„Die Republik tritt die Grundrechte mit Füßen“: Zurückweisungen an der französisch-italienischen Binnengrenze
Im Streit zwischen der Kanzlerin und ihrem Minister ist von Europa viel die Rede, doch aus der Situation an anderen Binnengrenzen werden kaum Schlüsse gezogen. Dabei werden z.B. an den Grenzübergängen von Italien nach Frankreich seit Jahren Drittstaatsangehörige ohne Visum zurückgewiesen. Dort geht es jedoch nicht mit rechten Dingen zu. Das kritisiert die französische Menschenrechtskommission in einer Stellungnahme vom 19. Juni.
Frankreich hat 2015 Kontrollen an den Binnengrenzen wiedereingeführt. Konsequenz ist nach Einschätzung der Menschenrechtskommission nicht nur die Verletzung der Rechte Schutzsuchender, sondern aller Drittstaatsangehörigen, die nicht in Besitz eines Aufenthaltstitels sind.
Zurückweisungen im Lichte der Dublin-III-Verordnung
Es wurde auf diesem Blog (hier, hier und hier) und andernorts schon ausführlich dargelegt, dass das europäische Flüchtlingsrecht auch an der Binnengrenze Geltung entfaltet. Auch die französische Menschenrechtskommission weist darauf hin, dass ein Asylantrag an der Binnengrenze nur dann als unzulässig abgelehnt werden kann, wenn die zuständige Behörde die Zuständigkeit eines anderen Mitgliedstaats feststellt, wobei das Kriterium der Familieneinheit Vorrang vor dem Kriterium des Ersteinreisestaats hat. Infolge einer Ablehnung sind die Wiederaufnahme- und Überstellungsvorschriften der Dublin-III-Verordnung zu beachten. Der Betroffene muss zudem effektiven Rechtsschutz in Anspruch nehmen können. Daran würde auch eine zwischenstaatliche Verwaltungsvereinbarung i.S.v. Art. 36 der Verordnung nichts ändern. Zurückweisungen von Schutzsuchenden an den Binnengrenzen sind mithin allenfalls nach Durchführung eines aufwendigen und langwierigen Verfahrens rechtmäßig.
Allerdings ergibt sich aus der Stellungnahme der Menschenrechtskommission, dass nach Auskunft der französischen Grenzpolizei an der französisch-italienischen Grenze bislang kein einziger (!) Asylantrag gestellt wurde. Das deutet nach Einschätzung der Menschenrechtskommission darauf hin, dass Drittstaatsangehörige an der Grenze entgegen der Vorgaben der Verfahrensrichtlinie nicht hinreichend über ihr Recht, in Frankreich Asyl zu beantragen, aufgeklärt werden. Doch auch die Zurückweisung von Drittstaatsangehörigen, die nicht Asyl beantragen, unterliegt rechtlichen Vorgaben, die nach Einschätzung der Menschenrechtskommission nicht respektiert werden.
Zurückweisungen als Verletzung der Rechte aller Migrant*innen
Die Zurückweisung von Drittstaatsangehörigen, die nicht in Besitz eines Aufenthaltstitels sind, ermöglicht zwischen Frankreich und Italien das Rückübernahmeübereinkommen vom 3. Oktober 1997, das jedoch ausdrücklich nicht auf Schutzsuchende im Anwendungsbereich des Dubliner Übereinkommens – heute von der Dublin-III-Verordnung überlagert – anwendbar ist.
Die Zurückweisungsentscheidung setzt in jedem Fall die Anhörung des Betroffenen voraus. Sie muss schriftlich begründet und mit einer für den Betroffenen verständlichen Rechtsbehelfsbelehrung versehen werden. Zwar kommt dem Rechtsbehelf keine aufschiebende Wirkung zu, der Betroffene kann aber der Vollziehung der Zurückweisung bis zum Ablauf des auf die Entscheidung folgenden Tages widersprechen. Die EMRK kann einer Zurückweisung entgegenstehen, etwa weil dem Betroffenen in Italien eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung droht. Da es sich bei der EMRK nicht um ein flüchtlingsrechtliches Abkommen handelt, gilt dies nicht nur für Schutzsuchende, sondern allgemein. Tatsächlich – so die Menschenrechtskommission unter Verweis auf mehrere Entscheidungen des Verwaltungsgerichts Nizza (hier und hier) – werden diese Vorgaben jedoch oftmals nicht eingehalten.
Während des Zurückweisungsverfahrens werden die Betroffenen regelmäßig in Gewahrsam genommen. Dies erfolgt stets auf französischem Staatsgebiet, da Frankreich über die Zurückweisung befindet. Neben den menschenunwürdigen Gewahrsamsbedingungen kritisiert die Menschenrechtskommission, dass die Ingewahrsamnahme teilweise außerhalb jeglichen rechtlichen Rahmens erfolge. Nach französischem Recht muss eine Gewahrsamseinrichtung als solche bestimmt werden. In Betracht kommen Polizeiwachen oder spezifische Gewahrsamseinrichtungen für irreguläre Migrant*innen, die sog. „Wartezonen“ (man beachte die begriffliche Nähe zu den Transitzonen, die die CSU in der letzten Wahlperiode vergeblich gefordert hatte). An der Grenze zu Italien werden jedoch teilweise Räumlichkeiten genutzt, die weder das eine noch das andere sind, z.b. die ehemalige Dienstwohnung des Bahnhofsvorstehers im Bahnhof Menton-Garavan. Die Grenzpolizei rechtfertigt dies damit, dass die Betroffenen jederzeit nach Italien ausreisen dürften und deshalb kein Gewahrsam vorliege. Schon in tatsächlicher Hinsicht ist dies abwegig, da die Türen der Wohnung verriegelt und die Fenster vergittert sind. In rechtlicher Hinsicht hat der EGMR schon am 25. Juni 1996 entschieden, dass das Festhalten im Transitbereich eines Flughafens auch dann als Freiheitsentziehung zu werten ist, wenn den Betroffenen die Ausreise aus dem Staatsgebiet gestattet ist. An der Landgrenze kann nichts anderes gelten.
Die Auswirkungen der Grenzkontrollen auf vulnerable Personen
Von den Rechtsverletzungen an der Grenze sind vulnerable Personen in besonderer Weise betroffen, obwohl der Staat ihnen gegenüber zu besonderem Schutz verpflichtet ist.
Zum einen muss das Wohl von Minderjährigen bei allen staatlichen Maßnahmen vorrangig berücksichtigt werden. Auch an der Grenze müssen kinder- und jugendgerechte Aufnahmebedingungen und spezifische Verfahrensrechte gewährleistet werden. Die Menschenrechtskommission stellt jedoch fest, dass die Grenzpolizei Zurückweisungsentscheidungen trifft, ohne dass ein Verfahrensbeistand bestellt wird. Dabei ersetze sie teilweise Angaben der Minderjährigen zum Grenzübertritt eigenmächtig durch eigene Angaben und übergebe Bescheide unmittelbar an die italienische Grenzpolizei, sodass den Betroffenen effektiver Rechtsschutz verwehrt werde. Die Situation von Minderjährigen in Italien werde nicht oder nicht hinreichend gewürdigt.
Zum anderen werden auch die Rechte von Betroffenen von Menschenhandel an der Grenze nicht hinreichend gewährleistet. Die Menschenrechtskommission hebt hervor, dass das Verfahren zur Identifizierung dieser Personen, das nach der Menschenhandelsrichtlinie eine Zusammenarbeit zwischen verschiedenen staatlichen und nichtstaatlichen Stellen voraussetzt, an der Grenze nicht konsequent durchgeführt wird. Die Grenzpolizei sei nicht hinreichend zu diesem Zwecke ausgebildet.
Lehren für Deutschland
Die Stellungnahme der französischen Menschenrechtskommission belegt, dass die Zurückweisung von Drittstaatsangehörigen, die ohne Aufenthaltstitel eine Binnengrenze überqueren wollen, nicht nur im Falle von Schutzsuchenden mit umfangreichen rechtlichen Verpflichtungen einhergeht, sondern auch in allen anderen Fällen erheblichen Aufwand erfordert.
Aufgrund unionsrechtlicher Vorgaben und verwaltungsverfahrensrechtlicher Prinzipien, die auch in Deutschland Geltung finden, müssen vor einer Zurückweisung alle Betroffenen über ihre Rechte, einschließlich des Rechts, einen Asylantrag zu stellen, aufgeklärt werden. Auch wenn kein Asylantrag gestellt wird, unterliegt die Zurückweisung den allgemeinen verwaltungsrechtlichen Verfahrens- und Formvorschriften; gegen die Zurückweisung muss effektiver Rechtsschutz gewährleistet sein. Während des Verfahrens kommt eine Ingewahrsamnahme nur in Betracht, wenn die formellen und materiellen Voraussetzungen für eine Freiheitsentziehung erfüllt sind. Bei alledem müssen vulnerable Personen unter Mitwirkung weiterer staatlicher und nichtstaatlicher Stellen identifiziert und entsprechend ihrer besonderen Rechtspositionen behandelt werden.
Wenn die französische Menschenrechtskommission feststellt, dass Frankreich an der Binnengrenze zu Italien die Grundrechte mit Füßen tritt, ist das nicht bloß die unverbindliche Äußerung eines Gremiums ohne Einfluss und Relevanz. Im Zusammenhang mit der Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems hatte die Menschenrechtskommission scharfe Kritik an dem Konzept der sicheren Drittstaaten geäußert. Ein paar Monate später befand der Conseil d‘État, dass dieses Konzept mit der französischen Verfassung nicht in Einklang zu bringen sei und daher in Frankreich nicht angewandt werden dürfe. Das sollte in Deutschland dem Minister zu denken geben.
In einer früheren Version dieses Artikels wurde die Stellungnahme der Menschenrechtskommission fälschlich auf den 19. Juli datiert. Wir bitten den Fehler zu entschuldigen.
Die Versuche, mit fragwürdigen Konstruktionen des Europarechts, in diesem Fall Dublin und Schengen, Einfluss auf die innere Sicherheit der europäischen Nationalstaaten zu nehmen, bleiben weiterhin wenig überzeugend.
Sie müssen wenig überzeugend bleiben, weil ihrer Zielsetzung vorrangig darin besteht, die illegale Einwanderung mit Hilfe des Asylrechts zu forcieren.
Professor Kay Hailbronner, vom Forschungszentrum Ausländer- und Asylrecht der Universität Konstanz räumt in einem Essay in der WELT(26.06.18, Seite 2) mit Mär auf, Zurückweisungen an den Binnengrenzen seien nicht möglich. Er sagt:
„Es sprechen also gute Gründe dafür, dass weder die Dublin-Ordnung noch das Schengenrecht den Mitgliedstaaten grundsätzlich die Einreiseverweigerung von irregulär weiterwandernden Asylsuchenden verbieten.“
Weiter sagt Prof. Hailbronner: „Das Dublin-System hat versagt. Deshalb kann niemand die Einhaltung der für den Normalfall geltenden Regeln verlangen. Eine illegale Weiterwanderung über innereuropäische Grenzen hinweg muss verhindert werden.“
Ich kann den Artikel ohne Abo leider nicht lesen, aber vielleicht haben Sie auch ein Argument, einen dieser “guten Gründe”? “Keiner kann die Einhaltung der Regeln verlangen” ist kein rechtliches Argument, sondern im Gegenteil ein offensiver Abschied von der Rechtsbindung der Exekutive (Art. 20 Abs. 3 GG). Man könnte ein solches Szenario als “Herrschaft des Unrechts” bezeichnen.
Man muss sich auch Fragen, was der “Normalfall” ist, auf den die Rechtsbindung des Exekutive da beschränkt werden soll (again: ich kenne nur Ihr Zitat). Dass der Herbst/Winter 2015 nicht der Normalfall war: geschenkt. Aber davon sind wir ja weit entfernt.
Ich würde den Begriff “Herrschaft des Unrechts” vermeiden wollen, da er politisch aufgeladen ist und die damit verbundene Assoziation nicht unbedingt die Negation der “Herrschaft des Rechtes” ist.
Nach meiner schlichten Meinung sollte ein Normensystem folgende Anforderungen erfüllen:
a) Regelung einer Problemlage, die sowohl praktisch umsetzbar als auch von der “Allgemeinheit” akzeptiert wird;
b) Durchsetzung der Norm im Fall der Nichtanwendung
c) Flexibilität um auf Fälle einer sich ändernden Situation zu reagieren (im BGB ist dieser Gedanke als “Wegfall der Geschäftsgrundlage” bekannt)
Wenn die Anforderungen a) und c) nicht gegeben sind, ist die Umsetzbarkeit der Norm nicht gewährleistet und ihre Begründbarkeit schwindet. Ist die Durchsetzung einer Norm nicht durchsetzbar (Fall b – z.B. auch wegen überlasteter Behörden), ist ihre Befolgung eine Art durch den Adressaten von seinem guten Willen abhängig, im Fall der Wirtschaft in der Regel das Ergebnis einer Risikobetrachtung.
Das Asylrecht ist seit ca. 2 – 3 Jahrzehnten einfach kaputt. Der Bereich “Abschiebung” hat bereits vor der großen Migrationswelle nicht funktioniert, die Regelung auf der EU-Ebene sind das Ergebnis politischer Verhandlungen, die nicht langfristig wirklich Lösungen bringen (eher ein Fall des “Durchwursteln”) und damit langfristig die Implosion des System herbeiführen. Möglich ist das “heute”. Zudem haben Gerichte immer “Einzelschicksale” entschieden und den Anwendungsbereich des Asyls und Verfahrensrechts permanent zugunsten der Antragsteller ausgeweitet – das auch eine Summe von “Einzelfällen” erhebliche soziale und wirtschaftliche Auswirkungen hat, liegt außerhalb des juristischen Verständnisses sowohl in diesem Fall aber auch generell (aber dieses Problem haben andere Fakultäten auch). Hierbei muss man auch berücksichtigen, das die Mehrzahl der Handelnden in der Executive, Judikative oder Legislative beruflich einer Zeit sozialisiert wurde als der Westen sich auf dem Höhepunkt seiner kulturellen und wirtschaftlichen Kraft befand und es daher natürlich ist anzunehmen, dass dieser Zustand beibehalten werden kann, so dass diese Fragen keine Rolle spielten.
(Und um Missverständnissen vorzubeugen, ich glaube nicht das die Demokratie “verfällt”, sie ist aufgrund vielfältiger Fehler in einer selbstverschuldeten Krise und hat durchaus die Kraft sich zu erneuern, vielleicht nicht mit denselben Akteuren und alten Rezepten.)
Sorry, mir war entgangen, dass Sie die Dublinverordnung nach § 313 III 2 BGB gekündigt hatten. Dann haben Sie natürlich Recht. My bad.
Ihr Einwand leidet an einem typischen Mangel, der häufig auftritt. Die Defintition “illegale Einwanderung” ist so lange eine rechtliche Themenverfehlung, wie nicht definiert und festgestellt ist, was nun eine legale bzw. illegale Einwanderung überhaupt ist und wie sie formal ermittelt wird. Nicht anders ist es mit der Bezeichnung “irregulär”. Natürlich kann man der Meinung seien, dass jedes Asylbegehren irregulär oder illegal sein. Aber dann soll man bitte offen erklären, dass man gegen ei Recht auf Asyl ist – dies auch aus Gründen der Verständlichkeit. Denn der Beitrag geht nunmal davon aus, dass ein Recht auf Asyl noch existiert.
In jedem Fall ein Beitrag, der die Beurteilung der Gesamtlage bereichert, wenn ich auch im Ergebnis – zumindest im Zusammenhang mit der europäischen Zuständigkeitsbestimmung nach Dublin III – der stark rechtsschutzgetriebenen Argumentation nicht folgen kann.
Das Dublin-System kann nicht reformiert werden, wenn sein Hauptproblem nicht identifiziert ist. Das Hauptproblem ist aber nicht mangelnde Solidarität der Binnen-Mitgliedstaaten mit den primär zuständigen Außen-Mitgliedstaaten (diese kann nachhaltig nur auf Freiwilligkeit basieren), sondern ein innerer Widerspruch im insgesamt überzogenen Rechtsschutzsystem. Einerseits soll sich der Asylbewerber den für ihn zuständigen Mitgliedstaat nicht aussuchen dürfen, dafür gibt es ja die Zuständigkeitsvorschriften. Andererseits kann er die Zuständigkeitsfeststellung immer wieder neu konterkarieren, da er als einziger Akteur umfassenden Rechtschutz im Überstellungsverfahren genießt. Und zwar auch dann, wenn sich die beteiligten Mitgliedstaaten über die Zuständigkeit einig sind. Das hat der EuGH in den Fällen Mengesteab, Hasan und Hassan mehrfach bestätigt und es ergibt sich auch eindeutig aus Art. 26 Dublin III, wonach die mit Zustimmung des ersuchten Staates ergangene Überstellungsentscheidung des ersuchenden Staates auch noch mit einer Rechtsmittelbelehrung zu versehen ist! Damit wird das Gegenteil des eigentlichen Regelungsziels erreicht und kaum einer scheint es zu beanstanden. Das kann es wirklich nicht sein. Gegen die möglichst noch im Einreiseverfahren zu treffende Zuständigkeitsbestimmung darf der Antragsteller allenfalls über ein behördliches Beschwerderecht gemäß Art. 13 EMRK verfügen, denn jedenfalls hier sind sich – in Übereinstimmung mit den Vorgaben der GFK – im Kern nur die Mitgliedstaaten untereinander verpflichtet. Ohne dass die Dublin III-VO zumindest in diesem Punkt signifikant geändert wird, dürften auch die derzeit als europäische Minimallösung diskutierten Rückführungsabkommen (vgl. Art. 36 Dublin III) keine praktischen Fortschritte bringen. Im Übrigen verweise ich auf meinen gestrigen Beitrag im FAZ Einspruch: http://einspruch.faz.net/einspruch-magazin/2018-06-27/365ce9e5afed366bfe6926230facf26b/?GEPC=s5
Ein Vergleich mehrerer Artikel über (ir-)reguläre Migration und (ir-)reguläre Zurückweisungen – zumal in Frankreich seit 2015 – ergibt, dass die Aussetzung der Asylrechte via Negieren der Dublin-III-Verordnung (unter dem Gesichtspunkt des Wegfalls der Geschäftsgrundlage!?) nicht nur die Rechte des Migranten torpedieren, sondern auch die wünschenswerte Migration in Deutschland verhindern, wenn sich die GroKo auf eine strikte rechtsstaatsfreie Ablehnung wie in Frankreich einigt, was in den Fällen Hasan und Hassan nachzulesen ist.
“Den Familiennachzug von der Erfüllung gewisser grundlegender Integrationsanforderungen abhängig zu machen”, wie dies Kay Hailbronner in der WELT im Jahr 2016 forderte, korrespondiert mit dem, was sich bereits seit 2015 an Praxis in Frankreich abspielt.
Dies stellt sich so dar: “Die französische Menschenrechtskommission weist darauf hin, dass ein Asylantrag an der Binnengrenze nur dann als unzulässig abgelehnt werden kann, wenn die zuständige Behörde die Zuständigkeit eines anderen Mitgliedstaats feststellt, wobei das Kriterium der Familieneinheit Vorrang vor dem Kriterium des Ersteinreisestaats hat.” (C. Tometten, Juni 2018)
Das Recht des einen auf Beachtung der Familieneinheit korrespondiert mit dem Wunsch des Einreiselandes “eher Familien mit noch integrationsfähigen kleinen Kindern aufzunehmen, als alleinstehende junge Männer, die ohne ausreichende Schul- und Berufsausbildung nur minimale Chancen auf dem deutschen Arbeitsmarkt haben.”
Wer Dublin-III für gescheitert hält, sollte das Unrecht, dass er an den Grenzen schafft, in dem der Rechtsstaat an der Grenze ausgesetzt wird, im Zuge von Staatsnotwehr (!?) gut begründen können.
Eine solche Begründung, wie von “Prof. Hailbronner: „Das Dublin-System hat versagt. Deshalb kann niemand die Einhaltung der für den Normalfall geltenden Regeln verlangen. Eine illegale Weiterwanderung über innereuropäische Grenzen hinweg muss verhindert werden.“, kann nicht ausreichen.
Die Rechtfertigung muss sich auch darauf stützen, was (nicht) versucht wurde. Warum nicht ebenso frühzeitig – wie in Frankreich seit 2015 – dieses Rechtskontrukt für Migranten ausgesetzt wurde; oder durch ein besser geeignetes System, z.B. eines Einwanderungsgesetzes, das die CDU bereits zu Kohls Zeiten abgelehnt hat, versucht wurde zu ersetzen.
Dieses Regierungsversagen in Deutschland über Jahrzehnte, ist mit nichts zu entschuldigen. Die Zeche zahlen nunmehr nicht nur die Migranten, was zu der weitergehenden Absurdität führt, dass integrationspolitisch wünschenswerte Ergebnisse, wie sie Prof. Hailbronner u.a. formulieren, erklärtermaßen verhindert werden.
Angesichts der Top-Position Deutschlands bei der Missachtung von EU-Recht (Handelsblatt, Jan. 2018: “Deutschland gibt in Europas Hauptstadt gern den Regel-Hüter. Dabei ist das größte Land des Kontinents Spitzenreiter beim Brechen von EU-Recht.”), ist bemerkenswert wie wenig kritisch hierzulande damit umgegangen wird, was ein solch negierendes Gebaren wohl mit der Haltung unserer EU-Partner macht, von denen die Bundesregierung wie selbstverständlich und empört die Einhaltung der Normen einfordert.
Dank der erhellenden Ausführungen von Sylvia Kaufhold, wird sich an dieser Lage auch mit weiteren Abkommen untereinander praktisch nichts ändern. Wie Deutschland die Umsetzung seiner Vorstellungen – nach maximal 48 Stunden (A. Merkel am 4, Juli) Festhaltens im Transitzentrum – allerdings zum Beispiel gegenüber Italien praktisch erzwingen will, wurde seitens einer italienischstämmigen Journalistin in der Sendung Maybrit Illner im Juni bereits als Kampfposition formuliert, die auf ein Unterminieren abzielen.
Der derzeitige Status, es gäbe durch die Rückführungsabkommen ohne eine Änderung von Dublin-III “keine praktischen Fortschritte” (Kaufhold), erinnert daran, dass rechtliche Konstrukte das Leben nie gänzlich regeln können. Es kann somit eine Lösung nur im Tatsächlichen erfolgen, weil auch eine Änderung von Dublin-III ohne den Willen rechtskonformen Handelns prakteologisch nicht durchgreifen wird.
Denn, wenn die Stärke des Rechts dem Recht der Stärkeren weichen muss, setzt sich das fort, was ohnehin bereits geraumer Zeit geschieht, und was sich möglicherweise lange nicht aufhalten lässt.