Zur völkerrechtlichen Zulässigkeit der Cannabis-Entkriminalisierung
Erlaubt das völkerrechtliche Drogenkontrollregime die von der Bundesregierung geplante Entkriminalisierung des Cannabis-Konsums im Sinne der im Koalitionsvertrag geforderten „kontrollierte[n] Abgabe von Cannabis an Erwachsene zu Genusszwecken in lizenzierten Geschäften“?1) Die Antwort ist nicht so „eindeutig“ (negativ), wie mitunter suggeriert wird.2) Ein genauerer Blick in die einschlägigen Verträge sowie die jüngere Staatenpraxis ergibt, dass es entscheidend darauf ankommt, wie eine liberalere Cannabis-Politik konkret ausgestaltet wird. Im Ergebnis steht das Völkerrecht – trotz des evidenten Spannungsverhältnisses zwischen seinem überaus prohibitiven Drogenkontrollregime und einer liberalen Drogenpolitik – einer Entkriminalisierung nicht entgegen, wenn die „kontrollierte Abgabe von Cannabis“ ausschließlich zum Eigenkonsum erfolgt. Das schließt staatlich kontrollierten Anbau bzw. Produktion zur so zweckbestimmten Abgabe ein, denn andernfalls stünde die Entstehung bzw. Perpetuierung eines kriminellen Angebotsmarkts wie in den Niederlanden zu befürchten. Wer allerdings jegliche Auseinandersetzung mit den völkerrechtlichen Drogenkontrollorganen vermeiden will, sollte kurzfristig über Ausstiegsszenarien nachdenken und mittel- bis langfristig über grundlegende Reformen.
Umfassende völkerrechtliche Prohibition und Kriminalisierung
Die Geschichte der völkerrechtlichen Regulierung von Drogen ist die Geschichte ihrer Prohibition mit zunehmenden Kriminalisierungstendenzen.3) Das gegenwärtige völkerrechtliche Kontrollsystem beruht auf drei Konventionen, nämlich dem Einheits-Übereinkommen über Suchtstoffe von 1961 in seiner 1972 geänderten Fassung (Single Convention on Narcotic Drugs, [im Folgenden ‘EinheitsÜbk.‘]), dem Übereinkommen über psychotrope Stoffe von 1971 (Convention on Psychotropic Substances [‘Übk. 1971‘])4) und dem UN-Übereinkommen gegen den unerlaubten Verkehr mit Suchtstoffen und psychotropen Stoffen von 1988 (UN Convention against Illicit Traffic in Narcotic Drugs and Psychotropic Substances [‘Übk. 1988‘]).5) Der völkervertragliche Rahmen wird institutionell durch mehrere Gremien abgesichert, wobei der „Suchtstoffkommission“ (Commission on Narcotic Drugs, CND), einem Unterorgan des ECOSOC, und dem „Internationalen Suchtstoff-Kontrollamt“ (International Narcotics Control Board, INCB), einem schon vom EinheitsÜbk. eingerichteten Vertragskontrollgremium,6) besondere Bedeutung zukommen. Sie werden vom übergreifenden UN Büro für Drogen- und Verbrechensbekämpfung (UN Office on Drugs and Crime, UNODC), das 2002 das frühere UN Drogenkontrollprogramm (UN Drug Control Programme, UNDCP) in sich aufgenommen hat, unterstützt.7)
Die Abgabe zum Eigenkonsum wird explizit nur in Art. 3 Abs. 2 Übk. 1988 geregelt. Danach sind die Vertragsstaaten dazu verpflichtet, den Besitz (sowie den Kauf und Anbau) der erfassten Betäubungsmittel zum „persönlichen Konsum“ („for personal consumption“) straftatbestandlich zu kodifizieren, allerdings vorbehaltlich der „Verfassungsgrundsätze“ und „Grundzüge ihrer Rechtsordnung“ („subject to its constitutional principles and the basic concepts of its legal system“). Demgegenüber enthält Art. 4 c) EinheitsÜbk. nur die allgemeine Verpflichtung, jeglichen Verkehr von „Suchtstoffen“ auf medizinische und wissenschaftliche Zwecke8) zu beschränken („… to limit exclusively to medical and scientific purposes the production, manufacture … and possession of drugs.“);9) ähnlich sieht Art. 5 Übk. 1971 eine Verwendungsbeschränkung auf medizinische und wissenschaftliche Zwecke vor. Mit Blick auf Kriminalisierungs- und Sanktionsverpflichtungen bestimmt Art. 36 Abs. 1 a) EinheitsÜbk., dass die genannten Tathandlungen, wenn vorsätzlich begangen, zu kriminalisieren („punishable offences“) und „schwere Verstöße“ („serious offences“) „angemessen zu ahnden“ („adequate punishment“) sind, wobei allerdings auch insoweit ein Verfassungsvorbehalt („vorbehaltlich ihrer Verfassungsordnung“, „subject to its constitutional limitations“) anerkannt wird; ebenso sieht Art. 22 Abs. 1 a) Übk. 1971 eine Kriminalisierung „vorbehaltlich“ der jeweiligen „Verfassungsordnung“ vor, spezifiziert aber die einzelnen Tathandlungen nicht.
Das Unionsrecht vollzieht die völkerrechtlichen Vorgaben im Wesentlichen nach,10) wobei allerdings der Schwerpunkt auf der Bekämpfung des Handels liegt und der Eigenkonsum privilegiert wird. So soll nach Art. 2 Abs. 2 Rahmenbeschluss 2004/757/JI von einer Kriminalisierung der in Art. 2 Abs. 1 genannten Tathandlungen (u.a. Besitz und Kauf) bei Begehung zum Zwecke des ausschließlich „persönlichen Konsums“ abgesehen werden.11)
(Verfassungsrechtliche) Restriktion des völkerrechtlichen Verbotsregimes
Die Abkommen sind sozialhistorisch zu kontextualisieren, sei es als Ausdruck der zunehmenden Repression ihrer Zeit („Drogenkrieg“), als Antwort auf ausuferndes Konsumverhalten oder aus sonstigen Gründen. Dabei ist insbesondere das EinheitsÜbk. aus der Zeit gefallen, ein Produkt der 1940er und 1950er Jahre, in denen einige wenige Staaten die ausnehmend prohibitive Marschrichtung der internationalen Drogenpolitik vorgaben.12) Das zeigt sich etwa daran, dass dieses Abkommen nicht zwischen „weichen“ und „harten“ Drogen differenziert und Cannabis in seinen Anhängen I und IV dem strengsten Kontrollregime, gleich Kokain und Heroin, unterworfen hat. Aus heutiger Sicht ist diese Gleichbehandlung unhaltbar13) und fordert – jedenfalls bezüglich Cannabis – eine möglichst restriktive Auslegung des vom EinheitsÜbk. vorgesehenen Verbotsregimes. Die CND hat Cannabis zwar Ende 2020 aus Anhang IV herausgenommen, doch die prohibitive Position bezüglich nicht-medizinischem und -wissenschaftlichem Gebrauch beibehalten.14)
Ebenso undifferenziert ist die Gleichbehandlung aller denkbaren Tathandlungen – von der Produktion bis zum Besitz – durch die oben zitierten Vorschriften des EinheitsÜbk. Im Kern soll damit jeglicher Verkehr der erfassten Drogen untersagt werden, solange er nicht durch medizinische oder wissenschaftliche Zwecke gerechtfertigt ist.15) Was den Besitz angeht, so wird – erneut undifferenziert – nicht nach Zweck bzw. Finalität unterschieden – Besitz zum Eigenkonsum vs. Besitz zur Weiterverbreitung o.ä. – sondern unterschiedslos jeder, nicht medizinisch oder wissenschaftlich gerechtfertigte Besitz verboten. Aus diesem großflächigen Metaverbotsregime folgern die amtlichen Kontrollorgane bis heute, dass generell jede innerstaatliche Liberalisierung, auch wenn sie sich nur auf Eigenkonsum richtet, verboten ist.16)
Dem ist aus mehreren Gründen zu widersprechen. Erstens war schon bei Verabschiedung des EinheitsÜbk. umstritten,17) ob Art. 4 c) auch eine Kriminalisierungspflicht bezüglich des Besitzes zum Eigenkonsum enthält, wird doch nur auf den Besitz im Allgemeinen Bezug genommen; die Frage war auch bezüglich Art. 22 (1)(a) Übk. 1971 umstritten.18) Zweitens steht jedenfalls die Kriminalisierungsverpflichtung aufgrund Art. 36 Abs. 1 a) unter einem Verfassungsvorbehalt, kann also solche Vertragsstaaten nicht binden, die aus verfassungsrechtlichen Gründen – allgemeine Handlungsfreiheit – die Kriminalisierung des Besitzes zum bloßen Eigenkonsum ablehnen; dieser Vorbehalt wird in Art. 36 Abs. 2 (bzgl. Beteiligung etc.) sogar auf das „Rechtssystem“ im Allgemeinen und innerstaatliche Rechtsvorschriften erweitert. Drittens sind die Abkommen nicht self-executing, den Vertragsstaaten verbleibt ein erheblicher Handlungsspielraum, um die erforderlichen „Maßnahmen“ zu ergreifen;19) Nichteinmischung und Achtung des nationalen Rechts wird betont.20) Last but not least ist die Kriminalisierung des bloßen Besitzes rechtsstaatlich problematisch:21) Zum einen stellt sie eine Vorverlagerung der Strafbarkeit dar, die – gerade bei per se ungefährlichen Gegenständen – besonderer Rechtfertigung bedarf; zum anderen verstößt sie als Kriminalisierung eines bloßen Zustands gegen den Grundsatz, dass strafrechtliche Verantwortlichkeit auf einem bestimmten menschlichen Verhalten (Tun oder Unterlassen) beruhen muss.22)
Die undifferenzierte Gleichbehandlung des EinheitsÜbk. wird durch das Übk. 1988 überwunden, denn dieses unterscheidet zwischen schwer(er)en Tathandlungen (Produktion, Herstellung bis zum Großhandel) und damit zusammenhängenden Besitz (Art. 3 Abs. 1a)) und dem bloßen Besitz (sowie Kauf und Anbau) zum Eigenkonsum (Art. 3 Abs. 2).23) Die gesonderte Regelung des Eigenkonsums ist dabei eine Konsequenz des oben erwähnten Streits um dessen Kriminalisierung.24) Die Systematik von Art. 3 zeigt, dass primär schwerere Tathandlungen als der bloße Besitz (sowie Kauf und Anbau) zum Eigenkonsum einer Kriminalisierungs- und Sanktionsverpflichtung unterworfen werden sollen. Das folgt nicht nur aus einem Vergleich von Abs. 1 a) und Abs. 2 bezüglich der erfassten Tathandlungen, sondern auch aus den Sanktionsanordnungen in Abs. 4, denn dort wird zwischen schwereren Sanktionen (Freiheits- und Geldstrafe) für schwerere Taten i.S.v. Abs. 1 (Abs. 4 a)) und eher präventiv-gesundheitsorientierten Maßnahmen „anstelle der … Bestrafung“ bei „weniger schwere[n]“ Taten (Abs. 4 c)) differenziert.25) Diese differenzierte Herangehensweise spiegelt sich auch im UN Kommentar wieder, der u.a. eine Abstufung der Deliktsschwere über einen objektiven Schwellenwert, z.B. die Drogenmenge, begrüßt.26)
Darüber hinaus greift der genannte Verfassungsvorbehalt und es ist auf „Grundzüge“ der betreffenden nationalen Rechtsordnung Bedacht zu nehmen. Damit stößt eine völkerrechtliche Kriminalisierungspflicht, sollte man eine solche bei Eigenkonsum (weicher Drogen) nach den bisherigen Ausführungen überhaupt noch annehmen, jedenfalls an die nationalen Grenzen der Verfassung und sogar nachrangiger Rechtsgrundsätze. Konkret bedeutet dies, dass Staaten, die den Eigenkonsum von der allgemeinen Handlungsfreiheit geschützt sehen und damit jedenfalls ein strafbewehrtes Verbot für verfassungswidrig halten, nicht völkerrechtlich zu einer solchen Kriminalisierung verpflichtet werden können. Dabei geht das Übk. 1988 insoweit weiter als das EinheitsÜbk., als es nicht nur entgegenstehendem Verfassungsrecht, sondern auch den besagten Rechtsgrundsätzen Rechnung trägt.27) Zu diesen hat die Bundesregierung im Zuge ihrer Ratifikation des Übk. 1988 im November 1993 die interpretative Erklärung abgegeben, dass „die genannten Grundzüge der Rechtsordnung einem Wandel unterliegen.“