03 July 2023

Die „freie internationale Ordnung“

Der neue Kampfbegriff der Nationalen Sicherheitsstrategie gegen China

Am 14. Juni 2023 stellten Bundeskanzler Olaf Scholz und Mitglieder seines Kabinetts die erste Nationale Sicherheitsstrategie (NSS) Deutschlands mit dem Titel „Wehrhaft. Resilient. Nachhaltig. Integrierte Sicherheit für Deutschland“ vor. Das 73-seitige Dokument skizziert den Ansatz der Bundesregierung, die Sicherheit des Landes zu gewährleisten und es gegen äußere Bedrohungen zu stärken. Die NSS enthält 21 Verweise auf das „Völkerrecht“, das sechzehnmal im Zusammenhang mit „freier internationaler Ordnung“ oder einfach nur „internationaler Ordnung“ verwendet wird. Die „freie internationale Ordnung“ wird damit zu einem Schlüsselkonzept der neuen Strategie und macht zugleich deutlich, dass die Frage der (zukünftigen) internationalen Ordnung zu einem neuen Schlachtfeld der geopolitischen Auseinandersetzung geworden ist.

Die USA legen vor, Deutschland zieht nach

Deutschland hatte zuvor vor allem den Begriff einer „regelbasierten internationalen Ordnung“ favorisiert. Obwohl dieser Begriff noch sechsmal in der NSS vorkam, wurde er durch den neuartigen Begriff der „freien internationalen Ordnung“ verdrängt. In der deutschen Fassung der NSS tauchte der Begriff der „freien internationalen Ordnung“ dreizehn Mal auf, darunter einmal in der Kombination „freie und regelbasierte internationale Ordnung“. In der NSS heißt es zum Beispiel:

„Unsere Außen- und Sicherheitspolitik ist einer freien internationalen Ordnung auf Grundlage des Völkerrechts und der Charta der Vereinten Nationen verpflichtet.“

„Wir treten ein für eine freie internationale Ordnung auf Grundlage der Charta der Vereinten Nationen, der universellen Menschenrechte und des Völkerrechts. Wir engagieren uns für den Multilateralismus und für die Stärkung der Vereinten Nationen. Den Versuchen, die Welt in Einflusssphären einzuteilen, stellen wir das positive Modell einer solchen regelbasierten Ordnung entgegen.“

„Den Wettbewerb mit Staaten, die einer freien internationalen Ordnung auf Grundlage des Völkerrechts und der Charta der Vereinten Nationen entgegenstehen, nehmen wir selbstbewusst an; die Folgen der Systemrivalität nehmen wir ernst und berücksichtigen sie in unserer Politik. Wir verteidigen die freie und regelbasierte internationale Ordnung, die unsere Werte und Interessen schützt, mit Entschiedenheit. … Darüber hinaus bemühen wir uns gezielt um die Zusammenarbeit und neue Partnerschaften mit Staaten, die … wie wir für eine freie internationale Ordnung auf Grundlage der Charta der Vereinten Nationen und des Völkerrechts eintreten. … In der EU und zusammen mit unseren transatlantischen und globalen Partnern stellen wir den Versuchen, Einflusssphären zu etablieren, das positive Modell einer freien internationalen Ordnung auf Grundlage des Völkerrechts entgegen.“

In der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik ist das Konzept einer „freien internationalen Ordnung“ neu. In einer Rede von Bundesaußenminister Guido Westerwelle im Juni 2013 findet sich lediglich ein Hinweis auf eine „freiheitliche und auf festen Regeln gegründete internationale Ordnung“ als elementare Voraussetzung dafür, dass wir Frieden und Wohlstand auch in Zukunft mehren können.

Das Konzept einer „freien internationalen Ordnung“ in der deutschen NSS lässt sich auf den „United States Strategic Approach to the People’s Republic of China“ zurückführen, einen Bericht, der von der US-Regierung unter Präsident Donald Trump am 20. Mai 2020 gemäß des Genehmigungsgesetzes für die nationale Verteidigung aus dem Jahr 2019 veröffentlicht wurde. In diesem Dokument heißt es: „For the past seven decades, the free and open international order has provided the stability to allow sovereign, independent states to flourish and contribute to unprecedented global economic growth.“ Die Vereinigten Staaten warfen der Volksrepublik China vor, dass diese versuchen würde, diese Ordnung zu schwächen und so umzugestalten, dass sie mit den Interessen und der Ideologie der Kommunistischen Partei Chinas in Einklang stehe.

China als systemischer Rivale

Im November 2020 veröffentlichte der Politische Planungsstab im US-Außenministerium ein Dokument mit dem Titel „The Elements of the China Challenge“, in dem China als Bedrohung für die „freie, offene und regelbasierte internationale Ordnung“ identifiziert wurde. Das Dokument lautete im relevanten Abschnitt:

„[T]he United States must fortify the free, open, and rules-based international order that it led in creating after World War II, which is composed of sovereign nation-states and based on respect for human rights and fidelity to the rule of law. …

The [People’s Republic of China] wants to convince European nations that their political future lies not in the free, open, and rules-based international order, but in a new multipolar arrangement that respects geopolitical spheres of influence and regards allegations of internal repression as infringements on national sovereignty.“

In ihrer Nationalen Sicherheitsstrategie vom 12. Oktober 2022 riefen die USA daraufhin den Kampf um die internationale Ordnung aus. In seiner Einleitung zur neuen Strategie schrieb US-Präsident Joseph Biden: „Wir befinden uns mitten in einem strategischen Wettbewerb um die Gestaltung der Zukunft der internationalen Ordnung.“ In dem Dokument selbst heißt es dann:

„Our goal is clear—we want a free, open, prosperous, and secure international order. We seek an order that is free in that it allows people to enjoy their basic, universal rights and freedoms. It is open in that it provides all nations that sign up to these principles an opportunity to participate in, and have a role in shaping, the rules. It is prosperous in that it empowers all nations to continually raise the standard of living for their citizens. And secure, in that it is free from aggression, coercion and intimidation. … [W]e must proactively shape the international order in line with our interests and values. …

The PRC is the only competitor with both the intent to reshape the international order and, increasingly, the economic, diplomatic, military, and technological power to do it.

We are confident that the United States, alongside our allies and partners, is positioned to succeed in our pursuit of a free, open, prosperous, and secure global order. With the key elements outlined in this strategy, we will tackle the twin challenges of our time: out-competing our rivals to shape the international order while tackling shared challenges … .“

Im Dezember 2022 folgte Japan als erstes Land des westlichen Lagers der US-amerikanischen Einschätzung der Herausforderungen für die bestehende internationale Ordnung. In seiner auch in englischer Sprache veröffentlichten Nationalen Sicherheitsstrategie identifizierte Japan als eines seiner strategischen Ziele die Aufrechterhaltung und Weiterentwicklung einer „free and open international order.“ Im April 2023 bekräftigten die G7-Außenminister ihre Entschlossenheit, „to strengthen the free and open international order based on the rule of law, respect for the UN Charter, the sovereignty, and territorial integrity of all states, and respect for human rights and fundamental freedoms.“

Es scheint, dass der Begriff der „free international order“ einfach aus den US-amerikanischen Strategiepapieren übernommen und wortwörtlich übersetzt wurde, ohne zu bedenken, dass der Begriff der „freien internationalen Ordnung“ im Deutschen sprachlich keinen Sinn macht. Eine Ordnung kann nicht „frei“ im Sinne von ungebunden, unbesetzt oder uneingeschränkt sein. Die passendere deutsche Übersetzung wäre wohl „freiheitliche internationale Ordnung“ – entsprechende der „freiheitlichen demokratischen Grundordnung“ des Grundgesetzes. So sprach denn auch Bundesverteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar 2022 von einer „freiheiliche[n] internationale[n] Ordnung“, d.h. „einer partnerschaftlichen internationalen Ordnung, die der Freiheit zugetan ist – auf dem Boden des Völkerrechts.“

In seiner NSS identifiziert Deutschland – ebenso wie die Vereinigten Staaten von Amerika und Japan – den „systemischen Rivalen“ China als Hauptherausforderer einer freien internationalen Ordnung auf Grundlage des Völkerrechts, der Charta der Vereinten Nationen und der universellen Menschenrechte. Das Dokument lautete im relevanten Teil:

„Wir leben in einem Zeitalter wachsender Multipolarität und zunehmender systemischer Rivalität. Wie wir bekennt sich die ganz überwiegende Zahl von Staaten zur Charta der Vereinten Nationen und einer freien internationalen Ordnung auf der Grundlage des Völkerrechts. Geprägt von ihrer Auffassung von systemischer Rivalität streben einige Staaten jedoch an, diese Ordnung zu untergraben und so ihre revisionistischen Vorstellungen von Einflusssphären durchzusetzen. Sie verstehen Menschen- und Freiheitsrechte und demokratische Teilhabe als Bedrohung ihrer Macht. …

China ist Partner, Wettbewerber und systemischer Rivale. Dabei sehen wir, dass die Elemente der Rivalität und des Wettbewerbs in den vergangenen Jahren zugenommen haben. China versucht auf verschiedenen Wegen, die bestehende regelbasierte internationale Ordnung umzugestalten, beansprucht immer offensiver eine regionale Vormachtstellung und handelt dabei immer wieder im Widerspruch zu unseren Interessen und Werten.“

China widersprach der Einschätzung Deutschlands. In einem Kommentar zur neuen deutschen NSS erklärte der Sprecher des chinesischen Außenministeriums am 15. Juni 2023: „China war schon immer … ein Verteidiger der internationalen Ordnung.“

Die freie internationale Ordnung als Gegenmodell

In der NSS wird nicht definiert, was unter einer „freien internationalen Ordnung“ zu verstehen ist. Der Begriff der „internationalen Ordnung“ beschreibt den normativen und institutionellen Rahmen für die Beziehungen zwischen internationalen Akteuren und insbesondere zwischen Staaten. Der Begriff als solcher ist daher wertneutral: Er bietet Raum für Koordination, Kooperation und Konfrontation. Er ermöglicht Gleichheit, Hegemonie und Vorherrschaft. Indem es das Adjektiv „frei“ hinzufügt, scheint Deutschland dem Begriff der „internationalen Ordnung“ bestimmte Werte überzustülpen. Eine „freie internationale Ordnung“ könnte als freiheitliche Ordnung zu verstehen sein, die politische und wirtschaftliche Freiheiten ermöglicht und fördert. Eine solche Ordnung wäre unter anderem durch Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und Freihandel gekennzeichnet.

Die „freie internationalen Ordnung“, die Deutschland aufrechtzuerhalten und zu verteidigen gelobt, könnte als Gegenmodell zu einer autoritären oder illiberalen internationaler Ordnung oder zu einer Ordnung, die auf einseitigen wirtschaftlichen Abhängigkeiten basiert, gesehen werden. Deutschland stellt „das positive Modell einer freien internationalen Ordnung“ einer Ordnung gegenüber, die auf „Einflusssphären“ beruht. Man könnte sich jedoch fragen, ob die derzeitige westlich-dominierte internationale Ordnung, die ihre Wurzeln im Kolonialismus, im (heißen und kalten) Krieg, in der Plünderung natürlicher Ressourcen, in ungleicher Entwicklung und in unfairen Handelspraktiken hat, tatsächlich „frei“ ist.

Anders als die Vereinigten Staaten von Amerika verknüpft Deutschland die „freie internationale Ordnung“ eng mit dem Völkerrecht und der Charta der Vereinten Nationen. So heißt es in der NSS, dass die „freie internationale Ordnung“ dem Völkerrecht und der Charta verpflichtet ist, oder dass diese „auf der Grundlage des Völkerrechts“ beruht. Durch die Verknüpfung eines wertebeladenen Konzepts der „freien internationalen Ordnung“ mit dem Völkerrecht und der Charta der Vereinten Nationen erweckt Deutschland den Eindruck, dass alternative Modelle internationaler Ordnung im Widerspruch zum Völkerrecht und der UN-Charta stünden. Das Völkerrecht und die UN-Charta basieren jedoch „auf einer Vielzahl von Wertesystemen“ und sehen kein bestimmtes Modell einer internationalen Ordnung vor. Insbesondere schließen sie Einflusssphären nicht grundsätzlich aus. Manche mögen sogar argumentieren, dass die Vereinigten Staaten von Amerika durch die Nordatlantische Vertragsorganisation (NATO) und andere Sicherheitspakte eigene Einflusssphären geschaffen haben. Einflusssphären sind in der Regel das Ergebnis politischer, militärischer, wirtschaftlicher oder sonstiger Abhängigkeiten und nicht das Ergebnis formeller völkerrechtlicher Vereinbarungen. Soweit sie auf Verträgen und Bündnissen beruhen, unterliegen sie der Handlungsfreiheit der Staaten. Wie der Internationale Gerichtshof (IGH) im Nicaragua-Fall feststellte: „Nach dem Grundsatz der Staatssouveränität ist es jedem Staat gestattet, frei über sein politisches, wirtschaftliches, soziales und kulturelles System und die Gestaltung seiner Außenpolitik zu entscheiden.“ Die Außenpolitik und die Bündnisse der Staaten sowie deren Auswirkungen auf regionale oder internationale politisch-militärische Gleichgewichte sind für das Völkerrecht im Allgemeinen nicht von Belang. Die Charta der Vereinten Nationen ist genau darauf ausgelegt, die Beziehungen von Staaten mit unterschiedlichen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Systemen auf der Grundlage der Koexistenz ihrer verschiedenen Ideologien zu regeln.

Die Frage nach der künftigen internationalen Ordnung ist daher in erster Linie eine politische Frage – eine Frage von Macht, Interessen und Werten. Die Vereinigten Staaten von Amerika äußerten sich diesbezüglich recht offen. In ihrer Nationalen Sicherheitsstrategie aus dem Jahr 2022 erklärten sie, dass „wir die internationale Ordnung im Einklang mit unseren Interessen und Werten proaktiv gestalten müssen“, und im Vorgängerdokument aus dem Jahr 2017 warfen sie Russland und China vor, „unsere geopolitischen Vorteile in Frage zu stellen und zu versuchen, die internationale Ordnung zu ihren Gunsten zu verändern.“ Auch Deutschland erklärte, dass es „eine freie internationale Ordnung gestalten“ wolle, die „unsere Werte und Interessen schützt“.

Nicht frei von Doppelmoral und Heuchelei

Während es für Deutschland und seine Verbündeten in Ordnung zu sein scheint, die ihren Interessen dienende unipolare, vom Westen dominierte internationale Ordnung zu „gestalten“ und „aufrechtzuerhalten“, werden Versuche Chinas und anderer Staaten, die aktuelle internationale Ordnung im Einklang mit ihren Interessen „umzugestalten“, als Verstoß gegen das Völkerrecht und die UN-Charta dargestellt. Die NSS versucht eine Identität von deutschen Interessen und Interessen der internationalen Ordnung herzustellen, obwohl an anderer Stelle eingeräumt wird, dass unsere „sicherheitspolitischen Interessen … geprägt [sind] von unserer geographischen Lage, unserer Mitgliedschaft in EU und NATO, unserem auf sozialer Marktwirtschaft und internationaler Verflechtung basierenden Wirtschaftsmodell und der Verantwortung für unsere natürlichen Lebensgrundlagen.“

Deutschland wirft China zudem implizit vor, seine wirtschaftliche Stellung zur Neugestaltung der internationalen Ordnung zu missbrauchen. So heißt es in der NSS mit Blick auf China: „Allerdings bedrohen einige Staaten die Prinzipien der freien wirtschaftlichen Zusammenarbeit zunehmend und setzen wirtschaftliche Macht für außen- und sicherheitspolitische Interessen ein.“ Dass die Position der Vereinigten Staaten als überragender Wirtschaftsakteur in der Welt, ihre „Fähigkeit stärkt, die Instrumente der Wirtschaftsdiplomatie zum Wohl der Amerikaner und anderer einzusetzen“ (US NSS 2017), scheint dagegen kein Problem zu sein. Hier ist die NSS nicht frei von Doppelmoral und Heuchelei.

Die deutsche NSS macht deutlich, dass die Frage der (zukünftigen) internationalen Ordnung zu einem neuen Schlachtfeld der Systemrivalen geworden ist. Durch die Verknüpfung der politischen Frage nach dem bevorzugten internationalen Ordnungsmodell mit dem Völkerrecht und der UN-Charta hat Deutschland diesen einen Bärendienst erwiesen. Am Ende werden alle Seiten behaupten, dass ihr Modell auf dem Völkerrecht basiert oder diesem am besten Ausdruck verleiht.