13 Juni 2018

Weshalb man Asylsuchende nicht an der Grenze abweisen kann

Der Vorschlag, Asylsuchende doch einfach direkt an der Grenze abzuweisen, ist als politisches Material erstaunlich langlebig. Erstaunlich, weil das Recht dem Vorschlag so eindeutig entgegensteht. Das Europarecht steht ihm entgegen, in Form der Regelungen der Dublin-Verordnung. Wenn man die ändern oder missachten möchte, steht dem Vorschlag immer noch die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) entgegen, mit dem Verbot der Kollektivausweisung nach Art. 4 Zusatzprotokoll IV. Und falls die entsprechenden Fraktionen überlegen, aus der EMRK auszutreten, steht der Zurückweisung von Flüchtlingen an der Grenze auch noch die Genfer Flüchtlingskonvention und das Völkergewohnheitsrecht entgegen, mit dem Refoulement-Verbot und der deklaratorischen Natur der Flüchtlingsanerkennung. Insofern wäre politische Energie besser investiert, indem über rechtskonforme Vorschläge der Gestaltung von Flüchtlingsschutz diskutiert wird.

Die Regeln der Dublin-Verordnung

Die Staaten der Europäischen Union haben sich entschieden, Asylverfahren und Flüchtlingsschutz gemeinsam zu regeln. Das ist kaum anders denkbar angesichts des Schengenraums, in dem es keine Kontrollen an den Binnengrenzen mehr stattfinden. So finden sich die Vorvorgängerregeln der Dublin-Verordnung bereits im Schengener Durchführungsübereinkommen von 1990. Dass Asyl auf Ebene der EU geregelt wird, ist in anderen Worten eng verbunden mit dem Kern dessen, was für viele Bürgerinnen und Bürger Europa ausmacht – das Unsichtbarwerden von Grenzen.

Art. 78 AEUV führt die Regelungskompetenz der EU bezüglich Flüchtlingsschutz aus, dort findet sich unter Absatz 2, Buchstabe e die Vorgabe, Zuständigkeitsregeln zu erlassen. Das ist passiert in Form der Dublin-Verordnung. Die Dublin-Verordnung wiederum hat zwei Kernanliegen. Einerseits soll „forum-shopping“ vermieden werden, Schutzsuchende können sich nicht aussuchen, wo sie ihren Asylantrag stellen. Andererseits soll sichergestellt werden, dass Schutzsuchende einen Ort haben, wo sie vorläufig aufgenommen werden und wo ihr Asylantrag bearbeitet wird. „Refugees in orbit“ sollen vermieden werden, bzw. dass Asylsuchende zwischen den Interessen von Staaten zerrieben werden. Nun kann man streiten, wie gut die Dublin-Verordnung diese Ziele erreicht. Es mangelt nicht an Kritik. Aber die Dublin-Regeln gelten und sie sollten gelesen werden vor dem Hintergrund dieser Ziele.

Weshalb also stehen die Dublin-Verordnung und allgemeiner ein gemeinsames Zuständigkeitssystem der Idee entgegen, Personen an der Grenze abzuweisen? Weil es ein Verfahren gibt, in denen diese Zuständigkeitsverteilung geprüft wird.

Art. 3 Dublin-Verordnung spricht von der Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz – diese Prüfung ist die inhaltliche Prüfung, ob die Personen als schutzberechtigt anerkannt ist. Diese Prüfung ist die chronologisch zweite: zunächst muss geprüft werden, welcher Mitgliedstaat für die inhaltliche Prüfung zuständig ist. Daher spricht Art. 3 Abs. 2 Dublin-Verordnung vom „die Zuständigkeit prüfende[n]“ Mitgliedstaat. Diese chronologisch erste Prüfung der Zuständigkeit möchten die „Flüchtlinge an der Grenze abweisen“-Vorschlager vermeiden. Sie ist aber Grundlage der Dublin-Verordnung: eine Zuständigkeitsregelung, bei der die Zuständigkeit nicht geprüft sondern an der Grenze vermutet wird, wäre eine Farce. Die Prüfung der Zuständigkeit ist in der Dublin-Verordnung selbstverständlich verankert, so auch explizit in den Verfahrensgarantien der Art. 4 bis 6. Und die Prüfung der Zuständigkeit ist eben unverzichtbar, um zu vermeiden, dass Flüchtlinge hin- und herverwiesen werden und kein Staat die Zuständigkeit akzeptiert.

Nun mögen die Vorschlagenden einwenden, dass regelmäßig Deutschland nicht der nach Kapitel III Dublin-Verordnung zuständige Staat ist. Und dass es gleichzeitig so schwierig ist, Personen an andere Mitgliedstaaten zu überstellen – insbesondere seitdem der EuGH die Fristen dafür im Urteil Mengesteab eng ausgelegt hat. Was ist also mit dem Ziel, „forum shopping“ zu vermeiden? Erstens ist nicht auf Grund der geographischen Lage klar, dass Deutschland nicht zuständig wäre. Es gibt neben dem Kriterium des ersten Eintritts in die EU zahlreiche weitere, vorrangige Zuständigkeitsregeln in den Artikeln 8 bis 12 Dublin-Verordnung. Zweitens enthält die Verordnung die Pflicht, das Asylverfahren zu übernehmen, wenn in dem eigentlich zuständigen Mitgliedstaat systemische Mängel im Asylverfahren und den Aufnahmebedingungen bestehen (Art. 3 Abs. 2). Das reagierte auf die Rechtsprechung seit M.S.S. gg. Belgien und Griechenland (EGMR) und N.S. (EuGH).

Es ist also nicht klar, wenn eine Person an der Grenze steht, ob Deutschland für die inhaltliche Prüfung des Asylantrags zuständig ist. Daher muss erst die Zuständigkeit geprüft werden. Herr Dobrindt liegt falsch, wenn er meint, dass ein Blick in die Fingerabdruckdatei Eurodac diese Prüfung ersetzen könnte. Eurodac erkennt Personen. Die Rechtslage erkennen Richter. Zum Glück. Bei allen Problemen, die man ihr vorhalten kann, transportiert die Dublin-Verordnung diese wichtige Entscheidung: Dass es letztlich um den Schutz von Personen geht. Deren Wohl ist gegen die Interessenskonflikte der Mitgliedstaaten abzusichern und so sehen die Regeln vor, dass in jedem Fall ein Staat zuständig bleibt. Deshalb ist ein Abweisen von Personen an der Grenze unter EU-Recht schlicht unzulässig.

Verbot der Kollektivausweisung

Auch in einer Welt ohne EU-Recht wäre der Vorschlag, Personen an der Grenze ohne Verfahren abzuweisen, nicht mit dem Recht vereinbar. Im Art. 4 des von Deutschland ratifizierten IV. Zusatzprotokoll der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) findet sich das Verbot der Kollektivausweisung. Diese gilt auch für Zurückweisungen an der Grenze (so der EGMR in Fall N.D. und N.T., para. 104). Das heißt, Personen dürfen nicht pauschal abgewiesen werden, ihre individuellen Umstände müssen zur Kenntnis genommen und berücksichtigt werden. Das ist weniger als die Vorgaben der Dublin-Verordnung, welche ein spezifisches Verfahren der Zuständigkeitsprüfung verlangen. Aber bereits durch das Verbot der Kollektivausweisung wären Zurückweisungen mit vorgefertigten Begründungen, die sich nur nach der Nationalität des Asylsuchenden oder nach einem Eurodac-Treffer richten, unzulässig.

Das Refoulement-Verbot und die deklaratorische Natur der Anerkennung als Flüchtling

Schließlich trifft der Vorschlag von Alexander Dobrindt auch im allgemeinen Völkerrecht auf Hindernisse. Das Verbot, Flüchtlinge zurückzuweisen, das Refoulement-Verbot, gilt nach Art. 33 Abs. 1 Genfer Flüchtlingskonvention sowie völkergewohnheitsrechtlich und ebenfalls bereits an der Grenze. Nun geht es um eine Zurückweisung in Nachbarländer Deutschlands, nicht in die Staaten, aus denen Personen geflohen sind. Aber das Refoulement-Verbot erfordert auch, sicherzustellen, dass eine Person nicht Opfer einer Kettenrückschiebung wird. Abgewiesen werden darf also nur, wenn sicher ist, dass die Person nicht in dem anderen Staat ebenso zurückgewiesen wird. Insofern verbleibt von dem Prinzip auch mitten in Europa ein wesentlicher Gehalt: der Staat muss genau hinschauen. Das geht gerade nicht mit pauschaler Abweisung an der Grenze.

Gilt das Refoulement-Verbot nur für Flüchtlinge im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK)? Im Ausgangspunkt gilt es für sie – aber vor einem Verfahren kann niemand wissen, ob es sich bei Personen um Flüchtlinge im Sinne der GFK handelt. Insofern entfaltet das Prinzips seine Schutzwirkung unabhängig von einer später erst festzustellenden Flüchtlingseigenschaft. Dies bildet die Kehrseite der deklaratorischen Natur der Anerkennung als Flüchtling (siehe UNHCR Handbook, para 28): Als Flüchtling zu schützen ist eine Person schon bevor der Staat über ihren Schutzstatus befinden konnte. Ja, das bedeutet, dass auch Personen zu schützen sind, die später nicht in die Kategorie des Flüchtlings oder der subsidiär Schutzberechtigten fallen. Ja, das bedeutet, das Personen vorläufig aufgenommen werden müssen, bei denen sich später herausstellt, dass sie keinen Schutzanspruch haben. Die Unsicherheit, welche an der Grenze besteht, soll dem Recht nach vom Staat getragen werden, der ein Verfahren betreiben kann. Sie soll nicht von den Asylsuchenden getragen werden, die allenfalls zu Unrecht und ohne anderen Ausweg abgewiesen werden. Diese Verteilung, die das Recht vornimmt, verlangt dem Staat etwas ab. Aber sie ist richtig, denn das Flüchtlingsrecht hat zum Ziel, Menschen vor Verfolgung zu schützen – nicht Staaten vor Menschen.

Diese Version des Artikels enthält im Vergleich zur Ursprungsversion zur Klarstellung an zwei Stellen Verweise auf die Genfer Flüchtlingskonvention.


SUGGESTED CITATION  Schmalz, Dana: Weshalb man Asylsuchende nicht an der Grenze abweisen kann, VerfBlog, 2018/6/13, https://verfassungsblog.de/weshalb-man-asylsuchende-nicht-an-der-grenze-abweisen-kann/, DOI: 10.17176/20180614-182247-0.

89 Comments

  1. Moris Anista-First Do 14 Jun 2018 at 03:20 - Reply

    When the AFD („Alternative für Deutschland“) and Markus Söder’s (and Hörst Seehofer’s) CSU [„Christlich(!!!) soziale (!!!) Union“] give SIMPLE Solution’s (like Hitler did) …

    I fear, they do not think 2 much about „Dublin“ and this „EMRK“ …

  2. LM Do 14 Jun 2018 at 08:59 - Reply

    Völkerrechtlich ist das nicht ganz unumstritten, u.a. die USA und Australien vertreten hier eine andere Auffassung, womit es nicht gänzlich unproblematisch ist, von generellem Völkergewohnheitsrecht auszugehen. Man kann wohl zumindest von regionalem (europäischem) Völkergewohnheitsrecht sprechen.

    • as Do 14 Jun 2018 at 12:09 - Reply

      Zwei Staaten, die Völkerrecht nicht ernst nehmen, machen noch lange kein Völkergewohnheitsrecht. Staatenpraxis sieht anders aus.

      • LM Do 14 Jun 2018 at 19:08 - Reply

        Natürlich machen sie kein Gewohnheitsrecht, die Frage ist, ob Gwohnheitsrecht trotz uneinheitlicher Staatenpraxis bzw. opinio iuris entstehen kann.
        Staaten gegen ihren Willen völkerrechtlich zu binden ist eben auch im modernen Völkerrecht schwierig.

        • Fg Fr 15 Jun 2018 at 10:13 - Reply

          Unabhängig von der genauen Situation könnte man bei entgegenstehender Opinio Juris natürlich trotzdem über Völkergewohnheitsrecht nachdenken, soweit man die Figur des persistent objectors bemüht (die natürlich selbst wieder umstritten ist).
          Soweit also eine Staatenpraxis in der Hinsicht besteht kann daher trotz einer geringen Anzahl anders handelnder Staaten Völkergewohnheitsrecht entstehen, eine Beschränkug auf regionales Völkergewohnheitsrecht ist dann nicht notwendig.

          • LM So 17 Jun 2018 at 17:19

            Absolut richtig, nur eben alles in den Details sehr umstritten. Darüber hinaus ist es meiner Einschätzung nach nicht klar, ob es hier genügend Staatenpraxis bzw. opinio iuris gibt, Prof. Talmon verneint dies am Ende seines Beitrags.

  3. Peter Camenzind Do 14 Jun 2018 at 09:37 - Reply

    Bislang galt in der Politik selbst im Rechtsstaat, wo ein politischer Wille ist, ist ein Weg, wie das Recht auch sein soll. Das Recht soll grundsätzlich eher nur änderbare Auslegungsfrage iSv. Ansichtssache sein. Worte seien Schall und Rauch, Recht bestünde aus Worten. Papier sei geduldig. Vielleicht nicht ganz ironifrei soll mit solch quasi fließendem Rechtsverständnis das Recht gerade betont bestärkt und verteidigt sein.
    Zuwanderungskritiker sehen in einer Zuwanderungsbefürwortung nur einen Ausdruck von blinder Hybris einer linksliberalen Machtelite. Nur auf diese Weise konnten es etwa die AfD und andere ja überhaupt nur bislang soweit bringen. Das dies gerade in der Flüchtlingsfrage anders sein sollte, muss nicht als sicher gelten.

  4. Monika Frommel Do 14 Jun 2018 at 09:58 - Reply

    na ja, was soll das schon heißen: linksliberale „Machtelite“. Das ist AfD pur, eine Kampfansage gegen eine Haltung, welche individuelle Rechte ernst nimmt. Dass die Abschiebung – je nach Einzelfall – konsequenter sein muss, das sei zugestanden.

    • Paul Lenz Di 19 Jun 2018 at 14:11 - Reply

      Die Grenzen zu öffnen war keine Hybris, sondern eine Notwendigkeit, damit Deutschland nicht so schäbig, egoistisch, geizig, menschenverachtend und fremdenfeindlich dasteht wie z.B. die Polen. Es war vor allem ein Akt der Solidarität mit unseren Nachbarländern. Grenzen schießen heißt, das jeweilige Nachbarland kaltlächelnd zusehen lassen, wie es mit den Flüchtlingen zurecht kommt. Dann schließt ein Land nach dem anderen seine Grezen, und am Schluss bleiben nur Italien und Griechenland übrig, die ihre Grenzen nicht so einfach schließen können, sondern nur die Flüchtlinge ins Meer zurück schubsen können.

      • Olaf Dilling Fr 22 Jun 2018 at 12:52 - Reply

        Wie aber steht Deutschland nach Kommentaren wie diesem in der Weltöffentlichkeit da? Geht es uns nur um Imagepflege? Können wir nur weltoffen sein, wenn wir zugleich „die Polen“ in allen möglichen Hinsichten aufs Ärgste beleidigen? Können wir uns auch auf Solidarität mit den Nachbarländern berufen, wenn die das nicht wollen?

        Das wär alles eine kuriose Marginalie, trifft aber leider doch zu sehr den Kern hier, denn wir haben Pflichten gegenüber Flüchtlingen aus aller Welt, aber eben auch gegenüber den anderen Mitgliedstaaten. ZB die Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit. Eine Rechtsgemeinschaft, zumal eine solche mit offenen Binnengrenzen, kann nur funktionieren, wenn sich die Staaten der Union so weit gegenseitig vertrauen, dass sie rechtliche Entscheidungen und Zuständigkeiten und gemeinsame Verfahren gegenseitig anerkennen und wenn unilaterale Maßnahmen wie Selbsteintritt absolute Ausnahme und „ultima ratio“ bleiben. Wenn Europarecht wie Dublin-III stets durch Völkerrecht ausgehebelt werden könnte, wäre es kein Wunder, wenn sich zunehmend Mitgliedsstaaten von der Union abwenden. Dass die deutsche Umsetzung des Asylrechts nicht über jeden Zweifel erhaben ist, hat sich gezeigt und die Folgen müssen im Schengen-Raum alle tragen.

  5. Pierre Do 14 Jun 2018 at 11:14 - Reply

    Mit Verlaub, aber das ist wirklich Unsinn. Weder der Vertrag von Schengen noch die Dublin-Regeln setzen das deutsche Aufenthaltsgesetz außer Kraft. Jemand, der quer durch die EU reist, ist auch kein akut verfolgter Flüchtling im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention. Und bei der Zurückweisung geht es aktuell doch nur um diejenigen, die bereits in einem anderen EU-Staat registriert wurden, Dänemark und auch Frankreich lassen aktuell ohne Ausweis überhaupt niemanden herein. Hat man da von EU-Seite jemals eine Beschwerde gehört, das sei nicht rechtskonform?

    • as Do 14 Jun 2018 at 12:13 - Reply

      Das „deutsche“ Aufenthaltsgesetz setzt in vielen Teilen seinerseits EU-Recht um. Ist also unionsrechtskonform auszulegen.

    • Paul Lenz Di 19 Jun 2018 at 14:15 - Reply

      Wer seine Grenzen schließt, schiebt die Last mit den Flüchtlingen auf seine Nachbarländer ab. Sollen die doch selbst sehen, was sie mit den Flüchtlingen anfangen, das braucht uns doch nicht zu jucken. Ich bin froh, dass Frau Merkel sich dieser abgundtief schäbigen Einstellung nicht angeschlossen hat.

  6. Law as Integrity Do 14 Jun 2018 at 11:51 - Reply

    Vielen Dank für diese wohltuend nüchterne Bestandsaufnahme.Vielleicht wäre es dann doch mal Zeit, über Art. 64 (1) GG den Spuk zu beenden…?
    @Pierre: Mag alles so sein, wie Sie schreiben – prüfen muss man den Status der ankommenden Personen dann ja aber doch immer noch. Nichts anderes hat Frau Schmalz m.E. geschrieben.

  7. Leser Do 14 Jun 2018 at 11:56 - Reply

    Die These des Artikels wird durch die Begründung m. E. nicht gestützt.

    Sie erklären, wenn ich das richtig verstehen, dass eine Zurückweisung an der Grenze nicht möglich sei, weil die Zuständigkeit für das Asylverfahren geklärt werden müsse.

    Ja, nun, das mag ja sein. Aber wieso soll das nicht an der Grenze bspw. durch Abfrage aus einer Datenbank möglich sein? Wenn sich ein anderer Mitgliedsstaat bereits für zuständig erklärt hat und das bekannt ist, ist eine Zurückweisung doch auch nach Ihrer Rechtsansicht offenbar zulässig.

    Damit ist es die rein technische Frage, ob die „Grenzer“ in die Lage versetzt werden können, diese Information schnell genug abzurufen. Ob die öffentliche Hand das hinbekommt, mag man sich ja fragen. Aber das ist eine Frage der Technik oder Umsetzung, nicht der Erlaubtheit. Oder verstehe ich den Artikel falsch?

    • Law as Integrity Do 14 Jun 2018 at 12:05 - Reply

      @Leser: „Erstens ist nicht auf Grund der geographischen Lage klar, dass Deutschland nicht zuständig wäre. Es gibt neben dem Kriterium des ersten Eintritts in die EU zahlreiche weitere, vorrangige Zuständigkeitsregeln in den Artikeln 8 bis 12 Dublin-Verordnung. Zweitens enthält die Verordnung die Pflicht, das Asylverfahren zu übernehmen, wenn in dem eigentlich zuständigen Mitgliedstaat systemische Mängel im Asylverfahren und den Aufnahmebedingungen bestehen (Art. 3 Abs. 2). Das reagierte auf die Rechtsprechung seit M.S.S. gg. Belgien und Griechenland (EGMR) und N.S. (EuGH).“
      Eine rein „technische“ Lösung hilft also letztlich nicht weiter.

      • Leser Do 14 Jun 2018 at 13:37 - Reply

        Ein 50jähriger Asylbewerber steht an der Grenze Frankreich/Deutschland. Er erklärt gegenüber der für den Grenzschutz zuständigen Behörde sein Alter, seinen Namen, dass er keine Familienangehörigen in Deutschland hat und in Frankreich bereits Asyl beantragt habe. Das dortige Verfahren erscheine im überzeugend. Er wolle aber lieber nach Deutschland, weil er die Landschaft dort schöner finde.

        Die Behörde will ihn nach Frankreich zurückweisen.

        Haben Sie dagegen rechtliche Bedenken?

        Wenn ja, bitte ich um Erläuterung.
        Wenn nein, erklären Sie uns doch bitte, wieso eine Zurückweisung an der Grenze dann kategorisch rechtswidrig sein soll.

        Die Rechtmäßigkeit dürfte von der konkreten Umsetzung abhängen und nicht in Schwarz-Weiß-Kategorien zu beantworten sein.

        • Law as Integrity Do 14 Jun 2018 at 13:53 - Reply

          Nun, angenommen es wäre (etwa in einem früheren Fall) gerichtlich festgestellt worden, dass Asylbewerber in Frankreich menschenunwürdig behandelt werden (soll es ja auch in Europa geben), dann sollte der Grenzschützer in der Tat nicht die Kompetenz besitzen, die Person nach Frankreich zurückzuschicken, nur weil er/sie meint, da sei schon alles in Ordnung. Das muss dann schon ein Gericht so feststellen, finde ich (auch die Einschätzung des Betroffenen selbst ersetzt hier m.E. nicht die objektive Rechtsfindung). Dass das ganze nicht schwarz/weiß zu behandeln ist, da stimme ich Ihnen ausdrücklich zu – genau das machen aber doch eher Dobrindt et al., finden Sie nicht?

          • Leser Do 14 Jun 2018 at 14:55

            Und wenn keine gerichtliche Feststellung, nicht einmal ein Verdacht besteht, dass Frankreich Asylverfahren fehlerhaft betreibe – dann ist die Zurückweisung zulässig?

            Das ist doch alles, was ich sagen will.

            Was Dobrindt, Seehofer pp. sich genau vorstellen, weiß ich persönlich nicht. Vielleicht gehen ihre Vorstellungen über das Erlaubte hinaus. Vielleicht auch nicht.
            Aber diese „alles verboten“-Rhetorik, die hier verbreitet wird, finde ich fachlich falsch und – bei allem Respekt – für einen wissenschaftlichen Diskurs unwürdig.

            Ich persönlich bin kein Fan der CSU, auch nicht von Seehofer, noch weniger von Dobrindt. Aber auch wenn man den Träger einer Botschaft nicht mag, heißt das nicht, dass die Botschaft gleich falsch, verboten oder böse ist. So wird hier aber meinem Eindruck nach gewertet.

            Ich kann nur darum bitten, folgende Überlegung anzustellen:

            Wenn die angeliche Entscheidung Frau Merkels, die Grenzen zu öffnen, anders ausgefallen wäre, wäre das für den Schutz Asylsuchender langfristig vielleicht besser gewesen?

            Ohne diese Entscheidung hätten wir vermutlich heute nicht 13% AfDler im Bundestag sitzen, die ihre Partei jetzt mit staatlichen Mitteln und dem Zugriff auf den Apparat des Bundestages weiter fördern können.

            Die AfD scheint weiter Aufwind zu bekommen – und wer weiß, vielleicht wehen hier in zehn Jahren wieder Hakenkreuzfahnen. Alles dank einer menschlich nachvollziehbaren, aber leider mehr von Mitleid als von Weitblick getragenen Entscheidung, die man jetzt auch noch verteidigt, als wäre es das eigene Kind.

            Vielleicht kommt es nicht so – ich hoffe es von ganzem Herzen. Aber die bloße Gefahr ist schon ein Schaden. Die USA machen uns doch lebhaft vor, welche Folgen politische Radikalisierung beider Lager haben können.

            In ein Extrem zu fallen, bewegt auch die anderen zur Extremisierung. Wer Seehofer pp. pauschal Rechtsbruch vorwirft, das aber nicht mit Argumenten belegen kann, legitimiert damit Propaganda auch der anderen Richtung.

        • Frank Do 11 Okt 2018 at 17:12 - Reply
          • Maximilian Steinbeis Do 11 Okt 2018 at 17:19

            Danke für den Hinweis auf das Urteil, interessant. Ich versteh nicht so viel von Asylprozessrecht, aber mir fällt auf, dass der VGH sagt, zu § 18 IV Nr. 1 AsylG habe der Kläger nichts dargelegt. Ich dachte, im Verwaltungsprozess gilt der Amtsermittlungsgrundsatz?

  8. Friedhofsblonder Rheinländer Do 14 Jun 2018 at 12:50 - Reply

    Asyl oder Einwanderung?
    Von 2015-2018 sind niedrig geschätzt 5,5 Millionen Menschen in Deutschland eingewandert.
    1,5 Millionen haben bis heute Asyl beantragt.
    Ergo sind 4 Millionen eingewandert ohne Fluchtgrund, aber über das Zauberwort „Asyl“! Ich glaube nicht das 4 Millionen Menschen mit einem Arbeitsvisum kamen.
    Was tun diese Menschen in Deutschland, wie ernähren sie sich, wo leben sie?
    Diese Frage hab ich heute an Alle Bundestagsparteien gestellt.
    Ich bin gespannt auf die Antworten.

    • Antwortender Fr 15 Jun 2018 at 00:54 - Reply

      Haben Sie schon mal von EU-Bürgern gehört? Die genießen Freizügigkeit in der EU. Und das sind die Millionen, von denen Sie sprechen. Aus Spanien, Polen, etc.

  9. Struppi Do 14 Jun 2018 at 13:04 - Reply

    Hm, Dobrinth sagt in dem Interview, dass es um Flüchtlinge geht, die „bereits in einem anderen EU-Land als Asylbewerber registriert worden ist, muss dort das Verfahren durchlaufen“ – also nichts von genereller Abweisung. Und ob es in dem anderem EU-Land Verfahrensmängel gibt muss auch erst festgestellt werden.

    Daher verstehe ich nicht ganz die Intention des Artikels zumal er von einer falschen Grundauffasung ausgeht.

    „Diese chronologisch erste Prüfung der Zuständigkeit möchten die „Flüchtlinge an der Grenze abweisen“-Vorschlager vermeiden.“

    Das stimmt doch einfach nicht, zumindest seitens der CSU wird gesagt, dass eine Zurückweisung erfolgen soll, wenn es ein Verfahren in einem anderen Land gibt.

    Ich bin kein Anhänger von denen, aber wenn in sozialen Medien solche Artikel hochgespült werden (ich bin über rivva hier gekommen) dann wird der Eindruck erweckt, dass mit falschen Karten gespielt werden soll.

    • Law as Integrity Do 14 Jun 2018 at 13:27 - Reply

      @Struppi: Der Punkt ist, dass – auch wenn eine Person schon anderswo registriert wurde und/oder die Person anderswo schon Asyl beantragt hat, dennoch erst geprüft werden muss, ob die Bundesrepublik nicht doch zuständig ist (nach Art. 8-12 Dublin-Verordnung) oder Gründe vorliegen, die einer Zurückführung in das andere EU-Land entgegenstehen (z.B. menschenrechtswidrige Behandlung in Griechenland, Ungarn, etc.). M.a.W.: Auch, wenn es schon ein „Verfahren“ in einem anderen Land gibt, können/dürfen wir nicht immer auch dorthin zurückführen. Und das zu prüfen geht halt nicht innerhalb von Minuten an der Grenze, wie Dobrindt und andere fälschlich suggerieren.

      • Leserj.beyersdorff@gmail.com Do 14 Jun 2018 at 13:41 - Reply

        Wieso denn nicht? Man könnte ja schlichtweg fragen, ob denn ein solcher Grund geltend gemacht wird. Artikel 9 und 10 stellen zudem ein Formerfordernis auf, d. h. einen schriftlichen Antrag. Ohne einen solchen Antrag in der Hand sind Art. 9, 10 damit schon abgehakt.

  10. Pierre Do 14 Jun 2018 at 13:16 - Reply

    Der Wissenschaftliche Dienst des Bundetags hat im September 2017 ein Gutachten veröffentlicht, in dem diese Zusammenhänge klar herausgearbeitet werden. Hier der Link zum PDF: https://www.bundestag.de/blob/514854/0bdb98e0e61680672e965faad3498e93/wd-3-109-17-pdf-data.pdf

    • Law as Integrity Do 14 Jun 2018 at 13:33 - Reply

      Genau. Da heißt es nämlich (S.4):
      „Die Pflicht zur Einreiseverweigerung gilt allerdings nicht ausnahmslos. Vielmehr sieht § 18 Abs.4 AsylG zwei Ausnahmen vor, und zwar für den Fall einer unions- oder völkerrechtlich begründeten Zuständigkeit der Bundesrepublik Deutschland für die Durchführung von Asylverfahren gemäß §18 Abs. 4 Nr.1 AsylG – einschlägig sind insoweit die sog. Dublin-Zuständigkeiten nach der Dublin-III-Verordnung, VO [EU] Nr. 604/2013 – sowie das Vorliegen einer entsprechenden Anordnung des Bundesministeriums des Innern aus völkerrechtlichen, humanitären oder politischen Gründen nach § 18 Abs. 4 Nr. 2 AsylG.“
      Die Zusammenhänge sind insofern klar, aber dennoch kompliziert…;-)

      • Wieder Fr 15 Jun 2018 at 15:22 - Reply

        Na und- ist die „Anordnung“ erfolgt?
        Die naturgemäß AUSNAHMEN und EINZELFÄLLE betrifft? Oder ist Ihnen das egal.

        Dabei wissen Sie es doch- der Innenminister hat mündlich die Grenzöffnung noch nicht einmal „verfügt“, weil ihm der Gesetzesbruch bekannt war.
        Er bezeichnete den Kontakt mit der Bundespolizei als Nullum. Das muss man sich mal vorstellen.

  11. s-witt Do 14 Jun 2018 at 13:51 - Reply

    Das ist ja fast noch abenteuerlicher, und zwar fachlich abenteuerlicher, als dieser Unsinn von Bundesrichter Fischer (der nicht umsonst vor kurzem noch ein Star war), nach dem wir hier eine Garantenpflicht für Bootsfahrer auf dem Mittelmeer haben sollten (freilich nur für jene, die es zu einem bestimmten Zweck überqueren wollen – befürchtete erst, ich würde auch für alle andren Schiffsunglücke im Mittelmeer herangezogen werden können, und wo ja nun schon ferne Länder von der BuKa als Nachbarländer klassifiziert wurden…
    Aber was weiß ich schon, denn das HRR und seine Nachfolger langten zwar noch bis 1918, und zwar über 1100 Jahre an die Adria, aber das sind ja heutzutage schon vielen unangenehme Fakten.).
    Viele Kollegen haben dem Fischer damals in 3 Sätzen erklären können, in den Leserkommentaren, warum das an den Haaren herbeigezogner Unsinn ist.
    Hier nun liegt schon fast eine klassische Sacherverhalts-Quetsche vor, denn da schauen Sie doch bitte ehrlicherweise in die entsprechenden Gutachten der ehemaligen Verfassungsrichter und das des wissenschaftlichen Dienstes des BT. Demnach ist es keineswegs so klar, wie sie es sich gern vormachen wollen. Das wäre an sich auch nicht problematisch, aber wenn sie das hier so bringen, dann kommen Leute, denen ihre ideologischen Vorstellungen wichtiger sind als das Recht, wie dieser von Notz, auf dumme Ideen. Der hat zwar auch das Recht studiert, aber wohin das führen kann, wird einem ja immer wieder vor Augen geführt.
    Tut mir leid, aber das sind keine 4 Punkte.

    • Law as Integrity Do 14 Jun 2018 at 15:32 - Reply

      Ich vermute mal zu Ihren Gunsten, dass Ihre Formulierung „Garantenpflicht für Bootsfahrer auf dem Mittelmeer“ ungewollt zynisch ausgefallen ist. Das bringt mich aber auf einen wichtigen Punkt jenseits der rechtlichen und politischen Bewertungen: Wenn wir über (potenziell ertrinkende) Menschen im Mittelmeer diskutieren, dann sollte es m.E. im öffentlichen Diskurs (auch) um Anstand, Würde und Respekt gehen. Das vermisse ich doch sehr bei manchen Politikern der vermeintlich christlichen Parteien (und bei den Rechtspopulisten aller Couleur selbstredend ebenso). Natürlich kann und darf man in der Sache unterschiedlicher Meinung sein – muss man dafür aber die Würde jener Menschen verletzen, um die es geht?

      • Wieder Fr 15 Jun 2018 at 15:18 - Reply

        Ah, endlich- Moral über Recht. Danke für die Offenheit.
        Interessanterweise haben die Migrations-Befürworter keine Migranten persönlich eingeladen oder persönlich finanziell verzichtet.
        Im Gegenteil- Merkel und Co. zwingen die Steuerzahler weiterhin, für ihren eigenen üppigen Konsum zu zahlen, anstatt zugunsten der Migranten zu verzichten.
        Das Gewährleistungs-und Einladungsverfahren- vermeiden die guten Menschen- weil sie selbst nicht zahlen wollen. Wirklich höhere Moral oder eher Menschenverachtung?

        Zusätzlich zum offensichtlichen Rechtsbruch und damit Gefährdung der Gemeinschaft drängt sich hier der Eindruck moralischer Abgründe auf.

  12. H. R. Do 14 Jun 2018 at 15:27 - Reply

    Sehr geehrte Frau Schmalz, dieser Artikel ist fachlich sicher sehr gelungen und ich denke, dass er den Beitrag von Herrn Thym von vor ein paar Wochen sehr gut ergänzt. Noch viel aufschlussreicher finde ich allerdings ihren, leider auf dem Verfassungblog noch ncht veröffnetlichten, Artikel zur normativen Dimension des Flüchtlings. Ich nehme mir jetzt mal heraus, diesen hier „schwarz“ zu veröffentlichen! http://metaphora.univie.ac.at/3-Edited_Volumes/31-Volume_3/36-DER_FLU__CHTLING_ALS_NORMATIVE_IDEE

  13. Peter Camenzind Do 14 Jun 2018 at 16:24 - Reply

    Kann nicht eine Zuständigkeitsprüfung nach der Dublin-Verordnung grundsätzlich da zu erfolgen haben, wo zuerst sicheres Dublin-Gebiet erreicht ist? Sonst kann „forum shopping“ begünstigt sein.
    EMR können EU-Recht sein. Dies kann mit Dublin-Regeln kollidieren. Dublin Regeln können dabei u.U. zulässig beschränk