Die stille Mehrheit hat ihre Stimme gefunden
Fünf Fragen an John Morijn und Luke Dimitrios Spieker
2021 verabschiedete das ungarische Parlament ein Gesetz, das – unter dem Vorwand des Kinderschutzes – Darstellungen von Homosexualität und Geschlechtsangleichung in allen für Minderjährige zugänglichen Medien und Materialien verbietet. Das sogenannte Kinderschutzgesetz setzt Pädophilie und Homosexualität auf perfide Weise gleich. Faktisch ermöglicht es den ungarischen Behörden, sämtliche Inhalte einzuschränken, die von der heterosexuellen Norm abweichen.
Am Dienstag, dem 19. November 2024, kamen die Europäische Kommission, das Europäische Parlament und 16 Mitgliedstaaten in Luxemburg zusammen, um eine Klage gegen das Gesetz zu unterstützen. Wir haben mit zwei Experten gesprochen, die die Anhörung vor Ort verfolgt haben: John Morijn, Fellow an der Hertie School Berlin und Professor an der Universität Groningen, und Luke Dimitrios Spieker, Postdoktorand an der Humboldt Universität Berlin und Senior Research Fellow am Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht in Heidelberg.
1. Das ungarische Kinderschutzgesetz diskriminiert und stigmatisiert Minderheiten aufgrund ihrer sexueller Orientierung und Geschlechtsidentität unmittelbar und eindeutig. Was ist Ihre wichtigste Erkenntnis nach der Anhörung in Luxemburg?
Luke: Wir erleben einen historischen Moment im europäischen Recht. Noch nie haben sich 16 Mitgliedstaaten der Kommission angeschlossen. Dies sendet ein starkes Zeichen, dass das Verhalten Ungarns einen direkten Angriff auf die europäische Gesellschaft darstellt.
Politisch deutet die Intervention der Mitgliedstaaten auf einen wichtigen Wandel hin. Bisher nahmen sie keine besonders aktive Rolle dabei ein, illiberalen Entwicklungen innerhalb der Union entgegenzuwirken. Das Verfahren gegen Ungarn könnte hier ein Wendepunkt sein. Artikel 2 EUV als eigenständige Verletzung einzuklagen ist eine Innovation, die vom Rechtsdienst der Kommission entwickelt und von einer ganzen Gemeinschaft juristischer Akteure vorbereitet wurde. Diese Gemeinschaft umfasst nun auch die intervenierenden Mitgliedstaaten.
Tatsächlich kommt das überraschend. Normalerweise versuchen die Mitgliedstaaten, ihre Rechtsordnungen zu schützen, wenn der Gerichtshof die Integration richterrechtlich vertieft. Im vorliegenden Fall jedoch bestätigten die Mitgliedstaaten die rechtlich bindende Natur der EU-Werte als Teil der Identität der EU-Rechtsordnung und brachten sogar Vorschläge für deren Weiterentwicklung ein, insbesondere die Justiziabilität von Artikel 2 EUV.
John: Es war eindrucksvoll zu sehen, wie eine stille Mehrheit endlich ihre Stimme erhob. Dieser Moment ist den unermüdlichen Bemühungen von NGOs wie RECLAIM zu verdanken, die gemeinsam mit Mitgliedstaaten darauf hingearbeitet haben. Ich hatte Gänsehaut. Doch für mich lässt sich noch nicht absehen, ob dies mehr als eine einmalige Aktion war.
Ich würde gerne hören, wie von der Leyen auf einer Pressekonferenz öffentlich erklärt, was die Rechtsvertreter*innen der Kommission vor Gericht gesagt haben. Jurist*innen betrachten die Welt oft durch die Brille rechtlicher Verfahren und Entscheidungen. Doch wenn man als queere Person in Budapest lebt, ist es völlig legitim zu fragen: Warum hat das so lange gedauert? Und warum gibt es keine sofortigen Maßnahmen, die verhindern, dass so etwas morgen wieder passiert?
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2. Die Gesetzesmaterie fällt klar unter die EU-Grundrechtecharta und deren eindeutiges Diskriminierungsverbot. Dennoch wurde in der Anhörung viel über Artikel 2 EUV und die gemeinsamen europäischen Werte diskutiert. Warum sollte Ihrer Meinung nach Artikel 2 EUV hier Teil der Lösung sein?
Luke: Während der Anhörung wurden vier Argumente erkennbar, die eine zusätzliche Verfolgung von Verstößen gegen Artikel 2 EUV rechtfertigen.
Erstens hat Artikel 2 EUV eine Signalwirkung. Er zeigt, dass hier ein Verstoß vorliegt, der über das gewöhnliche Acquis und dessen Anwendung hinausgeht und den Kern der europäischen Gesellschaft betrifft.
Zweitens kann sich Artikel 2 EUV auf Sanktionen auswirken. Ein Verstoß gegen Artikel 2 EUV rechtfertigt höhere Geldstrafen (Artikel 260 AEUV). Jüngstes Beispiel: Der EuGH verurteilte Ungarn dazu, eine beispiellose Pauschalstrafe von 200 Millionen Euro sowie eine tägliche Strafzahlung von 1 Million Euro zu leisten, bis es eine frühere Entscheidung zur Behandlung von Geflüchteten umsetzt.
Drittens kann ein festgestellter Verstoß spätere Staatshaftungsverfahren von Einzelpersonen vor nationalen Gerichten erleichtern. Diese setzen eine offensichtliche Missachtung des EU-Rechts voraus.
Schließlich kann sich ein Verstoß gegen Artikel 2 EUV auf Vertragsverletzungsverfahren und andere Verfahren auf europäischer Ebene auswirken, wie das Artikel-7-Verfahren und die Aussetzung der gegenseitigen Anerkennung im Europäischen Haftbefehlverfahren. Außerdem könnte (was während der Anhörung nicht erwähnt wurde) die Nichtbefolgung des Urteils gemäß Artikel 2 EUV dazu führen, dass EU-Mittel im Rahmen der Konditionalitätsmechanismen eingefroren werden.
John: Die Kommission wird gewinnen, das ist allen klar – auch in Budapest. Es handelt sich um eine klare Verletzung der Binnenmarktvorschriften. Von Anfang an war die entscheidende Frage daher nicht ob, sondern wie die Vorschriften verletzt werden.
Um bewusst eine nichtrechtliche Metapher zu benutzen: Warum sollte man drei zusätzliche „Tomaten“ (die Chartagrundrechte, die Menschenwürde und die EU-Werte aus Artikel 2 EUV) auf einen schon hinreichenden „Binnenmarkt-Burger“ legen? Und was passiert, wenn der Burger wegfällt, wie im LexNGO-Fall? Können die Tomaten als eigenständige Argumentation tragen?
Was, wenn Ungarn das Binnenmarktproblem löst, aber ähnliche Maßnahmen mit demselben Ziel einführt? Das Gericht könnte auf Artikel 2 EUV verweisen, um die Schwere der Verletzung zu verdeutlichen. Doch wie definiert man diesen Standard, ohne eine völlig offene Rechtsverletzung zu schaffen? Sollte dies nur auf Vertragsverletzungsverfahren beschränkt sein? Diese Fragen reichen verfassungsrechtlich weiter als der aktuelle Fall, bei dem es um einen Mitgliedstaat geht.
3. Wie unterscheiden sich die europäischen Werte gemäß Artikel 2 EUV von der Menschenwürde nach Artikel 1 der Grundrechtecharta?
Luke: Zunächst gibt es keine klare Trennung zwischen der Menschenwürde gemäß Artikel 2 EUV und Artikel 1 der Charta – beide sind untrennbar miteinander verbunden. Meiner Ansicht nach haben Charta-Rechte und gemeinsame Werte unterschiedliche Funktionen im EU-Rechtssystem. Während Charta-Rechte subjektive Rechte darstellen, die meist in individuellen Fällen geltend gemacht werden, haben die Werte in Artikel 2 EUV eine strukturelle Funktion in der Union. Gegenseitiges Vertrauen etwa basiert nicht unmittelbar auf der Einhaltung der Charta, sondern – wie in Gutachten 2/13 festgelegt – auf der Prämisse, dass alle Mitgliedstaaten die gemeinsamen Werte aus Artikel 2 EUV teilen. Diese strukturelle Dimension wird in Artikel 2 EUV deutlicher als in spezifischen Charta-Rechten.
John: Die Kommission hält – ebenso wie viele Mitgliedstaaten – die Gleichsetzung von natürlicher sexueller Orientierung mit verbotener Pädophilie für eine inakzeptable Stigmatisierung und unentschuldbare Stereotypisierung, die aufs Schärfste zu verurteilen sind. Dass die Kommission diese Verletzung über konkrete Normen der Charta hinaus auch auf die Menschenwürde (Artikel 1 der Charta) und die europäischen Werte (Artikel 2 EUV) bezieht, zeigt, dass die Verstöße besonders schwer wiegen.
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‘By far the best work on the EU’s “rule of law crisis”. Theuns puts the focus where it should be, on how to restore democracy rather than just on how to punish legal violations.’— Kim Lane Scheppele, Laurance S. Rockefeller Professor of Sociology and International Affairs, Princeton University
No one who cares about democracy in Europe—and who does not?—can ignore this formidable work.’ — Wojciech Sadurski, Challis Professor of Jurisprudence, University of Sydney
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4. Warum macht Ungarn das? Hat Ungarn eine andere Vision einer illiberalen Gesellschaft, oder ist das einfach nur Orbáns politisches Spiel, um aus den „Feinden in Brüssel“ Kapital zu schlagen?
Luke: Ungarns Hauptargumentation in dem Fall bestand aus zwei Teilen: Erstens erklärte Ungarn, dass Eltern selbst entscheiden sollten, ob, wann und wie ihre Kinder mit LGBTIQ*-Inhalten in Berührung kommen. Ohne wissenschaftliche Beweise behauptet Ungarn, dass eine solche Berührung die Entwicklung von Kindern gefährde, und argumentierte, das Vorhandensein eines solchen Schadens nicht nachweisen zu müssen. Dabei berief sich Ungarn auf das „Vorsorgeprinzip“, das normalerweise für gefährliche Produkte gilt. Es scheint jedoch offensichtlich, dass sich der Vergleich zwischen gefährlichen Produkten und menschlichen Identitäten kaum mit der Menschenwürde vereinbaren lässt.
Was steckt dahinter? Ein echter Glaube an traditionelle, konservative, christliche Familienwerte? Oder eher das Bedürfnis nach einem leicht identifizierbaren Feind – der LGBTIQ*-Community? Vielleicht beides? Ich vermute, nur Orbán kennt die Antwort…
John: Orbán und sein Clan handeln keineswegs ideologisch. Ihr imaginärer Feind wechselt häufig. Einer von Orbáns engsten politischen Verbündeten wurde dabei ertappt, wie er in Brüssel an einer Regenrinne hing – nicht wegen seiner sexuellen Orientierung oder einer Sexparty, sondern weil er die COVID-Regeln ignorierte. Dieser Politiker gehört weiterhin zum Clan. Die LGBTIQ*-Community ist derzeit leider der passende Sündenbock in einer „Wir gegen sie“-Politik.
Ich möchte allerdings nicht herunterspielen, wie gravierend Orbáns Verhalten ist. Tatsächlich habe ich mehr Sympathien für Menschen, die ihre Überzeugungen ehrlich vertreten – auch wenn ich diese Überzeugungen ideologisch ablehne – als für Menschen, die auf zynische Weise vulnerable Gruppen für ihre politischen Ablenkungsmanöver instrumentalisieren. Das schadet vielen EU-Bürger*innen in Ungarn enorm, und wir sollten alles tun, um ihnen zu helfen.
5. Man könnte argumentieren, dass dies im Kern kein rechtliches Problem sei – und selbst wenn, hätte die Kommission viel früher handeln müssen. Was halten Sie von dieser Kritik?
Luke: Auf den ersten Blick wirkt es merkwürdig, dass die Kommission zwar die Schwere des Verstoßes mit Verweis auf Artikel 2 EUV betont, jedoch keinen Antrag auf einstweilige Maßnahmen stellt. Doch dieser Fall ist ein Novum: Zum ersten Mal wird Artikel 2 EUV als Rechtsgrundlage für ein Vertragsverletzungsverfahren verwendet.
Für einstweilige Maßnahmen müsste der Gerichtshof bereits die rechtlichen Standards festlegen und sich damit frühzeitig zur Justiziabilität von Artikel 2 EUV äußern. Die Kommission hätte dadurch möglicherweise nicht die beeindruckende Unterstützung anderer Mitgliedstaaten während der Anhörung mobilisieren können. Dennoch wäre es der Kommission möglich gewesen, ein beschleunigtes Verfahren nach Artikel 23a der Satzung und Regel 133 der Verfahrensordnung zu beantragen.
John: Wenn es um den Schutz von zuvor vereinbarten und verbindlichen Werten geht, sollten rechtliche Schritte das letzte Mittel sein, das nur zum Einsatz kommt, wenn die normale Politik versagt hat. Und selbst dann sollte Recht so eingesetzt werden, dass die Politik weiterhin in der Lage ist, eine vollständige rechtliche Eskalation zu verhindern.
Das gilt jedoch nicht, wenn ein Mitgliedstaat absichtlich die Demokratie untergräbt und gleichzeitig seine EU-Privilegien behalten möchte, also Rechte ohne Pflichten will. In solchen Fällen würde man eine politische Antwort von EU-Institutionen und Mitgliedstaaten erwarten. Stattdessen sehen wir bei solchen abtrünnigen Mitgliedstaaten häufig das Gegenteil. Rechtliches Handeln wird als Ersatz für politisches Handeln genutzt, um völlige politische Untätigkeit zu rechtfertigen, während man auf eine juristische Entscheidung wartet.
Der Gerichtshof braucht politischen Rückhalt, und die bemerkenswerte und beispiellose Unterstützung durch die Mitgliedstaaten, wie wir sie am Dienstag beobachten durften, gibt uns Hoffnung: Die stille Mehrheit hat endlich ihre Stimme gefunden.
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von ANJA BOSSOW
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