Die Kosten des Sich-Zeit-Nehmens
Die Bundeshauptstadt zum Stillstand, um die Bundesregierung zur Bewegung zu bringen – für dieses Ziel setzen sich gerade wieder Dutzende von Klimaaktivist*innen auf die vom Autoverkehr zugestopften Berliner Straßen und werden von dort von wütenden Autofahrern teils mit brutaler Gewalt wieder heruntergezerrt. Der Druck steigt im bundesdeutschen Kessel, da schaukelt sich was auf, da braut sich was zusammen, das scheint allmählich richtig gefährlich für Demokratie und Rechtsstaat zu werden. Um seiner Beunruhigung über diese Eskalation die rechte historische Würze zu verleihen, hat Bundesjustizminister Marco Buschmann von der FDP jetzt einen riskanten Vergleich angestellt: „In den 1920er und 1930er Jahren gab es in Berlin straßenschlachtartige Zustände, weil sich Menschen am linken und rechten politischen Rand selbst ermächtigt fühlten, sich über die Rechtsordnung zu stellen und die eigenen Vorstellungen mit der Faust durchzusetzen. Das darf sich nicht wiederholen.“
Weimar? Echt jetzt? Die Letzte Generation in Zusammenhang mit ausgerechnet dem Roten Frontkämpferbund zu setzen, wäre eine wahrhaftig sagenhaft bescheuerte Idee, und eine Parallele zwischen irgendwelchen aufgelösten Autofahrern und der SA schon sowieso. Verglichen damit nähme sich ja sogar Alexander Dobrindts Rede von der entstehenden “Klima-RAF” noch regelrecht luzide aus. Wenn der Minister trotzdem für seinen Vergleich auf eine gewisse Resonanz hoffen kann, dann aus anderen Gründen. Welche könnten das sein?
Bemerkenswert an dem aktuellen Konflikt um den Klimaschutz ist, dass eine der Konfliktpositionen die Leugnung ist, dass es sich überhaupt um einen richtigen Konflikt handelt. Was habt ihr denn, sagen sie, wir sind doch im Kern alle der gleichen Meinung! Klimawandel, natürlich, Riesenproblem, müssen wir unbedingt was machen! Nur was halt, klar, darüber kann man streiten. Das eine kostet halt die einen mehr, das andere die anderen, und welcher Mix daraus am Ende kollektiv verbindlich werden soll, ist eine ganz normale Frage der Vielfalt koexistierender Policy-Präferenzen, die dann durch ganz normale demokratische Verfahren der Deliberation und Mehrheitsfindung beantwortet werden muss. Das ist also eigentlich gar kein richtiger Konflikt, was wir da haben, sondern ein gemeinsames Problem, das gemeinsam zu lösen halt seine Zeit braucht. Also immer langsam und geduldig, dann wird das schon.
Was damit unsichtbar gemacht wird, ist die radikale und existenzielle Ungleichheit, mit der das Sich-Leisten-Können von Zeit in der Gesellschaft verteilt ist. Wenn sich die vermeintlich gemeinsame Lösung des vermeintlich gemeinsamen Problems immer weiter vertagt und verzögert und verwässert und in die Länge zieht, dann zahlen mitnichten dafür alle den gleichen Preis. Für mich reichen 50-Jährigen heißt Abwarten, Aushandeln, Vorsichtig-und-Moderat-Bleiben radikal und existenziell geringere Kosten als für eine prekäre 20-Jährige. Die Kosten des Sich-Zeit-Nehmens sind radikal und existenziell ungleich verteilt, und diese Ungleichheit lässt sich weder ohne Weiteres demokratisch prozessieren noch progressiv und wachstumsfroh der Zukunft überantworten noch ausgrenzen und an bzw. über den Rand der Gesellschaft schieben. Sie ist da, und je größer die Anstrengungen, sie unsichtbar zu machen, desto lauter wird sie sich Gehör verschaffen.
Das ist der Konflikt.
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Ich bin kein Historiker, ebenso wenig wie Buschmann, soweit ich weiß. Aber könnte man unter dem Aspekt seinem vogelwilden Weimar-Vergleich nicht vielleicht tatsächlich sogar etwas abgewinnen? Ist nicht die erste deutsche Demokratie (neben der Dummheit und Niedertracht einiger Konservativer) nicht zuletzt an der radikalen und existenziellen und durch Kriegsfolgen, Inflation und Weltwirtschaftskrise immer radikaler und immer existenzieller werdenden Ungleichheit gescheitert, die sie nicht mehr in den Griff bekommen hat und vielleicht auch gar nicht bekommen konnte? Wurde nicht der demokratische Liberalismus zwischen Kommunismus und Nationalsozialismus zerrieben, nicht so sehr, weil ihm und seiner liberalen demokratischen Rechts- und Verfassungsordnung plötzlich zu viele Menschen irgendwie aus heiterem Himmel und vor lauter Übermut auf der Nase herumtanzten, sondern weil er zu vielen Menschen in zu existenzieller Not nichts Relevantes mehr zu sagen hatte?
Die Rechts- und Verfassungsordnung – das würde der liberale Demokrat und Jurist Marco Buschmann sicherlich jederzeit unterschreiben – ist es, das es der Gesellschaft in ihrer Vielfalt möglich macht, ihre Meinungs- und Interessenverschiedenheiten friedlich auf Dauer zu stellen. Die demokratischen Verfahrensregeln der Verfassung, die rechtsstaatlichen Verfahren des Verwaltungs-, Zivil- und sonstigen Prozessrechts, die durch das Strafrecht und die Grundrechte gezogenen Grenzen des der Gesellschaft bzw. dem Staat Erlaubten, die ganze Rechtsordnung mit der in ihr und durch sie garantierten Absage an Willkür und Gewalt.
Natürlich ist, wie jeder kritische Geist weiß, die Rechtsordnung dabei kein neutraler, allen gesellschaftlichen Interessen gegenüber äquidistanter Ort, sondern Produkt und Instrument konkreter gesellschaftlicher Machtverhältnisse. Aber gerade weil das so ist, müssen diejenigen, denen die Macht verliehen ist, dieses Instrument zu bedienen, von einem Ethos der Unparteilichkeit erfüllt sein. Richter*innen und Verwaltungsbeamt*innen müssen wirklich und ernsthaft glauben, dass sie ihre Entscheidungen dem Recht entnehmen und nicht den Vorlieben und Interessen, denen sie verhaftet sind. Die Polizei muss wirklich und ernsthaft glauben, dass sie das Recht schützt, auch wenn dieses Recht Demonstrant*innen Freiheiten gewährt, die ihr persönlich und institutionell zutiefst zuwider sind. Neutralität als “unverzichtbare Fiktion” hat der Philosoph Kwame Anthony Appiah dies soeben in einem sehr lesenswerten Essay genannt. Unverzichtbar ist sie deshalb, weil ohne sie die Instrumente nicht wirken. Ein Urteil eines befangenen Richters, eine Entscheidung einer korrupten Beamtin, ein Demoverbot eines politisch instrumentalisierten Polizeipräsidenten gibt denjenigen, die das für sich als verbindlich akzeptieren sollen, keinerlei vernünftigen Grund, das tatsächlich zu tun, außer die Furcht vor Gewalt. Gewaltherrschaft ist aber notorisch teuer, ineffizient und instabil, weshalb es im eigenen Interesse der Herrschenden liegt, es dazu gar nicht erst kommen zu lassen, solange sie eine andere Wahl haben, und daher die Fiktion der Neutralität möglichst glaubwürdig zu erhalten. Das ist nicht zynisch, sondern Demokratie.
Iris Spranger, Innensenatorin der Bundeshauptstadt Berlin, hat gerade das exakte Gegenteil davon getan, als sie ihr Bedauern darüber verriet, dass Gewalt und Selbstjustiz gegen Klimaaktivist*innen “leider dann eben auch zur Rechenschaft gezogen” werden müsse. Damit auch der Letzte versteht, auf welcher Seite die Chefin des Berliner Sicherheitsapparats in dem aktuellen Konflikt zu finden ist, hat sie als Reaktion auf Kritik an ihrer Wortwahl ausrichten lassen, sie verstehe ja nur zu gut, dass alle auf die Klimakleber sauer seien, aber Selbstjustiz sei halt trotzdem die falsche Antwort. Damit hat sie den Beweis erbracht, dass die vollziehende Gewalt in der Bundeshauptstadt sich in diesem Konflikt von vornherein als Partei begreift, und damit der liberalen demokratischen Verfassung viel schwereren Schaden zugefügt, als alle Klima-Aktivist*innen mit ihrem die Regel des Rechts doch nur bestätigenden zivilen Ungehorsam zusammen. Aber wir brauchen uns nur an die eigene Nase zu fassen. Jedes Mal, wenn wir uns widerspruchslos in den Medien und im Rundfunk von der unbeschreiblichen “Gewerkschaft der Polizei” zu allen möglichen aktuellen sicherheitspolitischen Themen Kommentare und Forderungen servieren lassen, als sei die Polizei irgendein politischer Interessenverband und nicht die verkörperte Exekutivgewalt, tun wir doch im Grunde das Gleiche.
Iris Spranger ist, anders als Marco Buschmann, Sozialdemokratin. In der Mitte des 20. Jahrhunderts war es das Ideenreservoir der Sozialdemokratie – Sozialstaat, Daseinsvorsorge, Partizipation, progressive Steuern – das dem demokratischen Liberalismus nach seiner tiefsten Krise half, zu neuer Kraft zurückzufinden. So wurde die Ungleichheit wieder auf ein demokratisch einigermaßen prozessierbares Maß herunterregelt (und darüber neue, mühevoll unsichtbar gemachte Ungleichheit geschaffen). Aus diesem Bemühen sind die liberal-demokratischen Verfassungen, mit denen wir bis heute operieren, im Wesentlichen entstanden.
Jetzt sieht es so aus, als bekäme der demokratische Liberalismus es erneut mit einer Ungleichheitslage von einer Radikalität und Existenzialität zu tun, mit der er womöglich nicht mehr ohne weiteres fertig wird. Ob er das schafft? Wenn Liberale und Sozialdemokraten langsam mal anfangen würden, sich mit dem Gedanken zu beschäftigen, eventuell in das Anfangsstadium eines Nachdenkprozesses einzutreten, auf welchem Wege man sich der potenziellen Möglichkeit nähern könnte, eine Herangehensweise zu entwerfen, dafür Ideen zu entwickeln, dann würde ich meinerseits anfangen, mir ein wenig Hoffnung zu erlauben.
Die Woche auf dem Verfassungsblog
… zusammengefasst von PAULA SCHMIETA:
Der EU-Rat beabsichtigt, das Visumverfahren für den Schengen-Raum zu digitalisieren. MIRKO FORTI spricht sich gegen den aktuellen Vorschlag des Rates aus, denn Forti befürchtet, dass die Grundrechte von Visumantragsteller*innen hinter Sicherheits- und Effizienzüberlegungen zurücktreten müssten.
Zwei niederländische Investoren haben sich kürzlich an ein US-Gericht gewandt, um einen so genannten „EU-internen Investor-Staat-Schiedsspruch“ im Rahmen des Energiecharta-Vertrags gegen Spanien durchzusetzen. Das Gericht befand jedoch, dass Spanien zuvor gar nicht in der Lage gewesen war, eine Schiedsvereinbarung zu schließen. STEFFEN HINDELANG, JULIA NASSL & ARGHA KUMAR JENA erläutern, wie es dazu kam, dass ein US-Gericht EU-Recht durchsetzt.
Am 14. April hat der französische Verfassungsrat die Rentenreform der französischen Regierung im Wesentlichen als verfassungsgemäß bestätigt. TIM WIHL meint, dies sei erwartbar gewesen, erörtert die verfassungsrechtliche Kritik an der Reform und erklärt wie diese mit der „Legitimitätskrise der V. Republik“ zusammenhängt.
Ende letzten Monats fand vor dem EGMR eine Anhörung in der Rechtssache KlimaSeniorinnen v. Switzerland statt. Besonders an dem Fall ist, dass die Klägerinnen argumentieren, dass sie als ältere Frauen unverhältnismäßig stark von den Auswirkungen des Klimawandels betroffen seien. PETRA SUßNER untersucht inwieweit es sich hierbei um einen intersektionalen Fall handelt, und denkt über die Auswirkungen von Intersektionalität auf Klimaprozesse nach.
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Soll Deutschland bis 2050 klimaneutral sein, müssten die Bundesländer Kredite aufnehmen, um angemessene Klimaschutzmaßnahmen finanzieren zu können. JOACHIM WIELAND legt dar, wie die Länder den verfassungsrechtlichen Verpflichtungen zum Klimaschutz trotz der Schuldenbremse nachkommen können.
YANNIK BREUER & JANNIK KLEIN berichten über die Verhandlung über die „kleine“ Wahlrechtsreform von 2020, die diese Woche vor dem BVerfG stattfand. Obwohl das verhandelte Recht mittlerweile von der neuen „großen“ Wahlrechtsreform dieses Jahres überholt wurde, könnte die Entscheidung dennoch große Auswirkungen auf das aktuelle Wahlrecht haben.
Seit 2020 haben vier Bundesländer sogenannte Anti-Antisemitismusklauseln in ihre Verfassungen aufgenommen. ULRIKE LEMBKE & CHRISTOPH SCHUCH finden diese explizite Verankerung „durchaus begrüßenswert“, dennoch – so Lembke und Schuch – werfe dies rechtliche Fragen auf, die „nicht ohne Weiteres als geklärt“ gelten könnten.
In Mexiko nehmen die Spannungen zwischen dem mexikanischen Obersten Gerichtshof und dem Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte (IACHR) in der Frage der gerichtlichen Überprüfung von Verfassungsbestimmungen und -änderungen zu. JAIME OLAIZ-GONZALEZ, DANIEL TORRES-CHECA & SEBASTIÁN INCHÁUSTEGUI erläutern die besondere Rolle des IACHR im mexikanischen Verfassungssystem und die Auswirkungen seiner jüngsten “einzigartigen Entscheidung”.
MING-SUNG KUO reagiert auf den Artikel von letzter Woche zu Taiwans rechtlichem Status. In Bezug auf die einschlägige Resolution der UN-Vollversammlung meint er, dass “eine Streiterei mit China über die ursprüngliche Bedeutung der Resolution Taiwan nicht wirklich dabei helfen wird, sich aus der Zwangsjacke der Resolution zu befreien”, da dass das Kernproblem nicht so sehr die ursprüngliche Bedeutung der Resolution, sondern ihre fortdauernde Geltung sei.
Außerdem endet unsere Blog-Debatte 50 Years On: Ireland and the UK In and Out of the EU mit einem Beitrag von IMELDA MAHER & JOELLE GROGAN.
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Soweit für diese Woche. Ihnen alles Gute und bis zum nächsten Mal! Bitte versäumen Sie nicht zu spenden!
Ihr
Max Steinbeis
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