19 July 2022

Die Documenta und die Grenzen der Kunstfreiheit

Nach dem Rücktritt der Documenta-Geschäftsführerin soll nunmehr in Ruhe besprochen werden, was schief gelaufen ist auf der Kunstausstellung in Kassel. Findet die Kunstfreiheit tatsächlich ihre Grenzen in dem Schutz gegen Antisemitismus, wie Kulturstaatsministerin Claudia Roth zitiert wird?  Zumindest in dieser Pauschalität trifft diese Aussage nicht zu.

Meinungsfreiheit

Meinungsäußerungen drücken sich in Wort, Schrift oder Bild aus und können dabei antisemitische Stereotypen enthalten. Ihre Grenzen sind weit gesteckt und müssen allgemeiner Art sein, dürfen sich also nicht gegen bestimmte Meinungen richten. Geschützt sind auch Meinungen, „die auf eine grundlegende Änderung der politischen Ordnung zielen, unabhängig davon, ob und wie weit sie im Rahmen der grundgesetzlichen Ordnung durchsetzbar sind. Das Grundgesetz vertraut auf die Kraft der freien Auseinandersetzung als wirksamste Waffe auch gegen die Verbreitung totalitärer und menschenverachtender Ideologien“.1) Erst wenn die Grenzen friedlicher Auseinandersetzungen überschritten werden, ist Schluss.

Das hat das BVerwG jüngst für Veranstaltungen bekräftigt, auf denen die Forderungen der palästinensischen BDS Bewegung gegenüber Israel zur Diskussion gestellt werden sollen. Solange von ihnen keine Störungen des öffentlichen Friedens zu erwarten sind, müssen Kommunen auch für sie Räume zur Verfügung stellen, sofern sie diese generell für Diskussionen gewidmet haben. Sie können das nicht mit den Hinweis auf (tatsächlichen oder vermeintlichen) israelbezogenen Antisemitismus der BDS-Forderungen verweigern. Dieser Schutz des Grundrechts entfalle erst „wenn Meinungsäußerungen die rein geistige Sphäre des Für-richtig-Haltens verlassen“, indem sie „den öffentlichen Frieden als Friedlichkeit der öffentlichen Auseinandersetzung gefährden und so den Übergang zu Aggression oder Rechtsbruch markieren“. Die Grenze besteht also nicht gegenüber der Meinungsäußerung, sondern gegenüber einer unfriedlichen Form, in der sie zum Ausdruck gebracht wird.2)

…und Kunstfreiheit

Genau mit dieser Friedlichkeitsgrenze argumentiert der Urheberrechtler Peter Raue.  Die Arbeit „People’s Justice“ des indonesischen Künstlerkollektivs Taring Padi sei „von der Meinungsfreiheit nicht gedeckt, sie scheitert selbst an den Schranken der Kunstfreiheit, und zwar krachend. Die Darstellung […] erfüllt in Gänze und ohne Zweifel den […] Tatbestand der Volksverhetzung. […Sie] hätte keine Sekunde auf der Documenta gezeigt werden dürfen“, so urteilt er im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung.3)

Kunstfreiheit eröffnet einen größeren Freiheitsraum als die Meinungsfreiheit. Anders als diese kann sie nicht schon durch allgemeine Gesetze, sondern nur durch die Verfassung selbst, insbesondere konkurrierende Grundrechte Dritter, beschränkt werden. Man muss sich über die Gründe für diese „Privilegierung“ der Kunst aufklären, um ihre Grenzen bestimmen zu können. Sie liegen in den Besonderheiten der Kunst gegenüber bloßen Meinungsäußerungen.

Der größere Freiheitsraum hat zunächst zur Folge, dass es dem Staat (Gesetzgebung, Justiz, Kulturverwaltung) verwehrt ist, die Grenze zwischen Kunst/Nicht Kunst zu definieren. Das wäre als „staatliches Kunstrichtertum“ ein Eingriff in die Eigengesetzlichkeit des Sachbereichs Kunst. Die Justiz muss aber einen Begriff von Kunst haben, wenn sie mit ihren Entscheidungen deren Freiheit garantieren und damit auch ihre Grenzen bestimmen soll. In diesem Dilemma4) behilft sie sich mit einem Ensemble verschiedener Zugänge, zu denen auch ein formaler oder struktureller Kunstbegriff gehört. Der stellt auf Merkmale im Kunstbereich evolutionär entstandener Gattungs- oder Werktypen ab (Roman, Theaterstück, Bilder u.a.), ohne damit deren selbstbestimmte Weiterentwicklung einzuschränken. Ein in sich abgeschlossener Katalog an Gattungstypen ist damit nicht verbunden, vielmehr bleibt auch das Entstehen neuer Werktypen möglich. Zu solchen, auf eine lange Tradition zurückgehenden Gattungen gehört auch der Werktypus politischer Agitationskunst („Agitprop“), dem das inkriminierte Banner zuzurechnen ist.

Liegt ein solcher Werktyp vor, ist der Aussagegehalt eines beanstandeten Werkes als Ausdruck der Kunstfreiheit in einer „kunstspezifischen Betrachtung“,5) also im Lichte seiner gattungsspezifischen Besonderheiten, zu beurteilen. Satire zum Beispiel darf, entgegen dem Ausspruch von Tucholsky, zwar nicht „alles“, aber mehr oder anderes als die bloße Meinungsäußerung, weil das Gattungsmerkmal „satirespezifische Zuspitzung“ mit der Erwartung verbunden ist, das Verständnis der Aussage bei den RezipientInnen zu relativieren. In dieser gattungstypischen Relativierung des Aussagegehaltes liegt der Grund für die Privilegierung der Kunst. Während der Textvergleich der beiden Absätze des Art. 5 GG deutlich macht, dass die Kunst privilegiert wird, wird in den gattungstypischen Verständnis der künstlerischen Aussage eines Werkes deutlich, warum das der Fall ist.6) Die verfassungsgerichtliche Kontrolle erstreckt sich deshalb auch auf die Frage, ob „das Werk anhand der der Kunst eigenen Strukturmerkmale beurteilt, also ‚werkgerecht‘ Maßstäbe angelegt, und auf dieser Grundlage die der Kunst gesetzten Schranken im einzelnen zutreffend gezogen“ werden.7)

Dass eine solche Sichtweise Risiken mit sich bringt, weil nicht alles, was rechtlich geschützt ist, auch kulturell ansprechend ist, wird an vielen Beispielen deutlich, nicht zuletzt an diversen Varianten von Mohammed-Karikaturen oder Gedichten über ausländische Staatspräsidenten. Aber auch schlechte Kunst ist Kunst: „Die Anstößigkeit der Darstellung nimmt ihr nicht die Eigenschaft als Kunstwerk. Kunst ist einer staatlichen Stil- oder Niveaukontrolle nicht zugänglich“.8) Dieser ursprünglich im Zusammenhang mit strafrechtlichen Verurteilungen entwickelte Gedanke gilt „auch bei anderen Entscheidungen von Staatsorganen […], wenn diese geeignet sind, über den konkreten Fall hinaus präventive Wirkungen zu entfalten“.9) Und darum geht es bei der Nacharbeitung der Ereignisse auf der Documenta.

Entscheidend für die Beurteilung, ob mit dem Banner „People‘s Justice“ des indonesischen Künstlerkollektivs Taring Padi (der Name bedeutet auf Indonesisch so viel wie „Die scharfe Kante des Reiskorns“10)) die Grenzen der Kunstfreiheit überschritten werden, sind jedenfalls nicht die zweifellos antisemitischen  Bildelemente mit ihren judenfeindlichen Stereotypen. Entscheidend ist, ob die Friedlichkeitsgrenze überschritten, also der Tatbestand der Volksverhetzung erfüllt ist. Und das hängt davon ab, wie man das Bild sieht, also seinen Wirkungen. Betrachtet man es als hier und jetzt wirksamen Angriff gegen Juden, der diese in ihrer Menschenwürde verletzt, sind die Grenzen der Kunstfreiheit in der Tat überschritten. Dafür bestehen allerdings hohe Hürden, da nach verfassungsrechtlichen Maßstäben „dem Begriff des öffentlichen Friedens ein eingegrenztes Verständnis zugrunde zu legen“ ist. Nicht dazu gehören der „Schutz vor subjektiver Beunruhigung der Bürger durch die Konfrontation mit provokanten Meinungen und Ideologien oder […] die Wahrung von als grundlegend angesehenen sozialen oder ethischen Anschauungen“. Sogar der Schutz vor einer „Vergiftung des geistigen Klimas“ –ein Musterbeispiel für von Antisemitismus ausgehende Wirkungen – stellt keinen Eingriffsgrund dar. Abzustellen ist auf „die Außenwirkungen von Meinungsäußerungen etwa durch Appelle oder Emotionalisierungen, die bei den Angesprochenen Handlungsbereitschaft auslösen oder Hemmschwellen herabsetzen oder Dritte unmittelbar einschüchtern“.11) Lässt sich das Bild hingegen auch als zeitgeschichtliches Dokument für eine postkolonialistische Sichtweise betrachten, die aus anderen zeitlichen und sachlichen Umständen als den deutschen stammt, müsste ihm keine unfriedliche Wirkung zugeschrieben werden. Jedenfalls ließe sich eine solche  – ähnlich wie im Fall der sogenannten „Judensau“ an der Kirche der Lutherstadt Wittenberg12) – durch eine multidirektionale Kontextualisierung einfangen. Für eine solche „kritische, aber vorsichtige Analyse“ des Banners schlägt Michael Rothberg der deutschen Öffentlichkeit vor, „eine ehrliche und offene Diskussion über Themen zu führen, die uns alle angehen: über Antisemitismus und Rassismus, über Kunst und Propaganda, über Kolonialismus und Völkermorde, über Israel und Palästina“.13) Das käme dem spezifischen Charakter der Kunstfreiheit als Kommunikationsgrundrecht entgegen, das durch die Bedeutungsoffenheit künstlerischer Aussagen gekennzeichnet ist, würde allerdings die Bereitschaft voraussetzen, dass „man den Bewohnern des globalen Südens erst einmal zuhört, ihre Geschichten zur Kenntnis nimmt, ihre Kultur respektiert und niemanden mit der eigenen ästhetischen und moralischen Besserwisserei belästigt“.14) Und im Sinne eines „We need to talk“ gilt das natürlich auch in umgekehrter Richtung.

Hält man beide Sichtweisen für möglich, ist die kunstfreiheitsfreundlichere Variante einer Beurteilung zugrunde zu legen, wie das BVerfG vor 38 Jahren anlässlich des „Anachronistischen Zuges“ (ebenfalls politisches Agitationstheater) entschieden hatte:  „Es geht jedenfalls nicht an, …sich mit Hilfe der Figur des ‚besonnenen Passanten‘ allein für die strafrechtlich relevante [Interpretation] zu entscheiden und nur auf einen flüchtigen, naiven Beobachter abzustellen […]. Auch darin liegt ein Verstoß gegen Art. 5 Abs. 3 GG.“15)

References

References
1 BVerfG 1 BvR 2150/08 v. 4. November 2009 -Juris – RN 50 („Wunsiedel“).
2 Mit dieser Begründung konnte es das VG Stuttgart (7 K 3169/21 v. 21. 04. 2022)  in einem ähnlichen  Fall „offenlassen, ob und inwieweit der Kläger antisemitische oder antiisraelische Meinungen oder Geisteshaltungen vertritt, unterstützt oder fördert“.
3 Peter Raue, Kommen wir nun zum Strafrecht. Sind die Skandalwerke auf der Documenta durch die Kunstfreiheit geschützt? Oder ist das Volksverhetzung? In: Süddeutsche Zeitung v. 24. Juni 2022 S. 11.
4 Näheres hierzu und weiteren Fragen bei F. Wittreck, in: H. Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, 3. Aufl., 2013, Art. 5 III (Kunst) RN 33-74.
5 BVerfG , Beschluss v. 13. Juni 2007, – 1 BvR 1783/05 -, Leitsatz 2 („Esra“).
6 Dazu L. Zechlin, Gerichtliche Verbote zeitkritischer Kunst, in: Kritische Justiz, 1982, 248 – 262 (253 f.).
7 BVerfGE 81, 2789 ff. 289 („Bundesflagge“); BVerfGE 81, 298 ff. („Bundeshymne“).
8 BVerfGE 81, 278 ff, 291 („Bundesflagge“).
9 BVerfGE 83, 130 ff.  146 („Bundesprüfstelle“,“ Josefine Mutzenbacher“).
10 Shany Littmann, Israelische Autorin: Antisemitismus-Streit verdeckt Wichtigeres, Berliner Zeitung v. 30.6.2022.
11 Alle Zitat aus dem Wunsiedel-Beschluss des BVerfG (Fn. 1) RN 76 –