10 November 2016

Die Geister der Vergangenheit ‒ Eine kritische Reflexion zur Kunduz-Entscheidung des BGH

Das Urteil des Bundesgerichtshofs zu der Frage, ob zivile Opfer von militärischen Einsätzen der Bundeswehr im Ausland Deutschland auf Schadensersatz verklagen können (III ZR 140/15), hat viel Aufsehen erregt (eine erste Kritik hierzu ist hier zu finden). Jetzt sind die Entscheidungsgründe einsehbar und erlauben eine detailliertere Auseinandersetzung, die vor dem Hintergrund der erheblichen Implikationen der betreffenden Entscheidung mehr denn geboten erscheint. Kritik an dem Urteil des BGH ist nicht nur aus völkerrechtlicher, sondern vor allem aus verfassungsrechtlicher Perspektive angebracht, und zwar viel mehr als bisweilen in der Auseinandersetzung zu Tage tritt: Weder trägt der BGH der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes hinreichend Rechnung, noch erkennt er, wie sehr militärische Handlungen deutscher Soldaten im Rahmen bewaffneter Konflikte mit Fragen des Grundrechtschutzes zusammenhängen ‒ beides Momente, die für die grundsätzliche Einschlägigkeit des Amtshaftungsregimes streiten, die der III. Senat in Abrede stellt.

Sachverhalt

Zu befinden hatte der BGH über einen Sachverhalt, der sich im nordafghanischen Kunduz in der Nacht vom 03. auf den 04.09.2009 ereignete. Im Kern des Geschehens stand ein folgenschwerer Befehl von Oberst Klein, der das Kommando über das Provincial Reconstruction Team (PRT) innehatte. Operativ unterstand Oberst Klein dem ISAF-Kommandeur und letztendlich dem NATO-Oberbefehlshaber, verblieb aber – wie dies im Rahmen von multinationalen, institutionell eingebetteten Einsätzen nicht zuletzt aufgrund verfassungsrechtlicher Vorgaben üblich ist – in die Befehlsstrukturen der Bundeswehr ein- und somit letztendlich der Befehlsgewalt des Bundesverteidigungsministers untergeordnet. Klein hatte erfahren, dass Taliban zwei Tanklaster entwendet hatten, die jedoch nunmehr im Flussbett in der Nähe des Feldlagers des PRT Kunduz feststeckten. Er befürchtete, die Taliban planten, die Laster für einen Angriff gegen das PRT-Lager zu verwenden. Zwei amerikanische Kampffluge, die Klein im ISAF-Hauptquartier angefordert hatte, übermittelten ihm Infrarot-Luftaufnahmen von dem Geschehen vor Ort. Zudem gab ein Informant des Militärs an, dass an dem Aufenthaltsort der Laster nur Aufständische und keine Zivilisten zugegen waren. Klein befahl daraufhin den Abwurf zweier Bomben durch zwei US-amerikanische Kampfflugzeuge auf die Tanklaster, die hierdurch zerstört wurden. Diese Maßnahme kostete etwa 100 Menschen ‒ entgegen den Angaben des Informanten überwiegend Zivilisten ‒ das Leben. Anders als sich das Geschehen für Oberst Klein darstellte, hatten sich um die betreffenden Tanklastwagen einige Unbeteiligte aus Neugierde versammelt, andere Zivilisten waren offenbar von den Taliban-Kämpfern dazu gezwungen worden, bei der Bergung der Tanklaster Hilfe zu leisten.

Das Begehren der Kläger

Zu entscheiden hatte der BGH über zwei Klagen: Abdul Hannan verlangte für den Verlust zweier seiner Söhne durch den Luftangriff Schadensersatz in Höhe von 40.000 Euro. Qureisha Rauf, eine Mutter von sieben Kindern, forderte Unterhalt nach dem Tod ihres Ehemannes und Vaters ihrer Kinder in Höhe von 50.000 Euro. Beide konnten weder beim Landgericht Bonn (Az. 1 O 460/11) noch beim Oberlandesgericht Köln (Az. 7 U 4/14) durchdringen. Die Unterinstanzen gingen jeweils davon aus, dass der Amtshaftungsanspruch grundsätzlich schon einschlägig ist, sahen aber keine schuldhafte Amtspflichtverletzung aufgrund einer Missachtung der Gebote des humanitären Völkerrechts seitens Oberst Kleins.

Normatives Spielfeld

Normatives Spielfeld der Entscheidungen waren neben Art. 34 GG iVm § 839 BGB vor allen Dingen drei zentrale völkerrechtliche Bestimmungen des ius in bello – namentlich Art. 51, 57 Erstes Zusatzprotokoll und Art. 13 des Zweiten Zusatzprotokolls zu den Genfer Abkommen. Zwar berechtigt das humanitäre Völkerrecht den Einzelnen auf Primärebene, es räumt ihm ‒ wie auch Art. 91 des Ersten Zusatzprotokolls widerspiegelt ‒ jedoch bei klassisch-staatszentristischer Betrachtung keine unmittelbaren sekundären Ansprüche auf Entschädigung ein, sollten Staaten ihn schützenden Vorschriften des humanitären Völkerrechts zuwiderhandeln. Etwaige individuelle Rechtsverletzungen können traditioneller Auffassung folgend allein auf zwischenstaatlicher Ebene im Wege des diplomatischen Schutzes durch die Heimatstaaten der Verletzten geltend gemacht werden. Demgegenüber räumt der Amtshaftungsanspruch Geschädigten einen unmittelbaren Schadensersatzanspruch ein, der an eine schuldhafte Verletzung drittbezogener Amtspflichten anknüpft. Drittbezogene Amtspflichten können sich dabei gerade auch aus dem humanitären Völkerrecht ergeben und Verletzungen des ius in bello nationalstaatliche Schadensersatzansprüche begründen ‒ so die bisherige Überzeugung eines Großteils der Literatur.

Das Urteil: Ein Paukenschlag

Zwar dürfte niemanden überraschen, dass der III. Senat die Vorinstanzen im Ergebnis bestätigt und Ansprüche auf Schadensersatz in concreto verneint hat. Seine Begründungslogik erweist sich jedoch als ein regelrechter Paukenschlag: So schränkt er den sachlichen Anwendungsbereich des Amtshaftungsanspruchs dahingehend ein, dass er bei militärischen Handlungen im Rahmen militärischer Auslandseinsätze der Bundeswehr nicht zum tragen kommt (Rn. 20 ff.) ‒ eine Frage, die er in Vorgängerurteilen wie Distomo (III ZR 245/98) und Varvarin (III ZR 190/05) jedenfalls für die Zeit nach 1949 offengelassen hatte. Hiermit setzt er sich auch von dem BVerfG ab, das in der Sache Varvarin die Frage des Anwendungsbereichs des Amtshaftungsanspruchs zwar ebenfalls nicht endgültig klärte (2 BvR 2660/06, Rn. 52), sich aber doch intensiv und detailliert mit der Anwendung des Art. 34 GG iVm § 839 BGB durch die Untergerichte auseinandersetzte (dort Rn. 53 ff.). Der Sprengkraft und Angreifbarkeit seines Urteils ist sich der BGH wohl bewusst: So sichert er sein Ergebnis zusätzlich mittels einer „selbst wenn, dann“-Argumentation ab, indem er das Vorliegen einer Amtspflichtverletzung in concreto bei unterstellter Anwendbarkeit des Amtshaftungsregimes verneint (Rn. 40 ff.). Letzteres lässt sich durchaus argumentieren und soll auch hier nicht näher hinterfragt werden. Erhebliche Bedenken wirft jedoch sein erstes „argumentatives Standbein“ auf: Amtshaftungsnormen fänden angesichts ihres Wortlauts, der Gesetzgebungshistorie, ihres Telos und aus systematischen Erwägungen auf militärische Kampfhandlungen keine Anwendung. Einer richterlichen Rechtsfortbildung sei der Weg versperrt, da es Sache des Gesetzgebers sei, Entschädigungsfragen im Kontext von militärischen Auslandseinsätzen zu regeln (Rn. 27).

Vorab: Erfreuliches und Haltbares

Erfreulich ist zumindest, dass der BGH der immer wieder zu vernehmenden Exklusivitätsthese, wonach das humanitäre Völkerrecht Fragen der Kriegsentschädigung abschließend regelt und somit für nationale Schadensersatzansprüche kein Raum verbleibt, eine Absage erteilt (Rn. 21). Staaten sind darin frei, über das Völkerrecht hinausgehende Entschädigungsansprüche in ihrer Rechtsordnung vorzusehen. Gleichzeitig ist richtig, dass das Völkerrecht nicht zur Einräumung nationaler Entschädigungsansprüche für völkerrechtswidriges Handeln verpflichtet. Auch lässt sich trotz der zunehmenden Aufbrechung der Mediatisierung des Individuums durch seinen Heimatstaat auf völkerrechtlicher Ebene (zum Individuum als primärem Völkerrechtssubjekt eindrücklich Anne Peters, Jenseits der Menschenrechte) durchaus vertreten, dass das humanitäre Völkerrecht verletzten Individuen nach wie vor de lege lata keine unmittelbaren Entschädigungsansprüche zuspricht (Rn. 16; auch BVerfG in der Sache Varvarin, 2 BvR 2660/06, Rn. 43). Ferner gesteht der BGH richtigerweise ein, dass dem Wortlaut des Art. 34 GG iVm § 839 BGB keine Beschränkung seines Anwendungsbereichs auf hoheitliches Handeln außerhalb von Kampfhandlungen zu entnehmen sei (Rn. 28).

Der historische Gesetzgeber und der Hang des BGH zum Anachronismus

Eine solche ‒ so der BGH ‒ folge jedoch aus dem Willen des historischen Gesetz- und Verfassungsgebers (Rn. 29 f.). Diesem rekonstruierten „Willen“ räumt er im Rahmen der Auslegung der betreffenden Normen eine prominente, wenn nicht gar entscheidende Bedeutung ein. In der Tat wird man nicht in Abrede stellen können, dass dem Gesetzgeber bei der Schaffung des § 839 BGB im Jahre 1900 eine mögliche Amtshaftung für Geschehnisse im Rahmen von Kampfhandlungen wohl nicht vor Augen geschwebt hat – zumal damals eine Auffassung vom Krieg als allgemeinen Ausnahmezustand vorherrschte, der rechtliche Normalkategorien außer Kraft setzt, und eine rein zwischenstaatliche Konzeption des Völkerrechts dominierte. Entscheidend ist jedoch, dass seit Inkrafttreten des Grundgesetzes die Bestimmungen des BGB in einen völlig anderen normativen Rahmen gebettet sind, der die Bedeutung des historischen Gesetzgeberwillens relativiert. Das Argument, auch der Parlamentarische Rat habe bei Verabschiedung des Art. 34 GG keine militärischen Auslandseinsätze vor Augen gehabt, da das internationale militärische Engagement der Bundeswehr nach jetzigem Gepräge insgesamt nicht vorhersehbar gewesen sei, erscheint in gleichem Maße schwach. Es liegt gerade in der abstrakt-generellen Natur von Normen begründet, dass sie sich mit ihrem Inkrafttreten vom notwendigerweise beschränkten Verständnishorizont des Gesetzgebers emanzipieren und eine Eigendynamik entfalten. Dies belegt gerade auch der Auslegungskanon, bei dem der historische Wille nur eine ‒ und keineswegs die entscheidende ‒ Determinante zur Identifikation des Norminhalts darstellt. Gerade dies ermöglicht es, dass Normen im Zuge politisch-sozialer und rechtlicher Weiterentwicklungen nicht an Effektivität einbüßen und mit diesen Veränderungen wachsen. Die Betonung des BGH, dass seit Geltung des Grundgesetzes bis dato der Gesetzgeber niemals entschieden hat, den Anwendungsbereich des Art. 34 iVm § 839 BGB auszuweiten, trägt darüber hinaus nicht weit. Der Ansatz ist bereits verfehlt: Angesichts des Wortlauts des Art. 34 iVm § 839 BGB, der militärische Kampfhandlungen nicht vom Anwendungsbereich der betreffenden Normen ausnimmt, besteht eher Anlass dafür, nach einer expliziten Entscheidung des Gesetzgebers zu suchen, den Anwendungsbereich der Art. 34 iVm § 839 BGB einschränken zu wollen. Zudem weist der BGH vorschnell von der Hand, dass § 8 des Bundesentschädigungsgesetzes und § 16 des Gesetzes zur Errichtung einer Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ konkurrierende (Staatshaftungs)ansprüche ausschließen und somit deren grundsätzliches Gegebensein voraussetzen (siehe die sehr knappe Rn. 32).

Bewaffneter Einsatz kein Ausdruck gewöhnlicher Verwaltungstätigkeit

Der BGH verweist ferner darauf, dass der allgemeine Aufopferungsanspruch – darin der Ossenbühl‘schen Ansicht folgend – allein für gewöhnliche Verwaltungstätigkeiten gilt, zu denen Kampfhandlungen jedenfalls nicht gehörten. Gleiches müsse für den allgemeinen Amtshaftungsanspruch gelten (Rn. 33). Es widerspricht jedoch dem effektiven Schutz des Individuums, den Amtshaftungsanspruch nur auf den staatlichen Normalbetrieb zu beschränken (siehe auch OLG Köln, Az. 7 U 8/04, Rn. 117). Gerade in Ausnahmesituationen bestehen gesteigerte Schädigungsgefahren. Die besondere Schadensneigung von Handlungen als Argument anzuführen, um die Einschlägigkeit sekundärer Ansprüche zu verneinen, widerspricht dem Kerntelos der Staatshaftung.

Sorgen bereitet ferner die Annahme, das völkerrechtliche zwischenstaatliche Haftungsregime sei zum allgemeinen Amtshaftungsanspruch angesichts der Besonderheiten bewaffneter Konflikte als lex specialis zu betrachten (Rn. 34). So unterscheiden sich beide ihrer Natur nach wesentlich, weshalb es problematisch erscheint, sie in ein lex specialis/lex generalis-Verhältnis zu setzen. Letztendlich widerspricht sich der BGH hier selbst angesichts der Tatsache, dass er vorher dem völkerrechtlichen Haftungsregime gerade keine Exklusivität zugesprochen hat. Die angenommene Anspruchsparallelität von Völkerrecht und nationalem Recht verkommt bei einer solchen Betrachtung zu einer „inhaltsleeren Hülle“ (OLG Köln, Az. 7 U 8/04, Rn. 118).

Auch der Verweis darauf, dass Elemente des § 839 BGB wie die Subsidiaritätsklausel im Falle fahrlässiger Pflichtverletzungen oder der Vorrang des Primärrechtschutzes bei einer Anwendung auf militärische Kampfhandlungen strukturell leerliefen (Rn. 33), kann nicht überzeugen. § 839 BGB ist einer kontextbezogenen, adaptiven Auslegung im Lichte des Verfassungsrechts jedenfalls zugänglich und versperrt sich einer Anwendung auf militärische Handlungen im Rahmen bewaffneter Konflikte nicht. Nichts anderes belegt die Judikatur, die – wie auch der BGH hier im Rahmen seiner „selbst-wenn“-Argumentation – keine großen Schwierigkeiten hat, die Tatbestandsvoraussetzungen der Art. 34 iVm § 839 BGB auch im Hinblick auf Kampfhandlungen zu prüfen (siehe BGH selbst in der Rechtssache Varvarin ‒ III ZR 190/05).

Amtshaftung als Effektivierung des ius in bello: Ein Gebot der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes

Besonders schwer ins Gewicht fällt, dass der BGH die Implikationen des Grundsatzes der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes, das das BVerfG seit langem als verfassungsrechtliches Leitprinzip anerkannt hat (siehe nur 2 BvR 955/00, 1038/01, Rn. 93), nicht hinreichend würdigt (Rn. 36): So ist das humanitäre Völkerrecht in seiner gewohnheitsrechtlichen Ausprägung kraft Art. 25 GG Teil der deutschen Rechtsordnung und hat insofern an dem Rechtsanwendungsbefehl des Art. 20 III GG teil. Die Völkerrechtsfreundlichkeit gebietet die innerstaatliche Förderung der Befolgung völkerrechtlicher Gebote und vermittelt insofern einen Auftrag zur effektiven Durchsetzung des Völkerrechts, somit auch des humanitären Völkerrechts. Auch wenn dem Völkerrecht individuelle Sekundäransprüche nach dem derzeitigen Stand nicht entnommen werden können und es Nationalstaaten auch nicht dazu verpflichtet, individuell einklagbare Schadensersatzansprüche für die Verletzung völkerrechtlicher Normen in ihren Rechtsordnungen zu schaffen, ist verfassungsrechtlich allein entscheidend, dass im deutschen Recht ein positivierter Haftungstatbestand existiert, der einer Auslegung zugänglich ist, die dem völkerrechtlichen Individualschutz, den zahlreiche Bestimmungen des ius in bello vermitteln, Effektivität verleiht: Der Amtshaftungsanspruch ist ein wirkungsvolles Instrument, um eine Befolgung der völkerrechtlichen Primärpflichten sicherzustellen. Seinen Anwendungsbereich per se zu verneinen, zeugt regelrecht von einer völkerrechtsunfreundlichen Auslegung.

„Ausnahmezustand“ und „Notstandsnarrativ“ als verfassungsrechtliche Fremdkörper

Wie es auch in anderen thematisch verwandten Urteiles des BGH und der Instanzgerichte der Fall ist, wird in der Diskussion ein zentrales verfassungsrechtliches Moment stiefmütterlich behandelt: Drittbezogene Amtspflichten, deren Verletzung potentiell Schadensersatzansprüche nach dem allgemeinen Amtshaftungsanspruch nach sich zieht, fließen nicht nur aus dem humanitären Völkerrecht, das den Staaten Primärpflichten auferlegt und das Individuum als solches berechtigt, sondern sind darüber hinaus unmittelbarer Ausfluss der Grundrechte. Diese binden die deutsche Staatsgewalt auch bei einem Tätigwerden im Ausland wie auch die unbedingte Formulierung des Art. 1 III GG spiegelt. Sie schränken die Ausübung deutscher Hoheitsgewalt durch die Bundeswehr ebenfalls im Rahmen von bewaffneten Konflikten ein ‒ unabhängig davon, ob ihr Tätigwerden innerhalb multilateraler, womöglich institutionell umhegter Einsätze erfolgt oder nicht. Weder wird die Werteordnung des Grundgesetzes selbst im Rahmen von kriegerischen Auseinandersetzungen suspendiert, noch büßen Grundrechte ihre fundamentale subjektiv-rechtliche Berechtigungswirkung ein. Deutlich wird dies insbesondere an Art. 115c II GG, welcher anordnet, dass nur bestimmte Grundrechte im Verteidigungsfall eingeschränkt werden können ‒ was deren grundsätzliche Fortgeltung auch im Falle eines Verteidigungskrieges indiziert. Anführen lassen sich ferner Art. 12a III-VI GG, die die Schutzgehalte des Art. 12 GG für den Verteidigungsfall modifizieren. Hier wird allzu offenbar, dass das Grundgesetz überkommenen Notstandskonzeptionen eine Absage erteilt.

Allerdings verdeutlicht Art. 115a GG gerade dadurch, dass er von der Möglichkeit eines Verteidigungskrieges ausgeht, dass sich das Grundgesetz hiermit verbundenen Tötungshandlungen nicht ausnahmslos in den Weg stellt. Insofern indiziert das Grundgesetz selbst, dass der substantielle Gehalt der Grundrechte im Kontext bewaffneter Konflikte wohl ein anderer sein muss als bei Sachverhalten, die sich innerhalb Deutschlands in Friedenszeiten ‒ wenn man so will im „Normalfall“ ‒ ereignen. An dieser Stelle wird ein zuhöchst unsicheres dogmatisches Terrain betreten: So sind die Wechselwirkungen zwischen Grundrechten und dem humanitären Völkerrecht seit langem Gegenstand von wissenschaftlichen Kontroversen und bis dato höchstrichterlich nicht abschließend geklärt. Das humanitäre Völkerrecht verdrängt jedenfalls nicht als lex specialis die grundrechtlichen Verbürgungen, da es dem Grundgesetz normhierarchisch untergeordnet ist. Insofern besteht vielmehr eine Verpflichtung seitens der Gerichte, das ius in bello verfassungskonform im Rahmen der deutschen Rechtsordnung zur Anwendung zu bringen. Die meisten Stimmen scheinen sich für eine systemische Integration dahingehend auszusprechen, dass das Recht auf Leben aus Art. 2 II 1 GG im Rahmen von bewaffneten Konflikten dann nicht verletzt ist, wenn die in Frage stehende Handlung im Einklang mit humanitärem Völkerrecht steht. Dem humanitären Völkerrecht kommt insofern eine Indikatorfunktion für den geänderten grundrechtlichen Schutzgehalt zu (sei es auf Ebene