23 June 2018

Dublin ist kein Fünf-Minuten-Verfahren – Zu Zurückweisungen an der Grenze

In der öffentlichen Debatte darum, ob Zurückweisungen von Asylsuchenden an der deutschen Grenze rechtlich möglich sind, verschwimmt zurzeit die Unterscheidung zwischen Binnen- und Außengrenzen. Der wichtigste Unterschied ist aber, dass es an einer Außengrenze Zurückweisungen geben kann, während dies an Binnengrenzen wie der deutschen generell verboten ist. An der Binnengrenze muss ein Dublin-Verfahren mit dem zuständigen Staat durchgeführt werden, wenn die Zuständigkeit nicht mittels Selbsteintritt übernommen wird. Warum Dublin ein solches Verfahren nicht im Schnelldurchgang erlaubt, zeigt dieser Beitrag auf.

Kontrollen an der Binnengrenze und das Dublin-Verfahren

Der nachfolgende Artikel beschäftigt sich nicht näher mit der Zulässigkeit von Binnengrenzkontrollen selbst. Diese sind gemäss Art. 22ff. des Schengener Grenzkodex (SGK) nur im Ausnahmefall zulässig, wenn eine ernsthafte und konkrete Gefahr für die öffentliche Ordnung oder die innere Sicherheit vorliegt. Ob diese Voraussetzungen aktuell vorliegen, ist zumindest zweifelhaft. Eine Rückkehr zur Einhaltung des eigentlichen Grundsatzes des Art. 22 SGK, dass „die   Binnengrenzen […] unabhängig von der Staatsangehörigkeit der betreffenden Personen an jeder Stelle ohne Personenkontrollen überschritten werden [dürfen]“ und damit zur vollständigen Wiederherstellung des Schengen-Systems ist seit zwei Jahren eines der wichtigsten Ziele der EU-Kommission. Binnengrenzkontrollen sind folglich eine nur vorübergehend erlaubte Anomalie im Schengen-Raum. Sie haben somit nicht dieselbe Funktion wie Außengrenzkontrollen und müssen entsprechend mit den Nachbarstaaten abgestimmt und durchgeführt werden. Zurückweisungen als einseitige, unabgestimmte Handlungen sind schon deswegen ausgeschlossen. Selbst wenn solche Zurückweisungen abgestimmt wären, dürften sie nicht durchgeführt werden, wenn Dublin anwendbar ist. Dublin sieht nämlich verpflichtend ein Überstellungsverfahren vor, dass zwar durch bilaterale Abkommen gemäss Art. 36 Dublin-III-Verordnung beschleunigt werden kann, aber nicht umgangen werden darf.

Anwendbarkeit von Dublin

Jedes Asylgesuch muss von den Behörden – also auch von Bundes- oder Landesbehörden, die eine Grenzkontrolle durchführen – entgegengenommen und registriert werden. Ein Asylgesuch ist dabei jede Äußerung oder Geste, die darauf hindeutet, dass die Person Schutz beantragen möchte. Das Dublin-Verfahren beginnt, sobald eine Person einen Asylantrag gestellt hat. Wann ein Antrag als gestellt gilt, hat der EuGH in der Entscheidung Mengesteab dargelegt. Ist eine Person einmal im Dublin-Verfahren, endet die Anwendbarkeit der Verordnung nur, wenn die Person entweder den Schengen-Raum verlässt oder wenn sie im Asylverfahren Schutz erhält. Damit kann Dublin auch anwendbar sein, wenn die Person an der Grenze kein Asylgesuch stellt. Diese Situation ist in Art. 24 Dublin-III-Verordnung geregelt und führt zu einer Pflicht der Grenzkontrollbehörden bei allen aufgegriffenen Personen, die keinen Nachweis eines legalen Aufenthalts mit sich führen, zu überprüfen, ob diese bereits einen Asylantrag in einem anderen Staat gestellt haben. In einem solchen Fall (sog. Aufgriffsfall) wäre Dublin anwendbar, auch wenn die Person an der Grenze kein Asylgesuch stellt. Wie an anderer Stelle überzeugend dargelegt wurde, ist auch Deutschland und nicht Österreich an der Binnengrenze für das Dublin-Verfahren zuständig. Entgegenstehendes deutsches Recht tritt generell hinter das EU-Recht und damit hinter die Dublin-III-Verordnung zurück.

Keine Anwendung von Dublin ohne Zustimmung des zuständigen Staates

Ist das Dublin-Verfahren anwendbar, muss es dem in der Verordnung festgelegten Ablauf folgen:

  • Prüfung der eigenen Zuständigkeit (inklusive der Frage, ob das Selbsteintrittsrecht ausgeübt wird)
  • Übernahmeersuchen, wenn ein anderer Staat für zuständig gehalten wird
  • Antwort des ersuchten Staates (durch Zustimmung oder Schweigen während der Antwortfrist)
  • Dublin-Bescheid inklusive Zustellung
  • Überstellung

In einer Entscheidung vom 31. Mai 2018 (Hassan) hat der EuGH festgehalten, dass der Erlass und die Zustellung eines Bescheides vor der Zustimmung des zuständigen Staates gegen die Dublin-III-Verordnung verstößt. Für die Situation an der Grenze bedeutet dies, dass die Antwort des zuständigen Staates abgewartet werden muss. Eine Zurückweisung an der deutsch-österreichischen Binnengrenze nach Österreich könnte nur dann erfolgen, wenn Österreich zuständig ist und der Übernahme der Person zugestimmt hat. Ohne Zustimmung wird der ersuchte Staat auch dann nicht zuständig, wenn er die Zustimmung zu Unrecht verweigert. Da Dublin auf dem Konsensprinzip beruht, bleibt dem anfragenden Staat in solchen Einzelfällen nur der Weg über ein sog. Remonstrationsverfahren nach Art. 5 der Dublin-Durchführungsverordnung.

Umfassender Rechtsschutz im Aufenthaltsstaat

Eine Zurückweisung wäre daher grundsätzlich nur nach einer Zustimmung und einem Dublin-Bescheid möglich. Gegen diesen Bescheid steht der Person ein umfassender Rechtsbehelf zu, der gemäß Art. 27 Dublin-III-Verordnung iVm § 34a Abs. 2 AsylG die Stellung eines Antrags auf aufschiebende Wirkung gemäß § 80 Abs. 5 VwGO umfasst. Während der Antragsfrist (eine Woche) und – bei Stellung eines Antrags – vor der gerichtlichen Entscheidung über den Antrag ist eine Abschiebung nicht zulässig. Damit müsste auch bei einer Zurückweisung an der Grenze zumindest diese Frist abgewartet werden, bevor die Person zurückgewiesen wird.

Ein einklagbares Recht auf die richtige Zuständigkeitsbestimmung

Es wurde immer wieder vorgebracht, es könne mit Österreich vereinbart werden, dass Österreich an der Grenze die Zuständigkeit übernimmt, wenn es (was der Regelfall sein dürfte) nicht zuständig ist. Dies verstößt allerdings gegen das Recht der asylsuchenden Person auf die richtige Zuständigkeitsbestimmung. Es kann und darf nur der zuständige Staat einem Übernahmeersuchen wirksam zustimmen. Stimmt Österreich einem Übernahmeersuchen zu, wenn es nicht zuständig ist, steht der betroffenen Person eine gerichtliche Überprüfungsmöglichkeit zu. Der EuGH hat in den Entscheidungen Ghezelbash und Karim im Juni 2016 festgehalten, dass es ein solches Recht auf eine richtige Zuständigkeitsbestimmung gibt und dass die Richtigkeit der Zuständigkeitsbestimmung auf Antrag/Klage der betroffenen Person gerichtlich voll überprüfbar ist.

Es sei angesichts der Diskussion zu „bereits registrierten Flüchtlingen“ darauf hingewiesen, dass die Registrierung als asylsuchende Person bzw. die Asylantragstellung in einem Land kein Zuständigkeitskriterium ist und nur zum Tragen kommt, wenn keines der Zuständigkeitskriterien einschlägig ist. Bei den Zuständigkeitskriterien ist vor der Zuständigkeit wegen irregulärer Einreise über eine Außengrenze (Art. 13 Dublin-III-Verordnung) zu prüfen, ob die vorrangigen Familienkriterien (Art. 8-11 Dublin-III-Verordnung) einschlägig sind oder die Person einen Aufenthaltstitel oder ein Visum eines Dublin-Staates hat oder hatte (Art. 12 Dublin-III-Verordnung).

Eine Zurückweisung nach Österreich unter Einhaltung des Dublin-Rechts ist daher nur zulässig, wenn das Dublin-Verfahren ordnungsgemäß (inklusive Prüfung der Kriterien und Rechtsschutz) durchgeführt wird und Österreich der zuständige Staat ist. Auf das Dublin-Verfahren kann nicht verzichtet werden, da es ein Recht auf die richtige Zuständigkeitsbestimmung gibt. Damit sind im Regelfall an der Grenze zwischen Deutschland und Österreich schon wegen der fehlenden Zuständigkeit Österreichs keine Dublin-Verfahren und somit keine Zurückweisungen von bereits in einem anderen Staat registrierten Personen zulässig.

Das Recht auf Einhaltung des Verfahrens und der Fristen

In den Verfahren Mengesteab und Shiri hat der EuGH über das Recht auf die richtige Zuständigkeitsbestimmung hinaus festgehalten, dass auch das Verfahren selbst eingehalten werden muss und die Nichteinhaltung im Klageverfahren geltend gemacht werden kann. Die Gerichte müssen die Einhaltung der Verfahrensvorschriften ebenfalls voll überprüfen. In den genannten Entscheidungen ging es um die Einhaltung der Anfrage- und der Antwortfrist. Dies könnte an der Grenze dann relevant sein, wenn die Person mehrfach registriert wurde. In solchen Fällen hat möglicherweise die Zuständigkeit wegen Nicht-Durchführung des Dublin-Verfahrens oder einer Überstellung gewechselt. Auch das kann und muss von einem mit der Sache befassten Gericht voll überprüft werden.

Mehrfacheinreisen

Wurde die Person bereits einmal in einem Dublin-Verfahren in den zuständigen Staat überstellt und kehrt nach Deutschland zurück, muss Deutschland trotzdem ein weiteres Dublin-Verfahren durchführen. Dies hat einerseits damit zu tun, dass die Zuständigkeit sich möglicherweise geändert haben kann und dies überprüft werden muss und andererseits damit, dass immer ein geordnetes Überstellungsverfahren durchgeführt werden muss, um sicherzustellen, dass der zuständige Staat auch weiterhin aufnahmebereit ist. Dies dient vor allem der Vermeidung von Asylsuchenden, die in der Luft hängen („in orbit“) und der Rechtssicherheit im Dublin-Verfahren zwischen den beteiligten Staaten. Der EuGH hat dies in einem Deutschland betreffenden Fall aus dem Januar 2018 (Hasan) festgehalten. Er hat klargestellt, dass auch bei Rückkehr aus dem zuständigen Staat nach Deutschland nochmal ein Dublin-Verfahren durchzuführen ist. Dies gilt selbst dann, wenn ein Einreiseverbot in die Bundesrepublik Deutschland besteht. Wie bei anderen Verboten auch (bspw. Fahrverbot/Berufsverbot) ist das Einreiseverbot eine Anordnung, die bei Nichteinhaltung (also Wiedereinreise) sanktioniert werden kann, die aber nicht zum Verlust des Rechts auf ein geordnetes (Dublin-)Verfahren führt. Deutschland müsste also an der Binnengrenze auch in diesen Fällen ein neues Dublin-Verfahren mit dem zuständigen Staat durchführen. 

Umfassende Einhaltung des Refoulement-Verbots

Ebenfalls muss an der Grenze überprüft werden, ob das Refoulement-Verbot eingehalten wird. Dieses gilt – wie der EuGH im Fall C.K. und andere festgehalten hat – umfassend in allen Dublin-Verfahren und muss vor einer Überstellung geprüft werden. Dies bedeutet unter anderem, dass schwer kranke Personen, aber wohl auch generell Personen mit besonderen Bedürfnissen in Aufnahme und Verfahren (sog. vulnerable Personen), an der Grenze nicht zurückgewiesen werden dürfen und so schnell wie möglich die notwendige Unterstützung erhalten müssen. Dies gilt etwa, wenn Hinweise auf erlittene Folter oder Ausbeutung als Menschenhandelsopfer bestehen. Da nach der Aufnahmerichtlinie, die während des gesamten Dublin-Verfahrens gilt (CIMADE und Gisti), diesbezüglich eine Abklärungspflicht besteht, ist zumindest fraglich, wie diese Verpflichtung in Grenzverfahren eingehalten werden könnte.

Um die umfassende Einhaltung des Refoulementverbots sicherzustellen, muss auch geprüft werden, ob eine Überstellung in den zuständigen Staat überhaupt zulässig ist. Dies ist aktuell bei einer Zuständigkeit Ungarns oder Griechenlands wohl generell ausgeschlossen, und bei Bulgarien, Kroatien und (unter strengeren Voraussetzungen) bei Italien aufgrund der herrschenden Aufnahme Bedingungen zumindest nicht offensichtlich unproblematisch. Inwieweit in Dublin-Verfahren auch die (schlechte) Situation im Falle einer möglichen Anerkennung zu berücksichtigen ist, ist eine Fragestellung, die aktuell beim EuGH anhängig ist.

Garantien für Kinder

Zudem ist angesichts der hohen Anzahl von Minderjährigen unter den Asylsuchenden in Deutschland (über 50% von Januar bis Mai 2018, BAMF) noch daran zu erinnern, dass in Dublin-Verfahren besondere Garantien für Minderjährige generell gelten (Art, 6 Dublin-III-Verordnung, Art. 24 Abs. 2 GRC) und dass für unbegleitete Minderjährige der Staat zuständig ist, in dem der letzte Asylantrag gestellt wurde (M.A. u.a.). Unbegleitete Kinder müssen zudem nach § 42a SGB VIII in Obhut genommen werden und dürften ohnehin nicht an der Grenze zurückgewiesen werden.

Fazit

Aus der Rechtsprechung des EuGH ergibt sich, dass an einer Binnengrenze immer ein Dublin-Verfahren durchgeführt werden muss, auch wenn diese kontrolliert wird, und dass dieses Verfahren nur dann zu einer Zurückweisung nach beispielsweise Österreich (unter Einhaltung des Dublin-Verfahrens inklusive Rechtschutz) führen kann, wenn Österreich für das Asylverfahren zuständig ist und der Übernahme zustimmt. Dies erfordert die Einhaltung der Verfahrensnormen aus der Verordnung und damit einen gewissen Zeitaufwand (selbst bei extremer Beschleunigung des Verfahrens), der in einem Verfahren an der Grenze nicht zu leisten ist. Ist eine Person also bereits in einem anderen Staat als asylsuchend registriert oder stellt sie im Rahmen der Grenzkontrolle ein Asylgesuch, wäre es sinnvoll und sachgerecht, diese an das BAMF zur Durchführung des Dublin-Verfahrens weiter zu verweisen. Jedenfalls ist aber eine Zurückweisung an der Grenze ohne Durchführung eines Dublin-Verfahrens rechtswidrig. Zur Vermeidung weiterer rechtlicher Missverständnisse und Diskussionen, sollte dieses Vorgehen in einer Weisung des BMI festgelegt und (perspektivisch) das anderslautende deutsche Recht (insbesondere § 18 AsylG) geändert werden.


SUGGESTED CITATION  Hruschka, Constantin: Dublin ist kein Fünf-Minuten-Verfahren – Zu Zurückweisungen an der Grenze, VerfBlog, 2018/6/23, https://verfassungsblog.de/dublin-ist-kein-5-minuten-verfahren-zu-zurueckweisungen-an-der-grenze/, DOI: 10.17176/20180625-144042-26.