnisse, die einen besonderen Vertrauensbruch begründen und deshalb nach der Istanbul-Konvention sogar straferschwerend zu berücksichtigen sind (Erläuternder Bericht, Rn. 236). Insbesondere bei Vergewaltigungen ist daher sowohl das Machtungleichgewicht als auch das missbräuchliche Verhalten gegeben, wenn trotz eines fehlenden Einverständnisses als Ausdruck der Machtausübung und Kontrolle an der betroffenen Person sexuelle Handlungen vorgenommen werden. Gerade das Übergehen des fehlenden Einverständnisses verdeutlicht dabei das missbräuchliche Verhalten. Außerdem zählt die Kommission in Begründung des Richtlinienentwurfs als mögliche Vorteile für das ausbeuterische Element neben der Erlangung von Macht, Kontrolle oder Herrschaft auch die persönliche Befriedigung, einen potentiellen finanziellen Gewinn und/oder einen sozialen Aufstieg auf.
Ziele des Unionsrechts
Den Straftatbestand der Vergewaltigung als Ausdruck eines strukturellen Machtgefälles und der Geschlechterdiskriminierung unter den Bereich der „sexuellen Ausbeutung“ zu fassen, gebieten nicht zuletzt gebieten die Ziele und Werte des Unionsrechts. Nach Art. 2 und Art. 3 Abs. 3 UA 2 EUV sowie nach Art. 8, 10 und 19 AEUV sind die EU-Gesetzgeber:innen zur Bekämpfung von Diskriminierung und zur Förderung der Gleichstellung von Frauen und Männern verpflichtet. Auch ist die Kompetenznorm im Lichte der Grundwerte der Union, d.h. der Achtung der Menschenwürde, der Wahrung der Menschenrechte, der Gleichheit von Frauen und Männern sowie dem Grundsatz der Nichtdiskriminierung auszulegen. Ferner verankert Art. 21 Grundrechtecharta den Grundsatz der Nichtdiskriminierung wegen des Geschlechts und Art. 23 Grundrechtecharta den Grundsatz der Gleichheit von Frauen und Männern. Zudem hat sich die EU regelmäßig und wiederholt politisch dazu verpflichtet, geschlechtsspezifische Gewalt umfassend und effektiv zu bekämpfen. Nicht zuletzt heben die Erklärungen im Anhang der Schlussakte der Regierungskonferenz zu den Lissabon-Verträgen deutlich hervor, dass die EU alle Arten von häuslicher Gewalt bekämpfen will und dass die Mitgliedsstaaten „alle erforderlichen Maßnahmen ergreifen (sollen), um diese kriminellen Handlungen zu verhindern und zu bestrafen“ (Nr. 19).
Gemäß den o.g. Auslegungskriterien ist das Vergewaltigungsdelikt als schwerwiegende Form sexualisierter Gewalt unter den Begriff der „sexuellen Ausbeutung“ zu subsumieren. Dass die Harmonisierung der Vergewaltigung auf Grundlage des Kompetenztitels „sexuelle Ausbeutung von Frauen“ möglich ist, räumt im Übrigen selbst der JD-R explizit ein (Rn. 45).
Grenzüberschreitende Dimension i.S.d. Art. 83 Abs. 1 UA 1 AEUV
Bereits aus der Erfassung der Vergewaltigung unter den Kriminalitätsbereich der sexuellen Ausbeutung ist das Vorliegen der grenzüberschreitenden Dimension indiziert. Das ergibt sich unmittelbar aus dem Wortlaut des Art. 83 Abs. 1 AEUV. Dieser besagt, dass die Gesetzgebungsorgane der EU-Mindestvorschriften festlegen können, und zwar in „Bereichen besonders schwerer Kriminalität (…), die aufgrund der Art oder der Auswirkungen der Straftaten oder aufgrund einer besonderen Notwendigkeit, sie auf einer gemeinsamen Grundlage zu bekämpfen, eine grenzüberschreitende Dimension haben“. In Art. 83 Abs. 1 UA 2 folgt sodann eine Aufzählung derjenigen Bereiche, auf die diese Kriterien zutreffen: „Derartige Kriminalitätsbereiche sind: Terrorismus, Menschenhandel und sexuelle Ausbeutung von Frauen und Kindern (…)“ (Hervorh. d. Verf.).
Selbst wenn man dieser Auffassung nicht folgen und ein gesondertes Vorliegen der grenzüberschreitenden Dimension für erforderlich halten würde, ist diese zu bejahen.
Einer Kritik zufolge soll zwar die grenzüberschreitende Dimension allein bei einer Grenzüberschreitung im geographischen Sinne vorliegen. Vergewaltigungen stellten demnach weder faktisch noch rechtlich transnationale Kriminalität dar, denn häusliche Gewalt finde typischerweise zuhause statt. Gestützt wird diese Sicht maßgeblich auf das sog. Lissabon- Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 30. Juni 2009. Darin habe das BVerfG insbesondere für die „grenzüberschreitenden Dimension“ eine restriktive Auslegung verlangt. Auf diese Position scheint sich auch die Bundesregierung zurückzuziehen, wenn sie ihre Blockadehaltung zur Richtlinie mit der Gefahr eines „Dammbruchs“ begründet und die Folge in den Raum stellt, dass die Mitgliedstaaten ihre Kompetenzen im Strafrecht verlieren könnten.
Dem ist zunächst entgegenzuhalten, dass eine ganze Reihe von Konstellationen denkbar sind, in welchen Vergewaltigungen, nicht zuletzt durch Vorbereitungshandlungen (wie sog. grooming), aufgrund der Mobilität von Opfern wie Täter:innen oder aufgrund von Entwicklungen in der Strafverfolgung sogar im geographischen Wortsinne eine grenzüberschreitende Dimensionen haben (vgl. Abschn. 3.2. European Commission, Impact Assessment Report).
Zudem muss dieser physische Aspekt der grenzüberschreitenden Dimension nicht bei jeder einzelnen Deliktsbegehung vorliegen, um eine Harmonisierung des Tatbestands auf Art. 83 Abs. 1 AEUV zu stützen. So sieht es auch der EuGH. Er entschied im Varna-Urteil, dass die in diesem Fall anwendbare Richtlinie 2014/42/EU, die auf Art. 83 Abs. 1 AEUV beruht, auch dann Anwendung findet, wenn sich alle mit der Begehung einer Straftat verbundenen Tatumstände auf einen einzigen Mitgliedstaat beschränken und keinerlei geographische Grenzüberschreitung gegeben ist. Dabei ist auch bemerkenswert, dass ein explizit physisches grenzüberschreitendes Element für Deutschland bei anderen strafrechtlichen EU-Harmonisierungsvorhaben offenbar keinen besonders hohen Stellenwert hatte. So schienen insbesondere bei der Verabschiedung der auf Art. 83 Abs. 1 AEUV gestützten Kindesmissbrauchs-RL keine vergleichbaren Bedenken zu bestehen, wobei auch nicht jeder sexuelle Missbrauch eines Kindes eine grenzüberschreitende Dimension im geographischen Sinne hat.
Auch ein genauerer Blick in das Lissabon-Urteil zeigt, dass das BVerfG zwar eine restriktive Auslegung von Art. 83 AEUV bevorzugt, eine rein geographische Lesart der grenzüberschreitenden Dimension selbst jedoch nicht fordert. Das BVerfG fordert eine „strikt[e] – keinesfalls extensiv[e]“ Auslegung der Kompetenzgrundlagen in Bezug auf Straf- und Verfahrensnormen und begründet das damit, dass das Strafrecht nicht als rechtstechnisches Instrument zur Effektuierung einer internationalen Zusammenarbeit diene, sondern für die besonders sensible demokratische Entscheidung über das rechtsethische Minimum stehe (Rn. 358).
Explizit für Fälle, in denen die grenzüberschreitende Dimension maßgeblich auf das Kriterium der besonderen Notwendigkeit, Straftaten auf einer gemeinsamen Grundlage zu bekämpfen, gestützt wird, hält das BVerfG fest: „Eine solche besondere Notwendigkeit liegt nicht bereits dann vor, wenn die Organe einen entsprechenden politischen Willen gebildet haben. Sie lässt sich von Art und Auswirkungen der Straftat auch nicht trennen, da unerfindlich ist, woraus, wenn nicht aus der Art oder den Auswirkungen der betreffenden Straftaten, sich die besondere Notwendigkeit ihrer Bekämpfung auf gemeinsamer Grundlage ergeben sollte.“ (Rn. 359).
Das BVerfG verweist mithin lediglich darauf, dass ein rein politischer Wille nicht ausreiche. Die restriktive Haltung zu einem europäischen Strafrecht, die in der Lissabon-Entscheidung zum Ausdruck kommt, kann aber jedenfalls nicht dazu führen, das Kriterium „Bekämpfung auf gemeinsamer Grundlage“ ins Leere laufen zu lassen. Insbesondere, da die Historie von Art. 83 AEUV zeigt, dass mit diesem Kriterium sichergestellt werden sollte, dass die Union Maßnahmen gegen Verhaltensweisen erlassen kann, die sich gegen die Unionswerte als solche richten und die die Union deshalb nicht dulden kann (vgl. Grabitz/Hilf/Nettesheim/Vogel/Eisele, AEUV Art. 83 Rn. 43). Das BVerfG scheint somit vielmehr zu betonen, in Art. 83 Abs. 1 AEUV keine Blankoermächtigung zum Erlass von Strafnormen hineinzulesen.
Wie die obige Ausführung zu den Zielen und Grundwerten der EU aber gezeigt hat, lässt sich die effektive Bekämpfung von Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung von Frauen durch das RL-Vorhaben aber gerade nicht auf einen rein politischen Willen reduzieren. Somit ist die Voraussetzung der grenzüberschreitenden Dimension i.S.d. Art. 83 Abs. 1 AEUV gerade – wie vom BVerfG gefordert – aufgrund der Art und des Ausmaßes im Zusammenspiel mit der besonderen Notwendigkeit, Vergewaltigung EU-weit auf gemeinsamer Grundlage zu bekämpfen, gegeben. Auch dies sieht der JD-R in seinem Gutachten genauso: Das Notwendigkeitskriterium sei demnach zu bejahen, „for instance in view of their particular seriousness and the need to ensure an equivalent level of protection to persons enjoying the right of free movement within the EU“ (Rn. 51).
Ausblick
Die „Fortschrittskoalition“ der Bundesregierung hat sich den Schutz vor geschlechtsspezifischer Gewalt im Koalitionsvertrag auf ihre Fahnen geschrieben (S. 114). Umso unverständlicher ist es, dass sie mit ihrer Blockade die Verabschiedung der für den Gewaltschutz auf europäischer Ebene so wichtigen Richtlinie zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt gefährdet, und dabei gerade das Europarecht als vermeintliches Argument vorschiebt. Der Trilog Anfang Februar 2024 unter belgischer Ratspräsidentschaft ist die allerletzte Chance, noch vor der Europawahl im Juni 2024 eine Einigung über die Richtlinie zu erzielen. Wie dargelegt, spricht aus rechtlicher Sicht nichts gegen die Inkludierung des Vergewaltigungstatbestandes. Das Richtlinienvorhaben erfolgt nicht aus einer politischen Laune heraus, sondern aufgrund der dringenden und tatsächlichen Notwendigkeit von besserem Gewaltschutz für Frauen in Europa.
Können Sie sagen, von welchen Daten Sie für die Grundannahme des Artikels (“Geschlechtsspezifische Gewalt ist in der EU in den letzten Jahren dramatisch gestiegen”) ausgehen?
Wenn ich das richtig sehe, nennt das verlinkte Statista rund 19.300 Vergewaltigungen in Deutschland für 2021. Das BKA meldet nicht einmal die Hälfte (9.900).
Welche Zahlen haben Sie als Basis verwendet? Mich würde der Trend interessieren, der hier als dramatisch beschrieben wird.