29 November 2024

Die Mühen der Differenzierung

Fünf Fragen an Sabine Leutheusser-Schnarrenberger

Diese Woche stand der Verfassungsblog ganz im Zeichen von EYES EVERYWHERE, unserem Focus-Symposium zu staatlicher und privater Massenüberwachung unter der EU-Grundrechtecharta. Kernfrage ist die Abwägung zwischen Sicherheitsinteressen und Grundrechten in einer zunehmend digitalisierten Welt. Antworten auf die Frage, wie weit demokratische Gesellschaften im Namen der Sicherheit gehen dürfen, fallen im Rahmen des Symposiums differenziert aus. Die frühere Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger ist eine der profiliertesten Stimmen im deutschen Datenschutzrecht.

1. Joachim Herrmann betont im Lichte der EuGH-Entscheidung zu La Quadrature du Net II: „Das Maß der Bedrohung bestimmt die Verhältnismäßigkeit der Mittel – beides unterliegt dem fortwährenden Wandel der Zeit.“ Sehen Sie einen solchen Wandel der Zeit, die von Herrmann beschriebene höhere Bedrohung, und teilen Sie seine Einschätzung, dass es auch in der inneren Sicherheit einer „Zeitenwende“ bedarf?

Zwar gibt es immer wieder problematische Entwicklungen in der inneren Sicherheit, doch Bedrohungslagen werden auch überzeichnet. Insgesamt ist Deutschland ein sicheres Land. Unbestritten hat das Internet die Kriminalität grundlegend verändert, sie wurde zunehmend in den digitalen Raum verlagert. Die Forderung nach neuen Überwachungsbefugnissen oder gar einer „Zeitenwende“ lässt jedoch ganz entscheidende Aspekte außer Acht. Erstens müssen die meisten digitalen Bedrohungen auch ganz real bekämpft werden – zumal die Aufklärungsquoten auch im Digitalen stabil sind. Zweitens ist fraglich, ob die geforderten Instrumente tatsächlich mehr Sicherheit bringen. Hier fehlt es an ausreichender Evidenz, auch weil es oft keine Evaluationsklauseln gibt. Anstatt sich mit diesen Punkten auseinanderzusetzen und für eine evidenzbasierte, grundrechtsorientierte Reform der Sicherheitsarchitektur zu plädieren, werden von Herrn Herrmann und anderen oft floskelhaft Ausflüchte gesucht. Natürlich schränken digitale Überwachungsmaßnahmen die Freiheiten der Bürgerinnen und Bürger ein. Diese „Gewissheit früherer Tage“ sahen schon die Väter und Mütter unseres Grundgesetzes. Grundrechte waren nie als „Schönwetterinstitutionen“ gedacht. Sie sollen gerade in Zeiten von Unsicherheit und Bedrohung den Schutz des Einzelnen sicherstellen, auch wenn es der Mehrheit oder dem Staat opportun erscheint, sie einzuschränken.

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2. Die damals noch bestehende Ampel-Regierung schien in diesem Sommer einen solchen Änderungsbedarf zu sehen und hat im Rahmen des „Sicherheitspakets“ unter anderem für die Möglichkeit der KI-gestützten biometrischen Auswertung des Internets gestimmt (Teile des Pakets wurden jedoch vom Bundesrat gestoppt). Kritikerinnen und Kritiker befürchten, dass dies nur möglich sein wird, in dem man umfangreiche Datenbanken mit sämtlichem Bildmaterial aus dem Internet anlegt, um dann in diesem auf Vorrat gespeicherten Material gezielt nach Tatverdächtigen zu suchen. Wie bewerten Sie diese Maßnahmen?

Der biometrische Internetabgleich eröffnet neue Überwachungsmöglichkeiten, die vor wenigen Jahren noch unvorstellbar waren. Die KI-Technologie entwickelt sich rasant und ohne absehbaren Endpunkt, die Technologieoffenheit war deshalb ein zentrales Problem des Sicherheitspaketes. Wegen der vielfältigen Umsetzungsmöglichkeiten blieb unklar, wie stark in die Grundrechte eingegriffen wird. Wesentliche Entscheidungen sollten jedoch im Sinne der Grundrechte direkt im Gesetz getroffen werden. Beim Sicherheitspaket gab es eine bewegte Debatte, in deren Verlauf viele problematische Bestimmungen nachgebessert oder mit Sicherungsmechanismen flankiert wurden. Die Debatte darüber, welche KI-Systeme wir in einer Demokratie für nicht mehr erträglich halten, wurde im Rahmen der KI-Verordnung auf europäischer Ebene ausgiebig geführt. KI-Systeme, die Bilder ungezielt aus dem Internet auslesen, um Datenbanken zur biometrischen Gesichtserkennung zu erstellen oder zu erweitern, sind nach der KI-Verordnung verboten. Auch in nationalen Gesetzen sollte diese Grenze klar festgeschrieben werden. Dass Teile des Sicherheitspakets nun im Bundesrat scheiterten, weil manche Länder mehr Überwachung forderten, lässt darauf schließen, dass diese Debatte in Deutschland nochmal neu geführt werden soll. Ich warne davor, dies mit populistischen Parolen und innerhalb weniger Wochen zu tun. Hierzu braucht es eine breitere und weniger aufgeregte Debatte.

3. Der EuGH äußert in seiner Entscheidung aus dem April die Befürchtung, dass ohne die IP-Vorratsdatenspeicherung „eine echte Gefahr der systemischen Straflosigkeit“ bestehe. Dieses Argument wird immer wieder in Forderungen nach der Vorratsdatenspeicherung vorgebracht. Haben Sie den Eindruck, dass hierbei die umfassenden Datenspuren, die von privaten Anbietern aus kommerziellen Zwecken gesammelt werden, ausreichend berücksichtigt werden? Sollten diese in eine „Überwachungsgesamtrechnung“ miteinfließen?

Die Vorstellung, dass nur die Vorratsdatenspeicherung Straflosigkeit verhindern kann, wurde widerlegt. Seit mehr als zehn Jahren gibt es in Deutschland keine Vorratsdatenspeicherung (VDS) und die Sicherheitsbehörden verkünden trotzdem jedes Jahr bessere Aufklärungsquoten. Beim Wegfall der VDS habe ich damals als Justizministerin eine Studie in Auftrag gegeben, die mögliche Schutzlücken ermitteln sollte. Das Ergebnis war eindeutig, dass solche nicht existieren. Außerdem gibt es mit dem Quick Freeze Modell bereits seit Jahren eine Alternative zur VDS, die auf dem Tisch liegt. Dieses Modell umzusetzen und dann zu evaluieren wäre ein sinnvoller Weg, um den Sicherheitsbehörden ein neues rechtssicheres Instrument an die Hand zu geben, mit dem sie unter anderem auf IP-Adressdaten zugreifen können.

Der Gedanke hinter der Überwachungsgesamtrechnung ist, dass permanente Überwachung das Wesen der Gesellschaft grundlegend verändert. Es gehört zur verfassungsrechtlichen Identität der Bundesrepublik Deutschland, dass die Wahrnehmung von Freiheit nicht total erfasst oder registriert werden darf. Der Gesetzgeber muss bei der Überlegung zu neuen Instrumenten deshalb die bereits bestehenden Überwachungsbefugnisse berücksichtigen. Will der Staat seine Überwachungsreichweite durch den Zugriff auf private Datensammlungen ausweiten, müssen diese ebenfalls in die Gesamtrechnung einbezogen werden, das ist für mich ganz klar.

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4. Halten Sie es für notwendig, dass der deutsche oder europäische Gesetzgeber verstärkt gegen solche privaten Datensammlungen vorgeht, beispielsweise durch eine Reform der DSGVO oder die Einführung der ePrivacy-VO, die seit langem auf Eis liegt?

Umfangreiche Datensammlungen machen uns verwundbar, sowohl individuell als auch gesellschaftlich. Beispielhaft ist Metas Datensammlung, die die Onlineaktivität der Nutzer innerhalb und außerhalb von Facebook nahezu vollständig aufzeichnet, was das Gefühl ständiger Überwachung erzeugen kann. Das betonte der EuGH im Oktober und stellte unter anderem fest, dass Meta Daten nicht zeitlich unbegrenzt für zielgerichtete Werbung nutzen darf, sondern damit im Gegenteil gegen das Prinzip der Datenminimierung verstößt. Das unterstreicht die Bedeutung der DSGVO-Prinzipien; es zeigt aber auch, dass sie oft nur von Datenschützern (wie in diesem Fall Max Schrems) eingeklagt werden. Nicht nur, weil die Praktiken verschleiert werden, sondern auch, weil viele sie als unvermeidlich oder sogar normal wahrnehmen. Es bedarf daher an dieser Stelle einer besseren Rechtsdurchsetzung und auch die Wiederaufnahme der Verhandlungen zur ePrivacy-VO könnte nützlich sein.

5. Immer wieder kommt es im Internet zu massiven anonymen Beleidigungen und Volksverhetzung. Sie waren bis Ende Oktober dieses Jahres Antisemitismus-Beauftragte des Landes Nordrhein-Westfalen und haben sich in dieser Rolle professionell mit antisemitischen Straftaten im Netz auseinandergesetzt. Haben Sie den Eindruck, dass die Anonymität im Internet solche Taten begünstigt bzw. ein relevantes Hindernis bei der Strafverfolgung solcher Taten darstellt?

Anonymität schützt die freie Meinungsäußerung und ist für eine Demokratie unverzichtbar – sowohl offline als auch online. Sie ermöglicht es Menschen, über höchstpersönliche, religiöse und politische Themen zu sprechen, ohne unmittelbare Ächtungen und Repressionen befürchten zu müssen. Das Problem ist nicht, dass das Internet Raum für Anonymität bietet, sondern die wachsende gesellschaftliche Akzeptanz antisemitischer Äußerungen. Sie hat ein Ausmaß angenommen, das uns wachrütteln muss. Zunehmend verbreiten Menschen antisemitische Hetze offen unter ihrem echten Namen – in sozialen Medien, Kommentaren und Drohschreiben. Aber auch auf der Straße, im Rahmen offen antisemitischer Demonstrationen, häufig getarnt als Kritik an israelischer Politik. Personen, die Hass verbreiten möchten, lassen sich offenbar nicht mehr ausreichend durch Gesetze davon abschrecken. Die Kehrseite der Anonymität im Netz wäre die sogenannte Klarnamenpflicht, über die bereits seit Beginn des Internets gestritten wird. Auch eine solche Maßnahme führt nicht zum Erfolg, wie das Beispiel Südkorea zeigt. Dort gingen böswillige Kommentare wie Verleumdungen und Beleidigungen kaum zurück – und das, obwohl solche Ehrverletzungen auch nach koreanischen Strafrecht strafbewehrt sind. Eine Studie der Universität Zürich zeigt sogar, dass Nutzende unter ihrem echten Namen häufig aggressiver sind als anonyme Nutzende. Deshalb brauchen wir wirklich effektive Methoden, um strafbare Formen von Hass im Netz strukturell und konsequent zu bekämpfen. Es kann nicht angehen, dass verfolgbare Straftaten aus organisatorischen, finanziellen oder personellen Gründen ungestraft bleiben.

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Editor’s Pick

von MARIE MÜLLER-ELMAU

Der Dezember ist da, und was gibt es passenderes, als Plätzchen zu backen? Heidesand gehört zu den köstlichsten Klassikern der Weihnachtsbäckerei, ähnelt dem schottischen Shortbread und ist einfach zuzubereiten. Wichtig ist, die Butter abkühlen zu lassen, bevor sie weiterverarbeitet wird. Außerdem die vorgegebene Backzeit nicht zu überschreiten, auch wenn die Plätzchen noch sehr weich wirken – sie härten beim Abkühlen nach. Am Ende die noch ofenwarmen Plätzchen mit Zucker (und Salz!) bestreuen. Abkühlen lassen. Fertig.

Zutaten (für ca. 40 Stück): 250 g Butter, 125 g Zucker, 1 Päckchen Vanillezucker, 300 g Mehl, zum Bestreuen: Zucker oder Salz, alternativ mit Schokolade überziehen.

Zubereitung: 1. Butter in einem Topf bei mittlerer Hitze schmelzen lassen, bis sie leicht bräunlich wird. Dann abkühlen lassen, bis sie wieder fest, aber noch weich ist. 2. Butter mit Zucker und Vanillezucker cremig schlagen. Mehl hinzufügen und alles zu einem glatten Teig verkneten. 3. Teig in Rollen (ca. 3-4 cm Durchmesser) formen, in Frischhaltefolie wickeln und für mindestens 2 Stunden kaltstellen. 4. Die gekühlten Teigrollen in ca. 0,5 cm dicke Scheiben schneiden oder mit Förmchen ausstechen. 5. Backofen auf 180 °C vorheizen und die Plätzchen ca. 10-12 Minuten backen. Solange sie noch warm sind, mit etwas Zucker oder Salz bestreuen.

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Die Woche auf dem Verfassungsblog

…zusammengefasst von FRIEDRICH ZILLESSEN

Darf der Verfassungsschutz sein neues AfD-Prüfergebnis im nahenden Wahlkampf veröffentlichen? TILL PATRIK HOLTERHUS und JANOSCH WIESENTHAL (DE) haben sich die Rechtslage – konkret § 16 Abs. 1 BVerfSchG und das verfassungsrechtliche Gebot staatlicher Neutralität und Mäßigung – genauer angeschaut und kommen zu dem Schl