Die „Fiktion der Nichteinreise“ als Grundrechtseingriff durch normativen Tatsachenausschluss
Die Einigung zwischen CDU und CSU vom 2. Juli 2018 sieht eine „Zurückweisung auf Grundlage einer Fiktion der Nichteinreise“ vor. Dana Schmalz hat bereits überzeugend dargelegt, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte „von der Fiktion der Nichtanwesenheit von Personen wenig beeindruckt sein und Rechtsverletzungen gegebenenfalls rügen“ dürfte – und zwar nicht zuletzt deshalb, weil es der Menschenwürde zuwiderlaufen würde, wenn durch eine solche Konstruktion die territoriale Bindung an die Grundrechte ausgehebelt und Menschen ihrer Rechte beraubt werden könnten.
Grundrechtsdogmatisch betrachtet entspricht dieser Diagnose der Befund, dass normative Fiktionen, die Rechte aushebeln, selbst als Eingriffe in das jeweilige Grundrecht einzuordnen sind (s. dazu näher hier, S. 194-198, s. auch S. 132-139).
Wie die Zurückweisungsdiskussion insgesamt hat auch die Idee normativer Fiktionen Vorläufer in der Debatte um die Änderung des Asylgrundrechts von 1996, die mit Art. 16a II GG ein Konzept ‚sicherer‘ Drittstaaten einführte, das das Bundesverfassungsgerichts als ein „Konzept normativer Vergewisserung“ deutete (vgl. BVerfGE 94, 49 [95 ff.]). Damals wie heute gilt unabhängig davon, ob diese Grundrechtsänderung selbst verfassungsgemäß war: Jedenfalls die Menschenwürdegarantie als Hindernis für Zurückweisungen, Ausweisungen oder Abschiebungen kann durch solche normativen Fiktionen nicht umgangen werden.
Der Rechtsordnung sind normative Vermutungen und Fiktionen zwar keineswegs fremd. Eine normative Tatsachenfeststellung, die das Nichtvorliegen grundrechtsverletzender Tatsachen mit verbindlicher Wirkung feststellen soll, greift jedoch in den Gewährleistungsinhalt des jeweiligen Grundrechts ein.
Ein Rechtsakt etwa, der mit unwiderleglicher Bindungswirkung feststellen wollte, dass in Deutschland keine Folter stattfindet, würde damit zwar nicht das rechtliche Verbot der Folter selbst beseitigen. Mit dem Versuch, das Vorliegen der Tatsachen, auf die die Norm reagieren soll, normativ auszuschließen und die Norm so gleichsam von der Wirklichkeit abzukoppeln, würde er jedoch die Wirksamkeit des Folterverbotes nicht weniger effektiv beeinträchtigen, als wenn er das rechtliche Verbot selbst beseitigt hätte.
Eine solche normative Fiktion kommt nach Zielrichtung und Wirkung einem Grundrechtseingriff im herkömmlichen Sinn gleich (zur Figur des funktionalen Eingriffsäquivalents s. zuletzt BVerfG, Beschl. v. 18. März 2018, 1 BvF 1/13, Rn. 28, mit den dortigen Nw.). Sie bewirkt deshalb einen Grundrechtseingriff durch normativen Tatsachenausschluss. Solche normativen Fiktionen unterliegen deshalb den üblichen Anforderungen, die die Rechtsordnung an Grundrechtseingriffe stellt.
Das Recht, nicht gefoltert zu werden, schließt auch das Recht ein, nicht nach Erlass einer normativen Fiktion gefoltert zu werden, die das Nichtstattfinden von Folter normativ ‚feststellt‘. Folter bleibt auch dann Folter, wenn sie auf Grundlage einer Fiktion der Nichtfolter stattfindet. Und eine Abschiebung in drohende Folter bleibt auch dann eine Abschiebung in drohende Folter, wenn sie als „Zurückweisung auf Grundlage einer Fiktion der Nichteinreise“ bezeichnet wird.
‚Normative Vergewisserungen‘ können deshalb die tatsächlichen Vergewisserungen nicht vollständig ersetzen, zu denen grundrechtsgebundene Hoheitsgewalt verpflichtet bleibt. Die Grundrechte treffen damit auch Aussagen darüber, vor welchen Tatsachen die Rechtsordnung mithilfe normativer Vermutungen und Fiktionen die Augen verschließen darf – und vor welchen nicht. Sie lassen es nicht zu, die Kenntnisnahme von Tatsachen, die eine Grundrechtsverletzung begründen, nach Belieben zu manipulieren. „Der Rechtsstaat kennt“, jedenfalls soweit es um grundrechtsverletzende Tatsachen geht, „keine von Rechts wegen jeder Widerlegung entzogenen Annahmen über die Wirklichkeit“ (vgl. abw. Votum BVerfGE 108, 129; S. 145 [149]; auch hier: Rn. 70).
Normative Fiktionen sind deshalb unwirksam, wenn sie sie das Nichtvorliegen solcher Tatsachen unwiderleglich feststellen sollen, die eine Verletzung der Menschenwürde begründen. Menschenwürdeverletzungen können nicht durch ein „mit Orwell zu sprechen: […] Konzept des institutionalisierten newspeak“ (vgl. – im Kontext des Art. 16a II GG – Lübbe-Wolff DVBl. 1996, 825 [831 l. Sp.]) auf Tatsachenebene hinwegdefiniert werden. Nichts anderes kann für jene Tatsachen gelten, aus denen sich eine Verletzung völker- oder unionsrechtlicher Zurückweisungs- und Abschiebungsverbote ergibt.
Was immer also eine „Fiktion der Nichteinreise“ auch erreichen soll – von den rechtlichen Hindernissen, die das Völkerrecht, das Europarecht und die Menschenwürdegarantie einer Zurückweisung, Ausweisung oder Abschiebung entgegensetzen, kann sie jedenfalls nicht entbinden.
Hierzu, wie bereits zu dem Beitrag von Dana Schmalz, der Hinweis auf § 13 Abs. 2 Satz 2 AufenthG. Die darin geregelte Nichteinreisefiktion ist bereits seit geraumer Zeit geltendes Recht. Das ändert zugegebenerweise zunächst nichts daran, wie sie verfassungsrechtlich zu bewerten ist. Grundlegende Zweifel sind aber zumindest bislang in der hierzu ergangen Rechtsprechung nicht erhoben worden.
Danke.
“Und eine Abschiebung in drohende Folter bleibt auch dann eine Abschiebung in drohende Folter, wenn sie als „Zurückweisung auf Grundlage einer Fiktion der Nichteinreise“ bezeichnet wird.”
Mir ist nicht bekannt, dass Migranten in Österreich gefoltert würden. Österreich kann das Dublin-Verfahren eines zurückgewiesenen Migranten genauso rechtsstaatlich durchführen, wie es Deutschland sonst täte.
Aufenthaltsgesetz § 13 (2) sieht vor:
„Lassen die mit der polizeilichen Kontrolle des grenzüberschreitenden Verkehrs beauftragten Behörden einen Ausländer vor der Entscheidung über die Zurückweisung (§ 15 dieses Gesetzes, §§ 18, 18a des Asylgesetzes) oder während der Vorbereitung, Sicherung oder Durchführung dieser Maßnahme die Grenzübergangsstelle zu einem bestimmten vorübergehenden Zweck passieren, so liegt keine Einreise im Sinne des Satzes 1 vor, solange ihnen eine Kontrolle des Aufenthalts des Ausländers möglich bleibt.“
Handelt es sich nicht eher um eine normenhierarchische Frage als um eine spezifisch grundrechtliche Frage? Dass der Gesetzgeber den Grundrechtstatbestand (grundsätzlich?) nicht „wegdefinieren“ kann, dürfte doch wohl mit dem Vorrang der Verfassung, nicht primär mit dem grundrechtlichen Freiheitsschutz zu erklären sein. Es kommt hier mE nicht auf die Grundrechte als Abwehrrechte an, sondern darauf, dass der
Gesetzgeber keine verfassungsrechtlichen Tatbestände beeinflussen kann, es sei denn, die Verfassung ermächtigt ihn dazu (wie etwa bei Art. 14 Abs. 1 Satz 2). Zusammenfassende These: Die Fiktion ist (als solche!) kein Grundrechtseingriff, sondern grundrechtlich schlicht irrelevant.
Sehr geehrter Herr Hong,
ich danke Ihnen sehr für die wirklich sehr wichtige These, dass auch die Fiktion von Nichtfolter verfassungsrechtlich Folter bleibt, wenn diese tatsächlich stattfindet.
Die ehemaligen Verfassungsrichter Konrad Hesse und Winfried Hassemer würden Ihnen, denke ich, auch von ganzen Herzen in dieser Aussage zustimmen.
Aber stimmt es nicht auch, dass die Fiktion der Nichteinreise, gibt man dieser nicht die Bedeutung der menschenverachtenden Nichtanwesenheit eines tatsächlich anwesenden Menschen, praktisch irrelevant ist?
Im Grunde geht es um illegale Einreise und nicht um die Fiktion derselben.
Illegal ist eine Einreise, wenn kein Asylgrund besteht und auch sonst keine Regelungen des internationalen Flüchtlingsschutzes eingreifen.
Ob dies der Fall ist, kann erst in der jeweiligen Einzelfallprüfung entschieden werden.
Aber der Mensch als solcher ist in der BRD anwesend, alles andere wäre grundrechtswidrig.
Sollte sich die Einreise nach rechtlicher Überprüfung als illegal herausstellen, bleibt die Frage, in welche Länder zurück geführt und abgeschoben werden darf.
Hier greift Ihre These, sehr veehrter Herr Kollege Hong, dass es keine Fiktion von Nichtfolter geben kann.
Mit herzlichen Grüßen
Monika Ende
Conclusio:
Den von Herrn Professor Hong zitierten Bundesverfassungsgerichtsentscheidungen kann man m.E. tatsächlich entnehmen, dass es keine Fiktion geben kann, die grundrechtswidriges Unrecht in real nicht vorhanden deklariert.
Das ist solange schlicht irrelevant bis daraus Konsequenzen gezogen werden.
Eine darauf beruhende Handlung ist grundrechtswidrig.
Schlicht: Folter bleibt Folter, anwesende Menschen sind anwesend, eine Tatsache ist eine Tatsache und kann nicht hinzu oder weg fingiert werden.
Ich finde es wichtig zu betonen, dass die Realität grundrechtskonform Realität zu bleiben hat.
Es gibt keine Definitionsmacht über die Realität.