Kein Verfassungsschutz im Wahlkampf?
Zur Information über die verfassungsschutzrechtliche Neubewertung der AfD und dem Gebot staatlicher Neutralität in der Öffentlichkeitsarbeit
Die AfD wird seit 2021 als Gesamtpartei durch das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) als sog. Verdachtsfall beobachtet. Das OVG NRW hat die Rechtmäßigkeit dieser Beobachtung vor Kurzem bestätigt (OVG NRW, Az.: 5 A 1218.22). Im Oktober dieses Jahres hatte der damalige Präsident des BfV Thomas Haldenwang angekündigt, dass in 2024 und insbesondere noch vor der nächsten Bundestagswahl mit einer verfassungsschutzrechtlichen Neubewertung der AfD und der Veröffentlichung der entsprechenden Einstufung zu rechnen sei.
Jetzt ist jedoch zu vernehmen, dass das BfV zwar zu einer verfassungsschutzrechtlichen Neubewertung gekommen sei, die Öffentlichkeit aber nun doch nicht mehr in 2024 und auch nicht vor der nahenden Bundestagswahl, sondern erst danach über das Ergebnis dieser Neubewertung informieren wolle. Zur Begründung wird vorgebracht, dass die dem Bundesministerium des Inneren und für Heimat (BMI) nachgeordnete Behörde eine verfassungsrechtliche Verpflichtung zur staatlichen Neutralität und Mäßigung in Zeiten des Wahlkampfes treffe. Wegen der zeitlichen Nähe zur vorgezogenen Bundestagswahl sei die Veröffentlichung der Neubewertung als staatlicher „Einfluss auf die politische Wahlentscheidung der Bürgerinnen und Bürger“ nicht zulässig.
Dies überzeugt nicht. Vielmehr ist das BfV – jedenfalls im Falle einer möglichen Hochstufung der AfD zum Beobachtungsfall – sogar dazu verpflichtet, noch vor der Bundestagswahl öffentlich über die verfassungsschutzrechtliche Neubewertung zu informieren.
„Das Bundesamt für Verfassungsschutz informiert die Öffentlichkeit“
Zum Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, des Bestandes und der Sicherheit des Bundes und der Länder besteht die zentrale Aufgabe des BfV in der (auch verdeckten) Sammlung und Auswertung von Informationen über verfassungsfeindliche Bestrebungen und Tätigkeiten (§ 1 Abs. 1, § 3, § 4 BVerfSchG). Der Umfang der dem BfV dafür zur Verfügung stehenden Befugnisse (§§ 8 ff. BVerfSchG) richtet sich nach dem Ausmaß der Verfassungsfeindlichkeit des jeweiligen Beobachtungsobjekts, bei dem es sich – in engen verfassungsrechtlichen Grenzen – auch um politische Parteien (und deren Teilorganisationen) handeln kann. Eine in Rechtspraxis und Rechtsprechung entwickelte Stufung unterscheidet insoweit zwischen Prüffall (gewisse Anhaltspunkte für verfassungsfeindliche Bestrebungen), Verdachtsfall (tatsächliche Anhaltspunkte für verfassungsfeindliche Bestrebungen) und Beobachtungsfall (gesichert verfassungsfeindlich).
Neben der Sammlung und Auswertung von Informationen kommt dem BfV die weitere wichtige Aufgabe zu, die Öffentlichkeit über ihre Beobachtungen zu informieren. Im Sinne eines kommunikativen „Verfassungsschutzes durch Aufklärung“ dient dies dem Zweck, der Öffentlichkeit eine informierte und kritische Einordnung und Auseinandersetzung mit den jeweiligen Beobachtungsobjekten zu ermöglichen. Neben dem mindestens einmal jährlich erscheinenden Verfassungsschutzbericht (§ 16 Abs. 2 BVerfSchG), um den es hier nicht geht, sieht § 16 Abs. 1 BVerfSchG ausdrücklich vor, dass das BfV „die Öffentlichkeit über [verfassungsfeindliche] Bestrebungen und Tätigkeiten [informiert], soweit hinreichend gewichtige tatsächliche Anhaltspunkte hierfür vorliegen, […].“
Weil mit der Information der Öffentlichkeit ein weiterer, neben die Beobachtung selbst tretender, intensiver verfassungsschutzrechtlicher Eingriff in die (Grund-)Rechte der Beobachteten einhergeht, sind die Voraussetzungen dafür hoch. Dies gilt in besonderem Maße, wenn es sich bei dem Beobachtungsobjekt um eine politische Partei handelt, der aus einer Information der Öffentlichkeit über ihre Beobachtung durch den Verfassungsschutz erhebliche Nachteile im politischen Wettbewerb, das heißt in Bezug auf ihre Parteienfreiheit aus Art. 21 Abs. 1 GG erwachsen können.
Tatbestandliche Verhältnismäßigkeit und gebundene Rechtsfolge
Tatbestandliche Voraussetzung des § 16 Abs. 1 BVerfSchG ist zunächst, dass das BfV das Beobachtungsobjekt mindestens als Verdachtsfall („tatsächliche Anhaltspunkte“) einstuft (vgl. Gesetzentwurf der Bundesregierung vom 20. April 2015, BT-Drs. 18/4654, S. 32). Zusätzlich müssen diese Anhaltspunkte nach dem Wortlaut des § 16 Abs. 1 BVerfSchG „hinreichend gewichtig“ sein (vgl. auch BVerfGE 113, 63 (81)). Bei dieser zweiten Voraussetzung geht es nicht um gesteigerte inhaltliche Anforderungen an die Verfassungsfeindlichkeit des Beobachtungsobjekts, also nicht um das Erfordernis eines qualifizierten Verdachtsfalls im Sinne einer Annäherung an die Einstufung als Beobachtungsfall. Vielmehr handelt es sich – vergleichbar mit der Konstruktion des § 35 Abs. 1 GewO – um eine im Tatbestand verortete Ausprägung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Bei der „hinreichenden Gewichtigkeit“ geht es also darum, dass der Zweck des „Verfassungsschutzes durch Aufklärung“ in einem angemessenen Verhältnis zu dem daraus resultierenden Eingriff in die (Grund-)Rechte des jeweiligen Beobachtungsobjekts steht.
Liegen diese tatbestandlichen Voraussetzungen vor, so ist das BfV nach dem klaren indikativen Wortlaut des § 16 Abs. 1 BVerfSchG (vgl. auch den identischen Wortlaut des § 16 Abs. 2 BVerfSchG, der unumstritten die Rechtsfolge einer gebundenen Entscheidung aufweist) zu einer zeitnahen Information der Öffentlichkeit über das Beobachtungsobjekt und die jeweilige Einstufung verpflichtet („Ob“ der Information; a.A. und für ein Ermessen in der Rechtsfolge wohl OVG NRW, Az.: 5 A 1218.22, S. 108 ff.). Lediglich in Bezug auf die Frage, was „zeitnah“ ist („Wann“ der Information), wird dem BfV ein begrenzter Ermessensspielraum einzuräumen sein.
Das BfV ist seiner Aufgabe, die Öffentlichkeit zu informieren – insbesondere im Zusammenhang mit der Beobachtung politischer Parteien – zuletzt mehrfach nachgekommen. So hat das BfV etwa am 15. Januar 2019 über die verfassungsschutzrechtliche Einstufung der AfD Jugendorganisation „Junge Alternative“ und eine extremistische Sammelbewegung innerhalb der AfD (den sog. „Flügel“) jeweils als Verdachtsfall informiert. Am 12. März 2020 veröffentlichte es seine verfassungsschutzrechtliche Neubewertung des „Flügels“ als Beobachtungsfall. Am 1. März 2021 informierte das BfV – innerhalb eines anhängigen Gerichtsverfahrens – über eine verfassungsschutzrechtliche Neubewertung der AfD Gesamtpartei als Verdachtsfall.
Im Kontext der aktuellen Debatte ist es wichtig klarzustellen, dass das BfV dabei stets allein über den Umstand der Beobachtung und die jeweilige verfassungsschutzrechtliche Einstufung informierte. Eine behördliche Praxis, nach der das BfV zugleich auch die Gutachten veröffentlichte, die der jeweiligen (Neu-)Bewertung behördenintern zugrunde liegen, besteht nicht. Sie ist auch nicht von der in § 16 Abs. 1 BVerfSchG geregelten Verpflichtung umfasst. Dass im Zusammenhang mit der öffentlichen Information über die verfassungsschutzrechtliche Bewertung der AfD Jugendorganisation „Jungen Alternative“ und den sog. „Flügel“ das zugrundeliegende Gutachten des BfV bekannt geworden ist, lag daran, dass dieses ohne Zustimmung des BfV in der die Presse enthüllt wurde.
Hypothetische Einstufung der AfD als Beobachtungsfall
Geht man nun hypothetisch davon aus, dass das BfV im Rahmen seiner Neubewertung der AfD zu einer Hochstufung vom Verdachts- zum Beobachtungsfall gelangt ist, so spricht einiges dafür, dass die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 16 Abs. 1 BVerfSchG erfüllt sind.
Mit einer Hochstufung zum Beobachtungsfall wären jedenfalls die erforderlichen tatsächlichen Anhaltspunkte für verfassungsfeindliche Bestrebungen und Tätigkeiten gegeben.
Die hinreichende Gewichtigkeit wiederum ergäbe sich – auch unter Berücksichtigung eines behördlichen Beurteilungsspielraums – schon aus dem Umstand, dass es sich bei dem als gesichert verfassungsfeindlich eingestuften Beobachtungsobjekt nicht um irgendeine Organisation, sondern um eine relevante politische Partei handelt. Gerade weil politische Parteien, wie keine anderen Organisationen, auf die „Erlangung von politischer Macht […] zur Durchsetzung konkreter politischer Ziele“ gerichtet sind, läge mit einer als gesichert verfassungsfeindlich eingestuften Partei eine „verallgemeinerbare Gefahrenlage für die freiheitlich-demokratische Grundordnung“ vor (VfG Bbg, Az.: 94/20, Rn. 100). Dies gälte umso mehr, als sich die Bundesrepublik Deutschland unmittelbar vor einer Bundestagswahl befindet und die in Rede stehende Partei in letzten Umfragen bei ca. 18% liegt. Der Umstand der nahenden Bundestagswahl steht der Information der Öffentlichkeit – wie sogleich noch ausführlich zu zeigen sein wird – also nicht entgegen, sondern indiziert sie gerade. Das Interesse der Öffentlichkeit an einer Information über den Umstand, dass eine gesichert verfassungsfeindliche Partei alsbald zur Wahl steht (und die daraus folgende Möglichkeit einer informierten und unter Umständen auch kritischen Wahlentscheidung), würde das Interesse dieser Partei an einer unbeeinträchtigten Teilnahme am politischen Wettbewerb deutlich überwiegen.
Ein Gebot staatlicher Neutralität und Mäßigung im Wahlkampf?
An diesem Ergebnis ändert auch das zuletzt in die Debatte eingeführte Verfassungsgebot staatlicher Neutralität und Mäßigung (im Wahlkampf) nichts. Dabei wird vorgebracht, dass die Information der Öffentlichkeit über die verfassungsschutzrechtliche Neubewertung der AfD (als Beobachtungsfall) in Zeiten des Wahlkampfes gegen die aus der (Chancen-)Gleichheit der Parteien (Art. 21 Abs. 1 GG) folgende Verpflichtung der Regierung verstoße, sich gegenüber allen an einer Wahl teilnehmenden Parteien neutral und gemäßigt zu verhalten. In die tatbestandliche Abwägung des § 16 Abs. 1 BVerfSchG übersetzt soll das wohl heißen, dass jedenfalls im gegenwärtigen Zustand des Wahlkampfes gegen die Information und für eine unbeeinträchtigte Teilnahme (einer möglicherweise gesichert verfassungsfeindlichen Partei) am politischen Wettbewerb entschieden werden sollte bzw. müsste.
Diese Argumentation geht jedoch fehl. Richtig ist noch, dass für die öffentliche Gewalt und insbesondere die Regierung im Rahmen ihrer Informations- und Öffentlichkeitsarbeit ein an Art. 21 Abs. 1 GG geknüpftes Gebot der parteipolitischen Neutralität und Mäßigung gilt (BVerfGE 138, 102). Aus drei Gründen kann dies im Rahmen der „hinreichenden Gewichtigkeit“ in § 16 Abs. 1 BVerfSchG jedoch keine erhebliche Rolle spielen.
Keine verschärften Anforderungen im Wahlkampf
Erstens: Zunächst finden sich bereits für die Annahme, dass das Verfassungsgebot staatlicher Neutralität und Mäßigung gerade in Zeiten des Wahlkampfes besonders verschärfte Anforderungen formuliert, in der Rechtsprechung des BVerfG keine Anhaltspunkte. Insbesondere das in der gegenwärtigen Debatte herangezogene Urteil des Bundesverfassungsgerichts in Sachen „Öffentlichkeitsarbeit“ (BVerfGE 44, 125) aus dem Jahr 1977 ist unergiebig.
Schon inhaltlich hat die Konstellation des vorgebrachten Urteils kaum etwas mit der Information der Öffentlichkeit durch eine Verfassungsschutzbehörde zu tun. So ging es in besagtem Urteil von 1977 um ein Handeln der Bundesregierung selbst, bei dem in unmittelbarer zeitlicher Nähe zur Bundestagswahl in einer Reihe von Zeitungsanzeigen mit dem Hinweis auf erfolgreich umgesetzte politische Vorhaben für eine Wiederwahl der amtierenden Regierung geworben wurde – also um unzulässige, durch die Bundesregierung finanzierte Wahlwerbung in eigener Sache.
Darüber hinaus statuierte das BVerfG in diesem Urteil zwar erstmals das Verfassungsgebot der parteipolitischen Neutralität und Mäßigung von Regierungshandeln. Aus dem Umstand allein, dass es dies im Kontext des damaligen Bundestagswahlkampfes tat, folgt jedoch keine Aussage zu einer besonders verschärften Geltung dieses Verfassungsgebotes in Zeiten des Wahlkampfes.
Vielmehr lässt das BVerfG diese Frage auch in seiner Folgerechtsprechung bis heute stets explizit offen (BVerfGE 148, 11 (26)). Dass die Regierung im Rahmen ihrer Informations- und Öffentlichkeitsarbeit zur parteipolitischen Neutralität und Mäßigung verpflichtet ist, gilt also immer, ist – nach gegenwärtigem Stand der Rechtsprechung des BVerfG – in Zeiten des Wahlkampfes aber gerade nicht in besonderem Maße verschärft. Man kann durchaus darüber streiten, ob es sinnvoll ist, dass das BVerfG diese Frage in seiner bisherigen Rechtsprechung offen gelassen hat. Andere Landesverfassungs- und Verwaltungsgerichte haben eine verschärfte Geltung des Gebots parteipolitischer Neutralität und Mäßigung für Zeiten des Wahlkampfes mittlerweile ausdrücklich festgestellt (siehe für Landtags- und Kommunalwahlen etwa RhPfVerfGH, Az.: VGH A 39/14, Rn. 20; ThürVerfGH, Az.: VerfGH 2/14, Rn. 65; VG Göttingen, Az.: 1 A 258/21). Schon wegen der Schwierigkeit, den Wahlkampf einerseits und den alltäglichen Prozess der politischen Willensbildung andererseits zeitlich klar voneinander abzugrenzen, erscheint eine verschärfte Geltung jedoch problematisch (BVerfGE 44, 125 (153)). Auch könnte eine „Verschärfung“ in Zeiten des Wahlkampfes nur allzu leicht als eine „Reduktion“ in Zeiten außerhalb des Wahlkampfes verstanden werden. Dem Gebot der parteipolitischen Neutralität und Mäßigung wäre damit kein Dienst getan.
Kein (partei-)politisches Regierungshandeln des BfV
Zweitens: Das Verfassungsgebot parteipolitischer Neutralität und Mäßigung ist auf die informierende Tätigkeit des BfV gemäß § 16 Abs. 1 BVerfSchG schon im Grundsatz gar nicht anwendbar. Denn bei der Tätigkeit des BfV handelt es sich gerade nicht um ein durch das Verfassungsgebot staatlicher Neutralität und Mäßigung adressiertes (partei-)politisches Regierungshandeln, sondern um eine tatsachenbasierte behördliche Aufgabenwahrnehmung, die der demokratisch legitimierte Gesetzgeber für das BfV in § 16 Abs. 1 BVerfSchG ausdrücklich vorgesehen hat. Davon geht auch das BVerfG aus, wenn es in Bezug auf die Information der Öffentlichkeit durch den Verfassungsschutzbericht feststellt, dass es sich dabei um „kein beliebiges Erzeugnis staatlicher Öffentlichkeitsarbeit [handelt].“ Der Ver