Die Fakten wissen wollen
Wenn ich als Journalist über eine Person irgendwelche saftigen und der Öffentlichkeit bislang unbekannten Fakten enthüllen will, muss ich diese Person zuvor kontaktiert und mit diesen Fakten konfrontiert haben. Das gehört zu den elementarsten Grundsätzen meines Berufes. Das zu unterlassen ist ein absolutes No-No. Auch wenn die Versuchung bisweilen groß ist, sich den vermeintlich schon so glasklaren Scoop durch einen Anruf bei der anderen Seite nicht verkomplizieren zu lassen – man muss ihr widerstehen. Nicht nur aus Gründen der Fairness. Auch im eigenen Interesse. Dann weiß ich mehr und kann mich besser verteidigen, wenn es hinterher unangenehm wird. Ich will ja schließlich nichts schreiben, wofür ich mich zu schämen hätte.
In der vorletzten Woche hatte die Frankfurter Allgemeine Zeitung im Kontext des haarsträubenden Antisemitismus-Skandals der Documenta in Kassel einen solchen Scoop gelandet: Die Publizistin Emily Dische-Becker, die zurzeit als angebliche “Antisemitismus-Beraterin” der Documenta durch die Feuilletons (€) geschleift wird, habe eine dubiose Vergangenheit, enthüllte FAZ-Redakteurin Lena Bopp. Sie habe noch 2015 in Beirut bei einer libanesischen Zeitung gearbeitet, die die terroristische und der Vernichtung Israels verschworene Hizbullah unterstütze. “Der Hizbullah verbunden” stand als Ãœberschrift über dem Text (mittlerweile in der Online-Version abgeschwächt in “Schreiben in Hizbullah-Nähe“). Wow! Dass diese linken Israelkritiker alle irgendwie dem BDS nahestehen, hatte man ja eh unterstellt. Aber eine Terrororganisation wie Hizbullah!
Leider sieht es so aus, als sei das alles überhaupt nicht wahr. Emily Dische-Becker hatte, wie sie auf Twitter umgehend klar stellte, in Beirut für die damals einzige linke, unabhängige Zeitung im Libanon, Al-Akhbar, 2006 einen einzigen Artikel mitverfasst. Von 2010 bis 2012 war sie nebenher bei dem – redaktionell von der arabischsprachigen Zeitung unabhängigen – englischsprachigen Internetportal der Zeitung aktiv, und zwar als Researcherin für Wikileaks, für das Al-Akhbar der Partner für den arabischen Raum war. Erst 2011 kam ein neuer Chefredakteur ins Amt und drehte nach dem Aufstand gegen Assad in Syrien das Blatt auf Hizbullah-Linie. Vorangegangen war ein heftiger innerredaktioneller Konflikt darüber, dass das Blatt gegenüber Hizbullah und Assad immer parteiischer und unkritischer wurde. Daraufhin war sie im Streit geschieden und hatte 2012 enttäuscht über die Aufsplitterung der libanesischen Linken in Assad-Gegner und -Unterstützer Beirut verlassen.
Das hat mir Emily Dische-Becker, übrigens selbst Jüdin (was Lena Bopp nach Auskunft der FAZ-Feuilletonleitung “selbstverständlich” wusste, aber in ihrem Artikel nicht erwähnte), ausführlich am Telefon dargelegt und erscheint mir in seinen wesentlichen Eckpunkten durch eidesstattliche Versicherungen aus der damaligen Al-Akhbar-Redaktion gut belegt. Das hätte auch FAZ-Redakteurin Lena Bopp erfahren, wenn sie Emily Dische-Becker kontaktiert hätte. Hat sie aber nicht.
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Da müsste Lena Bopp aber mächtig Ärger gekriegt haben, sollte man meinen. Einer Zeitung wie der FAZ, so steht es auf ihrer Website unter “Unser Selbstverständnis“, müsse den Gründern des Blatts 1949 zufolge “‘die Wahrheit der Tatsachen heilig sein. Und sie müsste auch Andersmeinenden gegenüber immer Gerechtigkeit walten lassen.’ Heute, rund 70 Jahre später”, heißt es weiter, “gelten diese Grundsätze nach wie vor”. Ich habe extra noch mal bei der Pressestelle der FAZ nachgefragt, wie es aussieht mit dem Grundsatz bei der FAZ, Personen, über die berichtet wird, vorab zu kontaktieren und anzuhören. Die Antwort: “Die Frankfurter Allgemeine Zeitung steht seit Jahrzehnten für Qualitätsjournalismus. Sie nimmt die journalistische Sorgfaltspflicht ernst. Die F.A.Z.-Redaktion ist den Regeln journalistischer Professionalität verpflichtet.” Vom Geschäftsführer des Deutschen Presserats Roman Portnack habe ich mir bestätigen lassen, dass das Anhören der Gegenseite Teil der journalistischen Sorgfaltspflicht und Gebot der Fairness ist. Dass es da gar kein Vertun gibt.
Lena Bopps oberster Chef, Feuilleton-Herausgeber Jürgen Kaube, hat unterdessen, anstatt seine Redakteurin in den Senkel zu stellen, selbst zur Feder gegriffen. “Manifest unwahr” (€) lautet die Ãœberschrift seines Artikels, und das bezieht sich mitnichten auf den Text von Lena Bopp, den er vielmehr auf das Väterlichste in Schutz nimmt, sondern wiederum auf Positionen von Emily Dische-Becker und ihrer Verteidiger. Ein beliebter Move heutzutage. Er nennt sich, glaube ich, Täter-Opfer-Umkehr.
Nun könnte man sagen: Du liebe Zeit, es gibt Schlimmeres, beim Thema Antisemitismus gehen halt die Emotionen hoch, da ist doch so ein taktisches Foul nichts so Ungewöhnliches.
Mir fällt das nicht so leicht. Normen wie das Gebot, die Gegenseite anzuhören, sind viel mehr als bloße Standards guter Berufspraxis. Sie haben eine Verfassungsdimension. Sie tragen dazu bei, dass man sich in einer freien, demokratischen und vielfältigen Gesellschaft auf eine gemeinsame Wirklichkeit verständigen kann, und so diese freie, demokratische und vielfältige Gesellschaft überhaupt erst dauerhaft möglich zu halten. Sie sind Teil der Bedingung der Möglichkeit, über diese Wirklichkeit, ihre Beschreibung und ihre Bewertung unterschiedlicher Meinung zu sein und darüber miteinander zu streiten. Deshalb steht die Presse, genau wie Justiz, Kunst, Wissenschaft, unter besonderem verfassungsrechtlichem Schutz. Ihre Berufsethik ist natürlich keine formelle Verfassungsnorm, aber sie ist Bestandteil des Geflechts von Konventionen und Fairnessregeln, das jede geschriebene oder ungeschriebene demokratische Verfassung zum Gedeihen braucht.
Nicht kurios
Das Problem ist nicht so sehr, dass Lena Bopps Artikel voller Halb- und Unwahrheiten steckt. Das ist übel genug, aber gottja, passiert. Das Problem ist, dass sie sich für die Frage, was sich da in Beirut vor zehn Jahren in Wirklichkeit zugetragen hat, anscheinend kein bisschen interessiert. Auch jetzt noch nicht.
Ich habe Lena Bopp, nachdem sie auf meine Bitte um ein Telefongespräch nicht reagiert hatte, eine Mail mit sechs Fragen geschickt. Warum, wollte ich etwa von ihr wissen, nennt sie jenen Artikel von 2006, den einzigen, den Dische-Becker je für Al-Akhbar geschrieben hat, eine “Ausnahme”? Wovon? Warum nennt sie es “kurios”, dass nur dieser Artikel im Internet zu finden ist? Geantwortet hat mir eine Assistentin im Namen der Redaktionsleitung des FAZ-Feuilletons, und zwar mit folgender Auskunft: “Von jemandem, der über einen längeren Zeitraum in verantwortlicher Redakteursposition gearbeitet hat, nur einen einzigen Artikel zu finden, ist kurios.” Oho! Die Schlussfolgerung einfach mal flugs zur Prämisse gemacht. Da kommt einem natürlich die ganze Welt schnell kurios vor, wenn man so vorgeht. Aber hat Kuriosität nicht vielleicht ein bisschen was mit Neugier zu tun? Vielleicht einfach mal nachfragen? Nach Auskunft von Emily Dische-Becker hat sich bis heute von der FAZ niemand bei ihr gemeldet.
Ich habe auch direkt gefragt, ob sich Lena Bopp an die Norm, Personen, über die sie berichtet, Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben, für sich und ihre journalistische Arbeit gebunden fühlt, und, falls ja, nach welchen Kriterien sie entschieden hat, davon hier eine Ausnahme zu machen. Statt einer Antwort kam eine “Gegenfrage: Gibt es beim Verfassungsblog die Norm, Personen über deren Handlungen berichtet wird (z.B. Tiziana Chiusi, Ursula von der Leyen, Georg Thiel), vorab zu kontaktieren und anzuhören?” Die ist wiederum sehr schnell beantwortet. Wenn wir uns auf Grundlage unstrittiger und allgemein bekannter Tatsachen an Debatten beteiligen (Chiusi), die Politik von Politiker_innen kommentieren (von der Leyen) oder uns aus Anlass einer öffentlichen Anhörung Gedanken über ein bestimmtes Regierungsamt machen (Thiel), dann nein, wozu auch? Wenn wir dagegen, was nicht unser Metier ist und eher selten vorkommt (hier zum Beispiel), über jemanden Fakten enthüllen, dann würde ich die Frage mit Emphase bejahen. Gut, ich will nicht hochmütig sein, Fehler passieren, und sollten uns beim Verfassungsblog im Lauf der Jahre irgendwo welche unterlaufen sein, dann möge uns der Annette-Schavan-Dämon strafen. Aber wenigstens wären wir damit in höchstem Grade beschämbar. Während der Redaktionsleitung des FAZ-Feuilletons das einfach mal alles komplett wumpe zu sein scheint.
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Mein Freund und Schwager Stephan Detjen hat den Vorgang, sehr zum Verdruss von Jürgen Kaube, mit der McCarthy-Ära verglichen. Da ist was dran. Aber noch mehr scheint mir sich ein zeitgenössischeres US-Phänomen als Vergleichsmaßstab aufzudrängen: Trump. Tucker Carlson. Fox News.
Da sind wir mittlerweile, Leute. Und die Ironie, dass ein digitales Medium wie wir, das das Wort “Blog” im Namen führt, über diesen Sittenverfall die Hände ringt, dieweil sich das einstige konservative Leitmedium der Bundesrepublik aufführt wie der letzte Twitter-Troll, nein, die ist mir nicht entgangen.
Die Woche auf dem Verfassungsblog
Diese Woche, am 26. und 27. Juli verhandelte das Bundesverfassungsgericht das „Eigenmittelbeschluss-Ratifizierungsgesetz“ (ERatG). Die politischen Entscheidungen, die in Gestalt des Wiederaufbaufonds „Next Generation EU“ in rechtliche Form gegossen wurden, trafen dabei auf alte Rechtsfragen. RUTH WEBER berichtet.
Nach dem Urteil des Obersten US-Gerichtshofs zum Ende des durch die Verfassung garantierten Rechts auf Abtreibung haben Facebook und Instagram fast sofort damit begonnen, Beiträge zu entfernen, die über den Zugang zu Abtreibungspillen informieren. ALEKSANDRA KUCZERAWY und LIDIA DUTKIEWICZ werfen einen Blick darauf, wie der EU Digital Services Act die Zensur durch Social-Media-Plattformen verhindern kann.
Kai Ambos hatte kürzlich hier argumentiert, dass das Europarecht mit Blick auf die geplante Entkriminalisierung des Cannabiskonsums „die völkerrechtlichen Vorgaben im Wesentlichen“ nachvollzieht. Robin Hofmann widersprach und zwar unter Hinweis auf Art. 71 Abs. 2 SDÜ und den Beitritt der EU zur Wiener Drogenkonvention von 1988. Darauf reagiert KAI AMBOS nun mit einer Replik: Die vorgebrachte Argumentation greife europarechtlich zu kurz und ändere in der Sache an der Dominanz der völkerrechtlichen Abkommen nichts.
Auf die Kritik von Michał Stambulski und Karol Muszyński an dem, was sie für die Mängel des „doctrinal constitutionalism“ vieler Rechtswissenschaftler_innen halten, die den Zustand der Rechtsstaatlichkeit in Polen attackieren, antwortet DARREN HARVEY und kritisiert, dass die Autoren an keiner Stelle definieren, was sie mit diesem Begriff meinen, und bemängelt, dass sie keine alternativen Lösungen für eine Krise der Rechtsstaatlichkeit anbieten, die die Autoren selbst als Problem anerkennen.
Anfang dieses Monats hat der britische High Court in aller Stille eine wegweisende Entscheidung gefällt, die den Kurs der britischen Klimapolitik in den kommenden Jahrzehnten stark beeinflussen wird. CATHERINE HIGHAM und JOANA SETZER sehen die Entscheidung als einen wichtigen Sieg im Kontext einer weltweit wachsenden Zahl von Fällen im Kampf gegen den Klimawandel.
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A Pandemic of Populists – Wojciech Sadurski
Over the last decade, the world has watched in shock as populists swept to power in free elections. From Manila to Warsaw, Brasilia to Budapest, the populist tide has shattered illusions of an inexorable march to liberal democracy. The book highlights the variety of constitutional (and anti-constitutional) strategies that populists in power have used to undermine the institutional fabric of democracy. Wojciech Sadurski offers a vibrant, contemporary account of modern populisms and, significantly, considers what we can do to fight back. Paperback discount price: £18.39, $ 23.99.
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Soweit für diese Woche. Unsere Sommeraktion, andere Autor_innen an dieser Stelle zu Wort kommen zu lassen, haben wir nur unterbrochen, aber noch nicht beendet. Ich melde mich dann in ein paar Wochen wieder.
Bis dahin und vielen Dank für Ihre Unterstützung!
Ihr
Max Steinbeis
Vielen Dank für diese wichtige Recherche zur Entstehung des FAZ-Artikels, der mir auch schon negativ aufgestoßen war. Zwar muss nicht hinter jedem Beitrag ein kluger Kopf stecken. Aber wenn es in der Redaktion tatsächlich Methode haben sollte, journalistische Standards zu schleifen und allein Kritik, nicht aber Selbstkritik zu forcieren, ist dies ein Grund, die FAZ nach mehr als 30 Jahren nun abzubestellen.