26 June 2018

„Die Republik tritt die Grundrechte mit Füßen“: Zurückweisungen an der französisch-italienischen Binnengrenze

Im Streit zwischen der Kanzlerin und ihrem Minister ist von Europa viel die Rede, doch aus der Situation an anderen Binnengrenzen werden kaum Schlüsse gezogen. Dabei werden z.B. an den Grenzübergängen von Italien nach Frankreich seit Jahren Drittstaatsangehörige ohne Visum zurückgewiesen. Dort geht es jedoch nicht mit rechten Dingen zu. Das kritisiert die französische Menschenrechtskommission in einer Stellungnahme vom 19. Juni.

Frankreich hat 2015 Kontrollen an den Binnengrenzen wiedereingeführt. Konsequenz ist nach Einschätzung der Menschenrechtskommission nicht nur die Verletzung der Rechte Schutzsuchender, sondern aller Drittstaatsangehörigen, die nicht in Besitz eines Aufenthaltstitels sind.

Zurückweisungen im Lichte der Dublin-III-Verordnung

Es wurde auf diesem Blog  (hier, hier und hier) und andernorts schon ausführlich dargelegt, dass das europäische Flüchtlingsrecht auch an der Binnengrenze Geltung entfaltet. Auch die französische Menschenrechtskommission weist darauf hin, dass ein Asylantrag an der Binnengrenze nur dann als unzulässig abgelehnt werden kann, wenn die zuständige Behörde die Zuständigkeit eines anderen Mitgliedstaats feststellt, wobei das Kriterium der Familieneinheit Vorrang vor dem Kriterium des Ersteinreisestaats hat. Infolge einer Ablehnung sind die Wiederaufnahme- und Überstellungsvorschriften der Dublin-III-Verordnung zu beachten. Der Betroffene muss zudem effektiven Rechtsschutz in Anspruch nehmen können. Daran würde auch eine zwischenstaatliche Verwaltungsvereinbarung i.S.v. Art. 36 der Verordnung nichts ändern. Zurückweisungen von Schutzsuchenden an den Binnengrenzen sind mithin allenfalls nach Durchführung eines aufwendigen und langwierigen Verfahrens rechtmäßig.

Allerdings ergibt sich aus der Stellungnahme der Menschenrechtskommission, dass nach Auskunft der französischen Grenzpolizei an der französisch-italienischen Grenze bislang kein einziger (!) Asylantrag gestellt wurde. Das deutet nach Einschätzung der Menschenrechtskommission darauf hin, dass Drittstaatsangehörige an der Grenze entgegen der Vorgaben der Verfahrensrichtlinie nicht hinreichend über ihr Recht, in Frankreich Asyl zu beantragen, aufgeklärt werden. Doch auch die Zurückweisung von Drittstaatsangehörigen, die nicht Asyl beantragen, unterliegt rechtlichen Vorgaben, die nach Einschätzung der Menschenrechtskommission nicht respektiert werden.

Zurückweisungen als Verletzung der Rechte aller Migrant*innen

Die Zurückweisung von Drittstaatsangehörigen, die nicht in Besitz eines Aufenthaltstitels sind, ermöglicht zwischen Frankreich und Italien das Rückübernahmeübereinkommen vom 3. Oktober 1997, das jedoch ausdrücklich nicht auf Schutzsuchende im Anwendungsbereich des Dubliner Übereinkommens – heute von der Dublin-III-Verordnung überlagert – anwendbar ist.

Die Zurückweisungsentscheidung setzt in jedem Fall die Anhörung des Betroffenen voraus. Sie muss schriftlich begründet und mit einer für den Betroffenen verständlichen Rechtsbehelfsbelehrung versehen werden. Zwar kommt dem Rechtsbehelf keine aufschiebende Wirkung zu, der Betroffene kann aber der Vollziehung der Zurückweisung bis zum Ablauf des auf die Entscheidung folgenden Tages widersprechen. Die EMRK kann einer Zurückweisung entgegenstehen, etwa weil dem Betroffenen in Italien eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung droht. Da es sich bei der EMRK nicht um ein flüchtlingsrechtliches Abkommen handelt, gilt dies nicht nur für Schutzsuchende, sondern allgemein. Tatsächlich – so die Menschenrechtskommission unter Verweis auf mehrere Entscheidungen des Verwaltungsgerichts Nizza (hier und hier) – werden diese Vorgaben jedoch oftmals nicht eingehalten.

Während des Zurückweisungsverfahrens werden die Betroffenen regelmäßig in Gewahrsam genommen. Dies erfolgt stets auf französischem Staatsgebiet, da Frankreich über die Zurückweisung befindet. Neben den menschenunwürdigen Gewahrsamsbedingungen kritisiert die Menschenrechtskommission, dass die Ingewahrsamnahme teilweise außerhalb jeglichen rechtlichen Rahmens erfolge. Nach französischem Recht muss eine Gewahrsamseinrichtung als solche bestimmt werden. In Betracht kommen Polizeiwachen oder spezifische Gewahrsamseinrichtungen für irreguläre Migrant*innen, die  sog. „Wartezonen“ (man beachte die begriffliche Nähe zu den Transitzonen, die die CSU in der letzten Wahlperiode vergeblich gefordert hatte). An der Grenze zu Italien werden jedoch teilweise Räumlichkeiten genutzt, die weder das eine noch das andere sind, z.b. die ehemalige Dienstwohnung des Bahnhofsvorstehers im Bahnhof Menton-Garavan. Die Grenzpolizei rechtfertigt dies damit, dass die Betroffenen jederzeit nach Italien ausreisen dürften und deshalb kein Gewahrsam vorliege. Schon in tatsächlicher Hinsicht ist dies abwegig, da die Türen der Wohnung verriegelt und die Fenster vergittert sind. In rechtlicher Hinsicht hat der EGMR schon am 25. Juni 1996 entschieden, dass das Festhalten im Transitbereich eines Flughafens auch dann als Freiheitsentziehung zu werten ist, wenn den Betroffenen die Ausreise aus dem Staatsgebiet gestattet ist. An der Landgrenze kann nichts anderes gelten.

Die Auswirkungen der Grenzkontrollen auf vulnerable Personen

Von den Rechtsverletzungen an der Grenze sind vulnerable Personen in besonderer Weise betroffen, obwohl der Staat ihnen gegenüber zu besonderem Schutz verpflichtet ist.

Zum einen muss das Wohl von Minderjährigen bei allen staatlichen Maßnahmen vorrangig berücksichtigt werden. Auch an der Grenze müssen kinder- und jugendgerechte Aufnahmebedingungen und spezifische Verfahrensrechte gewährleistet werden. Die Menschenrechtskommission stellt jedoch fest, dass die Grenzpolizei Zurückweisungsentscheidungen trifft, ohne dass ein Verfahrensbeistand bestellt wird. Dabei ersetze sie teilweise Angaben der Minderjährigen zum Grenzübertritt eigenmächtig durch eigene Angaben und übergebe Bescheide unmittelbar an die italienische Grenzpolizei, sodass den Betroffenen effektiver Rechtsschutz verwehrt werde. Die Situation von Minderjährigen in Italien werde nicht oder nicht hinreichend gewürdigt.

Zum anderen werden auch die Rechte von Betroffenen von Menschenhandel an der Grenze nicht hinreichend gewährleistet. Die Menschenrechtskommission hebt hervor, dass das Verfahren zur Identifizierung dieser Personen, das nach der Menschenhandelsrichtlinie eine Zusammenarbeit zwischen verschiedenen staatlichen und nichtstaatlichen Stellen voraussetzt, an der Grenze nicht konsequent durchgeführt wird. Die Grenzpolizei sei nicht hinreichend zu diesem Zwecke ausgebildet.

Lehren für Deutschland

Die Stellungnahme der französischen Menschenrechtskommission belegt, dass die Zurückweisung von Drittstaatsangehörigen, die ohne Aufenthaltstitel eine Binnengrenze überqueren wollen, nicht nur im Falle von Schutzsuchenden mit umfangreichen rechtlichen Verpflichtungen einhergeht, sondern auch in allen anderen Fällen erheblichen Aufwand erfordert.

Aufgrund unionsrechtlicher Vorgaben und verwaltungsverfahrensrechtlicher Prinzipien, die auch in Deutschland Geltung finden, müssen vor einer Zurückweisung alle Betroffenen über ihre Rechte, einschließlich des Rechts, einen Asylantrag zu stellen, aufgeklärt werden. Auch wenn kein Asylantrag gestellt wird, unterliegt die Zurückweisung den allgemeinen verwaltungsrechtlichen Verfahrens- und Formvorschriften; gegen die Zurückweisung muss effektiver Rechtsschutz gewährleistet sein. Während des Verfahrens kommt eine Ingewahrsamnahme nur in Betracht, wenn die formellen und materiellen Voraussetzungen für eine Freiheitsentziehung erfüllt sind. Bei alledem müssen vulnerable Personen unter Mitwirkung weiterer staatlicher und nichtstaatlicher Stellen identifiziert und entsprechend ihrer besonderen Rechtspositionen behandelt werden.

Wenn die französische Menschenrechtskommission feststellt, dass Frankreich an der Binnengrenze zu Italien die Grundrechte mit Füßen tritt, ist das nicht bloß die unverbindliche Äußerung eines Gremiums ohne Einfluss und Relevanz. Im Zusammenhang mit der Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems hatte die Menschenrechtskommission scharfe Kritik an dem Konzept der sicheren Drittstaaten geäußert. Ein paar Monate später befand der Conseil d‘État, dass dieses Konzept mit der französischen Verfassung nicht in Einklang zu bringen sei und daher in Frankreich nicht angewandt werden dürfe. Das sollte in Deutschland dem Minister zu denken geben.

In einer früheren Version dieses Artikels wurde die Stellungnahme der Menschenrechtskommission fälschlich auf den 19. Juli datiert. Wir bitten den Fehler zu entschuldigen.


SUGGESTED CITATION  Tometten, Christoph: „Die Republik tritt die Grundrechte mit Füßen“: Zurückweisungen an der französisch-italienischen Binnengrenze, VerfBlog, 2018/6/26, https://verfassungsblog.de/die-republik-tritt-die-grundrechte-mit-fuessen-zurueckweisungen-an-der-franzoesisch-italienischen-binnengrenze/, DOI: 10.17176/20180626-081211-0.

7 Comments

  1. Heinrich Niklaus Tue 26 Jun 2018 at 15:26 - Reply

    Die Versuche, mit fragwürdigen Konstruktionen des Europarechts, in diesem Fall Dublin und Schengen, Einfluss auf die innere Sicherheit der europäischen Nationalstaaten zu nehmen, bleiben weiterhin wenig überzeugend.

    Sie müssen wenig überzeugend bleiben, weil ihrer Zielsetzung vorrangig darin besteht, die illegale Einwanderung mit Hilfe des Asylrechts zu forcieren.

    Professor Kay Hailbronner, vom Forschungszentrum Ausländer- und Asylrecht der Universität Konstanz räumt in einem Essay in der WELT(26.06.18, Seite 2) mit Mär auf, Zurückweisungen an den Binnengrenzen seien nicht möglich. Er sagt:

    „Es sprechen also gute Gründe dafür, dass weder die Dublin-Ordnung noch das Schengenrecht den Mitgliedstaaten grundsätzlich die Einreiseverweigerung von irregulär weiterwandernden Asylsuchenden verbieten.“

    Weiter sagt Prof. Hailbronner: „Das Dublin-System hat versagt. Deshalb kann niemand die Einhaltung der für den Normalfall geltenden Regeln verlangen. Eine illegale Weiterwanderung über innereuropäische Grenzen hinweg muss verhindert werden.“

    • schorsch Wed 27 Jun 2018 at 13:40 - Reply

      Ich kann den Artikel ohne Abo leider nicht lesen, aber vielleicht haben Sie auch ein Argument, einen dieser “guten Gründe”? “Keiner kann die Einhaltung der Regeln verlangen” ist kein rechtliches Argument, sondern im Gegenteil ein offensiver Abschied von der Rechtsbindung der Exekutive (Art. 20 Abs. 3 GG). Man könnte ein solches Szenario als “Herrschaft des Unrechts” bezeichnen.

      Man muss sich auch Fragen, was der “Normalfall” ist, auf den die Rechtsbindung des Exekutive da beschränkt werden soll (again: ich kenne nur Ihr Zitat). Dass der Herbst/Winter 2015 nicht der Normalfall war: geschenkt. Aber davon sind wir ja weit entfernt.

      • Tullius Wed 27 Jun 2018 at 17:10