20 Mai 2022

Zur völkerrechtlichen Zulässigkeit der Cannabis-Entkriminalisierung

Erlaubt das völkerrechtliche Drogenkontrollregime die von der Bundesregierung geplante  Entkriminalisierung des Cannabis-Konsums im Sinne der im Koalitionsvertrag geforderten „kontrollierte[n] Abgabe von Cannabis an Erwachsene zu Genusszwecken in lizenzierten Geschäften“?1) Die Antwort ist nicht so „eindeutig“ (negativ), wie mitunter suggeriert wird.2) Ein genauerer Blick in die einschlägigen Verträge sowie die jüngere Staatenpraxis ergibt, dass es entscheidend darauf ankommt, wie eine liberalere Cannabis-Politik konkret ausgestaltet wird. Im Ergebnis steht das Völkerrecht – trotz des evidenten Spannungsverhältnisses zwischen seinem überaus prohibitiven Drogenkontrollregime und einer liberalen Drogenpolitik – einer Entkriminalisierung nicht entgegen, wenn die „kontrollierte Abgabe von Cannabis“ ausschließlich zum Eigenkonsum erfolgt. Das schließt staatlich kontrollierten Anbau bzw. Produktion zur so zweckbestimmten Abgabe ein, denn andernfalls stünde die Entstehung bzw. Perpetuierung eines kriminellen Angebotsmarkts wie in den Niederlanden zu befürchten. Wer allerdings jegliche Auseinandersetzung mit den völkerrechtlichen Drogenkontrollorganen vermeiden will, sollte kurzfristig über Ausstiegsszenarien nachdenken und mittel- bis langfristig über grundlegende Reformen.

Umfassende völkerrechtliche Prohibition und Kriminalisierung

Die Geschichte der völkerrechtlichen Regulierung von Drogen ist die Geschichte ihrer Prohibition mit zunehmenden Kriminalisierungstendenzen.3) Das gegenwärtige völkerrechtliche Kontrollsystem beruht auf drei Konventionen, nämlich dem Einheits-Übereinkommen über Suchtstoffe von 1961 in seiner 1972 geänderten Fassung (Single Convention on Narcotic Drugs, [im Folgenden ‘EinheitsÜbk.‘]), dem Übereinkommen über psychotrope Stoffe von 1971 (Convention on Psychotropic Substances [‘Übk. 1971‘])4) und dem UN-Übereinkommen gegen den unerlaubten Verkehr mit Suchtstoffen und psychotropen Stoffen von 1988 (UN Convention against Illicit Traffic in Narcotic Drugs and Psychotropic Substances [‘Übk. 1988‘]).5) Der völkervertragliche Rahmen wird institutionell durch mehrere Gremien abgesichert, wobei der „Suchtstoffkommission“ (Commission on Narcotic Drugs, CND), einem Unterorgan des ECOSOC, und dem „Internationalen Suchtstoff-Kontrollamt“ (International Narcotics Control Board, INCB), einem schon vom EinheitsÜbk. eingerichteten Vertragskontrollgremium,6) besondere Bedeutung zukommen. Sie werden vom übergreifenden UN Büro für Drogen- und Verbrechensbekämpfung (UN Office on Drugs and Crime, UNODC), das 2002 das frühere UN Drogenkontrollprogramm (UN Drug Control Programme, UNDCP) in sich aufgenommen hat, unterstützt.7)

Die Abgabe zum Eigenkonsum wird explizit nur in Art. 3 Abs. 2 Übk. 1988 geregelt. Danach sind die Vertragsstaaten dazu verpflichtet, den Besitz (sowie den Kauf und Anbau) der erfassten Betäubungsmittel zum „persönlichen Konsum“ („for personal consumption“) straftatbestandlich zu kodifizieren, allerdings vorbehaltlich der „Verfassungsgrundsätze“ und „Grundzüge ihrer Rechtsordnung“ („subject to its constitutional principles and the basic concepts of its legal system“). Demgegenüber enthält Art. 4 c) EinheitsÜbk. nur die allgemeine Verpflichtung, jeglichen Verkehr von „Suchtstoffen“ auf medizinische und wissenschaftliche Zwecke8) zu beschränken („… to limit exclusively to medical and scientific purposes the production, manufacture … and possession of drugs.“);9) ähnlich sieht Art. 5 Übk. 1971 eine Verwendungsbeschränkung auf medizinische und wissenschaftliche Zwecke vor. Mit Blick auf Kriminalisierungs- und Sanktionsverpflichtungen bestimmt Art. 36 Abs. 1 a) EinheitsÜbk., dass die genannten Tathandlungen, wenn vorsätzlich begangen, zu kriminalisieren („punishable offences“) und „schwere Verstöße“ („serious offences“) „angemessen zu ahnden“ („adequate punishment“) sind, wobei allerdings auch insoweit ein Verfassungsvorbehalt („vorbehaltlich ihrer Verfassungsordnung“, „subject to its constitutional limitations“) anerkannt wird; ebenso sieht Art. 22 Abs. 1 a) Übk. 1971 eine Kriminalisierung „vorbehaltlich“ der jeweiligen „Verfassungsordnung“ vor, spezifiziert aber die einzelnen Tathandlungen nicht.

Das Unionsrecht vollzieht die völkerrechtlichen Vorgaben im Wesentlichen nach,10) wobei allerdings der Schwerpunkt auf der Bekämpfung des Handels liegt und der Eigenkonsum privilegiert wird. So soll nach Art. 2 Abs. 2 Rahmenbeschluss 2004/757/JI von einer Kriminalisierung der in Art. 2 Abs. 1 genannten Tathandlungen (u.a. Besitz und Kauf) bei Begehung zum Zwecke des ausschließlich „persönlichen Konsums“ abgesehen werden.11)

(Verfassungsrechtliche) Restriktion des völkerrechtlichen Verbotsregimes

Die Abkommen sind sozialhistorisch zu kontextualisieren, sei es als Ausdruck der zunehmenden Repression ihrer Zeit („Drogenkrieg“), als Antwort auf ausuferndes Konsumverhalten oder aus sonstigen Gründen. Dabei ist insbesondere das EinheitsÜbk. aus der Zeit gefallen, ein Produkt der 1940er und 1950er Jahre, in denen einige wenige Staaten die ausnehmend prohibitive Marschrichtung der internationalen Drogenpolitik vorgaben.12) Das zeigt sich etwa daran, dass dieses Abkommen nicht zwischen „weichen“ und „harten“ Drogen differenziert und Cannabis in seinen Anhängen I und IV dem strengsten Kontrollregime, gleich Kokain und Heroin, unterworfen hat. Aus heutiger Sicht ist diese Gleichbehandlung unhaltbar13) und fordert – jedenfalls bezüglich Cannabis – eine möglichst restriktive Auslegung des vom EinheitsÜbk. vorgesehenen Verbotsregimes. Die CND hat Cannabis zwar Ende 2020 aus Anhang IV herausgenommen, doch die prohibitive Position bezüglich nicht-medizinischem und -wissenschaftlichem Gebrauch beibehalten.14)

Ebenso undifferenziert ist die Gleichbehandlung aller denkbaren Tathandlungen – von der Produktion bis zum Besitz – durch die oben zitierten Vorschriften des EinheitsÜbk. Im Kern soll damit jeglicher Verkehr der erfassten Drogen untersagt werden, solange er nicht durch medizinische oder wissenschaftliche Zwecke gerechtfertigt ist.15) Was den Besitz angeht, so wird – erneut undifferenziert – nicht nach Zweck bzw. Finalität unterschieden – Besitz zum Eigenkonsum vs. Besitz zur Weiterverbreitung o.ä. – sondern unterschiedslos jeder, nicht medizinisch oder wissenschaftlich gerechtfertigte Besitz verboten. Aus diesem großflächigen Metaverbotsregime folgern die amtlichen Kontrollorgane bis heute, dass generell jede innerstaatliche Liberalisierung, auch wenn sie sich nur auf Eigenkonsum richtet, verboten ist.16)

Dem ist aus mehreren Gründen zu widersprechen. Erstens war schon bei Verabschiedung des EinheitsÜbk. umstritten,17) ob Art. 4 c) auch eine Kriminalisierungspflicht bezüglich des Besitzes zum Eigenkonsum enthält, wird doch nur auf den Besitz im Allgemeinen Bezug genommen; die Frage war auch bezüglich Art. 22 (1)(a) Übk. 1971 umstritten.18) Zweitens steht jedenfalls die Kriminalisierungsverpflichtung aufgrund Art. 36 Abs. 1 a) unter einem Verfassungsvorbehalt, kann also solche Vertragsstaaten nicht binden, die aus verfassungsrechtlichen Gründen – allgemeine Handlungsfreiheit – die Kriminalisierung des Besitzes zum bloßen Eigenkonsum ablehnen; dieser Vorbehalt wird in Art. 36 Abs. 2 (bzgl. Beteiligung etc.) sogar auf das „Rechtssystem“ im Allgemeinen und innerstaatliche Rechtsvorschriften erweitert. Drittens sind die Abkommen nicht self-executing, den Vertragsstaaten verbleibt ein erheblicher Handlungsspielraum, um die erforderlichen „Maßnahmen“ zu ergreifen;19) Nichteinmischung und Achtung des nationalen Rechts wird betont.20) Last but not least ist die Kriminalisierung des bloßen Besitzes rechtsstaatlich problematisch:21) Zum einen stellt sie eine Vorverlagerung der Strafbarkeit dar, die – gerade bei per se ungefährlichen Gegenständen – besonderer Rechtfertigung bedarf; zum anderen verstößt sie als Kriminalisierung eines bloßen Zustands gegen den Grundsatz, dass strafrechtliche Verantwortlichkeit auf einem bestimmten menschlichen Verhalten (Tun oder Unterlassen) beruhen muss.22)

Die undifferenzierte Gleichbehandlung des EinheitsÜbk. wird durch das Übk. 1988 überwunden, denn dieses unterscheidet zwischen schwer(er)en Tathandlungen (Produktion, Herstellung bis zum Großhandel) und damit zusammenhängenden Besitz (Art. 3 Abs. 1a)) und dem bloßen Besitz (sowie Kauf und Anbau) zum Eigenkonsum (Art. 3 Abs. 2).23) Die gesonderte Regelung des Eigenkonsums ist dabei eine Konsequenz des oben erwähnten Streits um dessen Kriminalisierung.24) Die Systematik von Art. 3 zeigt, dass primär schwerere Tathandlungen als der bloße Besitz (sowie Kauf und Anbau) zum Eigenkonsum einer Kriminalisierungs- und Sanktionsverpflichtung unterworfen werden sollen. Das folgt nicht nur aus einem Vergleich von Abs. 1 a) und Abs. 2 bezüglich der erfassten Tathandlungen, sondern auch aus den Sanktionsanordnungen in Abs. 4, denn dort wird zwischen schwereren Sanktionen (Freiheits- und Geldstrafe) für schwerere Taten i.S.v. Abs. 1 (Abs. 4 a)) und eher präventiv-gesundheitsorientierten Maßnahmen „anstelle der … Bestrafung“ bei „weniger schwere[n]“ Taten (Abs. 4 c)) differenziert.25) Diese differenzierte Herangehensweise spiegelt sich auch im UN Kommentar wieder, der u.a. eine Abstufung der Deliktsschwere über einen objektiven Schwellenwert, z.B. die Drogenmenge, begrüßt.26)

Darüber hinaus greift der genannte Verfassungsvorbehalt und es ist auf „Grundzüge“ der betreffenden nationalen Rechtsordnung Bedacht zu nehmen. Damit stößt eine völkerrechtliche Kriminalisierungspflicht, sollte man eine solche bei Eigenkonsum (weicher Drogen) nach den bisherigen Ausführungen überhaupt noch annehmen, jedenfalls an die nationalen Grenzen der Verfassung und sogar nachrangiger Rechtsgrundsätze. Konkret bedeutet dies, dass Staaten, die den Eigenkonsum von der allgemeinen Handlungsfreiheit geschützt sehen und damit jedenfalls ein strafbewehrtes Verbot für verfassungswidrig halten, nicht völkerrechtlich zu einer solchen Kriminalisierung verpflichtet werden können. Dabei geht das Übk. 1988 insoweit weiter als das EinheitsÜbk., als es nicht nur entgegenstehendem Verfassungsrecht, sondern auch den besagten Rechtsgrundsätzen Rechnung trägt.27) Zu diesen hat die Bundesregierung im Zuge ihrer Ratifikation des Übk. 1988 im November 1993 die interpretative Erklärung abgegeben, dass „die genannten Grundzüge der Rechtsordnung einem Wandel unterliegen.“28) Mit dieser Erklärung sollte gewährleistet werden, dass das Abkommen einer eventuell späteren Entkriminalisierung nicht im Wege steht.29)

Der genannte Verfassungsvorbehalt ist in unserem Zusammenhang von größter, ja vielleicht entscheidender, Bedeutung.30) Er stellt das Einfallstor für eine (verfassungsrechtlich gebotene) liberale Drogenpolitik auf nationaler Ebene dar, wie sie in der bekannten Cannabis-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 199431) angelegt ist; schon damals hatte Richter Sommer eine restriktive Auslegung der Übereinkommen überzeugend begründet und dabei insbesondere auf den Verfassungsvorbehalt hingewiesen.32) Dieser findet auf völkerrechtlicher Ebene eine Parallele in der Begründung eines menschenrechtlichen Anspruchs auf eine humane und liberale Drogenpolitik, gleichsam als völkerrechtlichem Gegenanspruch gegen das prohibitive Drogenkontrollregime.33) Das EU-Recht konkretisiert den Verfassungsvorbehalt durch die oben schon zitierte Kriminalisierungsausnahme bei Eigenkonsum.34)

Die erwähnte Privilegierung ist aber nicht auf den Besitz zum Eigenkonsum beschränkt, sondern erfasst auch zeitlich notwendigerweise vorausgehende Handlungen, insbesondere Anbau (Produktion) und Kauf.  So werden diese auch, sofern sie zum Zwecke des Eigenkonsums erfolgen, durch Art. 3 Abs. 2 Übk. 1988 („purchase or cultivation“) dem Besitz gleichgestellt. Weiter muss auch die Abgabe zu diesem Zweck erfasst sein, denn auch sie geht dem Besitz (wie dieser dem Konsum) notwendigerweise voraus. All diese Handlungen (Anbau/Produktion, Kauf, Abgabe) samt dem Besitz müssen staatlicher Kontrolle unterworfen werden, will man einen durchgängig legalen (staatlich kontrollierten) Cannabismarkt erreichen, um niederländische Verhältnisse – Entstehung krimineller Strukturen zur illegalen Produktion/Lieferung der dann legal abgegeben Drogen (“Hintertürproblematik”)35) – zu vermeiden.

Zunehmend liberale Staatenpraxis

Die dargelegte restriktive Auslegung des völkerrechtlichen Verbots- und Kriminalisierungsregimes wird auch durch die jüngere Staatenpraxis gestützt.36) Liberalere Ansätze zeigen sich nicht nur auf nationaler Ebene (etwa in Portugal, Uruguay, Kanada und einigen Bundesstaaten der USA),37) sondern auch im supranationalen Kontext, sei es regional (EU, Organisation Amerikanischer Staaten)38) oder international,39) so etwa bei der UN Sondergeneralversammlung des Jahres 2016 (United Nations General Assembly Special Session, UNGASS 2016).40) In deren Abschlusserklärung erkennen die Staaten nicht nur einen „comprehensive, integrated and balanced approach“ an, sondern auch dass die völkerrechtlichen Übereinkommen „allow for sufficient flexibility for States parties to design and implement national drug policies according to their priorities and needs…“.41) Das entspricht der zuvor verabschiedete EU Position,42) mit der versucht wird, die unterschiedlichen Ansätze der Mitgliedsstaaten auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Dieser Liberalisierungsdruck hat auch die internationalen Drogenkontrollorgane dazu gezwungen, punktuell eine größere Flexibilität zu zeigen.43)

Auf nationaler Ebene ist aus deutscher Sicht insbesondere Portugal von Interesse, weil dort – anders als in den Niederlanden44) – die Entkriminalisierung durch Gesetz 30 vom 29.11.2000 auch materiellrechtlich umgesetzt wurde und damit ein dezidiert gesundheitspolitischer Ansatz verfolgt wurde. Dabei wurde der Eigenkonsum (u.a. von Cannabis) entkriminalisiert, aber nicht legalisiert: bei Besitz von bis zu 10 Konsumeinheiten pro Tag gilt der Besitz nur noch als Ordnungswidrigkeit (contra-ordenação), die Gesamtbesitzmenge darf 100 Konsumeinheiten für 10 Tage nicht überschreiten, was 25 g Cannabis (und 2 g Kokain, 1 g Heroin, 1 g Ecstasy) entspricht. Wird ein Konsument mit der genannten Menge angetroffen, werden die Drogen beschlagnahmt und er/sie wird einer interdisziplinären Kommissionen zur Suchtprävention übergeben, die über die weitere Behandlung entscheidet (bei Gelegenheitskonsument evtl. Bußgeld mit Verfahrenseinstellung, bei Dauerkonsument Behandlung). Lässt sich über die genauen Effekte dieser Entkriminalisierung streiten,45) so hat sich Portugal jedenfalls nicht aufgrund völkerrechtlicher Bedenken von ihr abhalten lassen.

Ausstiegs- und Reformszenarien

Ungeachtet der hier vertretenen restriktiven Auslegung lassen sich die Friktionen einer liberalen Drogenpolitik mit dem geltenden völkerrechtlichen Drogenkontrollregime nicht vollständig normativ weginterpretieren.46) Diese Friktionen sind zum „elephant in the room“ bei diplomatischen Verhandlungen geworden,47) wobei das INCB trotz der angesprochenen punktuellen Flexibilität48) einen staatlich kontrollierten Cannabismarkt nach wie vor strikt ablehnt.49) Deshalb werden auch bei einer nur vorsichtigen Liberalisierung im hierzulande diskutierten Sinne die monita der internationalen Kontrollorgane, vor allem des INCB, nicht ausbleiben. Man mag diese angesichts der mangelnden Sanktionsgewalt des INCB50) und seiner kontroversen Reputation schlicht ignorieren. Ob dies – eine (temporäre) non-compliance aus Sicht der Drogenkontrollbehörden – Deutschland als völkerrechtsfreundlichem Staat gut zu Gesicht steht, ist letztlich eine (außen)politische Frage. Eine „principled non-compliance“51) lässt sich jedenfalls angesichts der übermäßig strikten Position der internationalen Drogenkontrollbürokratie gut rechtfertigen, zumal dann, wenn andernfalls eine auf nationaler Ebene als gesundheitspolitisch sinnvoll erachtete Politik verunmöglicht wird. Wie dem auch sei, man muss sich mit möglichen völkerrechtlichen (temporären) Ausstiegsszenarien vertraut machen, um auf non-compliance Vorwürfe angemessen reagieren zu können.

Kurzfristig bzw. unmittelbar kann insoweit nur ein Austritt aus dem EinheitsÜbk. (Art. 46) und ggf. auch dem Übk. 1988 (Art. 30) helfen, wobei es – wegen des auch den legalen Handel betreffenden Regelungsgehalt der Abkommen52) – nicht um einen endgültigen Austritt, sondern nur um eine solchen mit Wiederbeitritt unter Anbringung eines Vorbehalts gehen kann. Diesen Schritt ist Bolivien bezüglich des EinheitsÜbk. erfolgreich gegangen, um den traditionellen Kokaanbau völkerrechtsverträglich zu ermöglichen;53) zum Übk. 1988 hat Bolivien einen entsprechenden Vorbehalt angebracht.54) Bei diesem Vorgehen ist aber zu beachten, dass nach allgemeinem Völkervertragsrecht Vorbehalte nicht Gegenstand und Zweck („object and purpose“) des betreffenden Vertrags widersprechen dürfen (Art. 19 WVK) und das EinheitsÜbk. – neben zeitlich befristeten Vorbehalten (Art. 49) – allgemeine („sonstige“) Vorbehalte nur zulässt, wenn ein Drittel der Vertragsstaaten innerhalb von 12 Monaten keine Einwände erhebt (Art. 50 Abs. 3).55) Zwar ist dies, wie selbst56) der Fall Bolivien zeigt,57) ein wenig realistisches Szenario, aber gleichwohl sollte ein solcher Vorbehalt eng formuliert werden, etwa im Sinne der verfassungsrechtlichen Vorgabe zu einem grundsätzlichen Recht auf Eigenkonsum (was nach hier vertretener Ansicht ja ohnehin über die Verfassungsvorbehalte der Übereinkommen anerkannt wird).58)

Mittel- bzw. langfristig können (und sollten) zumindest punktuelle Änderungen des derzeitigen völkerrechtlichen Kontrollregimes angestrebt werden, etwa durch die Verschiebung weicher Drogen wie Cannabis in einen anderen, einem weniger strikten Regime unterfallenden Anhang (rescheduling,59) jüngst bezüglich des EinheitsÜbk. geschehen)60), oder durch die Nutzung von inter se Vertragsänderungen i.S.v. Art. 41 WVK durch liberale like-minded Vertragsstaaten;61) mit einem solchen Vorgehen könnte mittel- bzw. langfristig ein alternatives Kontrollregime innerhalb des betreffenden Vertrags entstehen und das bisherige Regime ersetzt werden.62) Ein solches punktuelles oder stufenweises Vorgehen ist auch deshalb einer umfassenden Vertragsreform63) vorzuziehen, weil angesichts der Heterogenität der Staatenauffassungen64) eine solche Reform am Ende ein noch repressiveres Drogenkontrollregime zum Ergebnis haben könnte.65) Damit soll die Notwendigkeit einer grundlegenden Reform des gegenwärtigen Systems nicht in Frage gestellt werden, eine solche Reform muss aber strategisch angegangen und sehr gut vorbereitet werden, um die erwünschte Liberalisierung zu erreichen.66)

Denkbar sind natürlich auch nationalrechtliche Ausweichstrategien, wobei insoweit insbesondere das niederländische Modell des prozessualen Verfolgungsermessens in den Blick gerät.67) Abgesehen davon, dass solche prozessualen Lösungen nicht wirklich konsequent sind, wenn man eine Kriminalisierung aus grundsätzlichen Erwägungen für falsch hält, besteht ihr operatives Grundproblem darin, eine gleichmäßige Rechtsanwendung bezogen auf die Verfolgungspraxis zu gewährleisten, was etwa in den Niederlanden nicht vollends zu gelingen scheint.68) Hierzulande käme erschwerend die föderale und heterogene Justizstruktur hinzu, die trotz verfassungsgerichtlicher Kritik69) bis heute eine einheitlichen Einstellungspraxis, u.a. wegen Uneinigkeit über den Begriff der „geringen Menge“ (§ 29 Abs. 5, § 31a BtMG), verhindert hat.70) Da die Länder sich offensichtlich nicht einigen können, müsste eine bundeseinheitliche Vorgabe per Gesetz (Definition in § 31a BtMG)71) oder untergesetzlicher Vorschrift erfolgen.72)

Ich danke Jonathan Stelter für unentbehrliche Unterstützung bei der Recherche.

References

References
1 Zum ähnlichen Entwurf eines „Cannabiskontrollgesetzes“ der Grünen aus 2015 s. Ambos, SZ, 11.3.2015, 2.
2 Siehe insbesondere Hofmann, https://verfassungsblog.de/das-cannabis-dilemma/ und ebenso jüngst im Interview mit LTO.
3 Für die Situation vor 1960 s. Heilmann, Cardozo Journal of International and Comparative Law 19 (2011) 237, 239 ff.
4 Kempen/Fedorova, International Law and Cannabis. Regulation of Cannabis Cultivation and Trade for Recreational Use under the UN Narcotic Drugs Conventions and the EU Legal Instruments in Anti-Drugs Policy. Volume I, 2019, S. 11 f. halten eine Betrachtung der 1971er Konvention bezüglich Cannabis für entbehrlich, weil das dort im Anhang I aufgeführte Tetrahydrocannabinol (THC) üblicherweise nicht von Cannabis extrahiert wird.
5 Es gibt „amtliche“ UN Kommentare zu den Abkommen, die aber mit Vorsicht rezipiert werden sollten, weil sie häufig die offizielle Position der UN-Drogenkontrollbehörden wiedergeben, s. z.B. u. Fn.  29. Für eine gründliche Analyse von EinheitsÜbk. und Übk. 1988 bzgl. Cannabis s. auch Kempen/Fedorova I, a.a.O., S. 18 ff., 50 ff.
6 Für CND und INCB s. Art. 5 ff. EinheitsÜbk.
7 Vgl. näher Heilmann, a.a.O., 253 ff.
8 Zu diesen Zwecken näher Kempen/Fedorova I, a.a.aO., S. 40 ff., 85 f.
9 Siehe auch das allgemeine Besitzverbot „ohne gesetzliche Ermächtigung“ in Art. 33 EinheitsÜbk.; dazu Kempen/Fedorova I, a.a.aO., S. 22 ff.
10 Vgl. grdl. EuGH, Rechtssache C-137/09, Josemans gegen Burgemeester van Maastricht, Urteil v. 16.12.2010 (Zweite Kammer), para. 11, 36 ff. (auf die völkerrechtlichen Abkommen und EU-Recht bezugnehmend). In einem jüngeren Urteil hat der EuGH festgestellt, dass das aus der Cannabis-sativa-Pflanze gewonnene Cannabidiol (CBD) kein Suchtmittel darstellt, Urteil v. 19.11.2020, Rechtssache C‑663/18, para. 63 ff. Nähere Analyse des EU-Rechts bei Kempen/Fedorova I, a.a.aO., S. 101 ff.
11 Im Übrigen sollten Besitz und Kauf ohnehin nur mit Blick auf die Weiterverbreitung kriminalisiert werden (Art. 2 Abs. 1 c); näher zum Rahmenbeschluss Kempen/Fedorova I, a.a.aO., S. 117 ff. (die allerdings die Kriminalisierungsausnahme von Art. 2 Abs. 2 vernachlässigen). Siehe ferner Art. 70 ff. SDÜ (Kapitel VI in Titel III zu Polizei und Sicherheit), insbesondere Art. 71, der bezugnehmend auf die völkerrechtlichen Abkommen Maßnahmen zur Abgabe (Angebotsseite) explizit von Cannabis mit Blick auf die „Unterbindung des unerlaubten Handels“ fordert (Abs. 1) und verwaltungs- oder strafrechtliche Verbote zum Verkauf/Abgabe von u.a. Cannabis (Abs. 2) fordert, aber Maßnahmen zur Eindämmung der unerlaubten Nachfrage den Vertragsparteien überlässt (Abs. 5). Näher, insbesondere zur „joint declaration“ zu Art. 71 Abs. 2 Kempen/Fedorova I, a.a.aO., S. 104 ff. (107 f.).
12 Bewley-Taylor et al., Cannabis Regulation and the UN Drug Treaties. Strategies for Reform, 2016, S. 4.
13 Krit. auch Bewley-Taylor et al., a.a.O., S. 4; Kempen/Fedorova I, a.a.O., S. 16 f. mwN
14 Mit einem denkbar knappen Abstimmungsergebnis von 27 zu 25 Stimmen bei einer Enthaltung, s. <https://news.un.org/en/story/2020/12/1079132>. Zuvor hatte die WHO das „rescheduling“ empfohlen: <https://www.unodc.org/unodc/en/commissions/CND/Mandate_Functions/current-scheduling-recommendations.html>
15 Siehe auch Kempen/Fedorova I, a.a.O., S. 15, 49, 96 („… eliminating the circulation of narcotic drugs for purposes other than medical or scientific ones.” [15]).
16 Vgl. zuletzt INCB-Report 2021, para. 224, 819 („… any measures allowing for the use of cannabis for non-medical purposes are in violation of the legal obligation incumbent upon parties”),