02 May 2022

Die Stadt, der Müll und der VGH Mannheim

Vom vorläufigen Ende der Tübinger kommunalen Verpackungssteuer

Die stolze Universitätsstadt Tübingen und das berühmte gallische Dorf haben viel gemeinsam: Zwar durchzieht Tübingen kein großer Graben, sondern der Neckar, aber in der Mentalität ihrer Bewohner und ihrer politischen Führung sind Parallelen unverkennbar. Als in ganz Deutschland Corona- und Takeaway-halber der Pegel der Verpackungsmüll-Flut unerbittlich stieg, hatte Tübingen eine kommunale Steuer auf Einwegverpackungen eingeführt und sich damit zum Vorreiter der Abfallvermeidung zu machen versucht. Eine Steuer auf Einweggetränkebehälter und Einwegbestecksets wird seit Anfang 2022 in Tübingen erhoben, wobei pro Einzelmahlzeit maximal 1,50 EUR geschuldet werden. Die Steuer müssen die Verkaufsstellen abführen, die in den Einwegverpackungen Speisen und Getränke für den sofortigen Verzehr (vor Ort) oder zum Mitnehmen ausgeben.

Geht das rechtlich? Die Frage wurde im Prozess der Satzungsgebung zwar kontrovers erörtert, die Aussicht auf eine positive Antwort schien aber – rechtsgutachterlich begleitet – nicht schlecht zu sein. Zwar hatte das Bundesverfassungsgericht schon Ende der 1990er Jahre kommunalen Verpackungssteuern, konkret der Stadt Kassel, eine verfassungsrechtliche Absage erteilt (BVerfGE 98, 106), unter Hinweis auf die Zielsetzungen des föderalen Abfallrechts und des interföderalen Kooperationsgebots unter dem Signum der Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung. Aber diese Rechtsprechung erschien angesichts der unionsrechtlich getriebenen Dynamik des Abfallrechts überholt.

Die Betreiberin eines Fast-Food-Restaurants einer bekannten amerikanischen Franchisekette hat gegen die Satzung einen Normenkontrollantrag beim Verwaltungsgerichtshof Mannheim gestellt. Ende März hat das Gericht entschieden und dem Tübinger Pilotprojekt die vermeintlich unveränderten verfassungsrechtlichen Grenzen aufgezeigt und die Verpackungssteuersatzung der Stadt für unwirksam erklärt (VGH Mannheim, Urt. v. 29.03.2022, 2 S 3814/20).

Drei Argumente

In der Entscheidung des Senats sind drei Argumente besonders interessant:

1. Nach Ansicht des Senats ist die Stadt Tübingen zur Einführung der Verpackungssteuer schon gar nicht kompetent, da es sich nicht um eine örtliche Steuer handle (Rdn. 96 ff.). Die Steuer sei nicht auf Verpackungen für Speisen und Getränke zum Verzehr an Ort und Stelle begrenzt, sondern erfasse auch den Verkauf der Produkte zum Mitnehmen. Damit sei normativ der örtliche Bezug der Steuer nicht ausreichend sichergestellt, und es sei nicht gewährleistet, dass der belastete Konsum und damit der Verbrauch der Verpackung vor Ort im Gemeindegebiet stattfänden. Bei Produkten zum Mitnehmen sei im Hinblick auf ihre Transportfähigkeit – auch über größere Strecken – ein Verbleiben im Gemeindegebiet nicht gewährleistet (Rdn. 108 ff.). Jenen Ortsbezug setze aber die Gesetzgebungskompetenz für örtliche Verbrauchs- und Aufwandsteuern nach Art. 105 Abs. 2 a GG voraus. Anderenfalls würde man das „Tor zur Einführung aller möglichen Verbrauchsteuern durch die Gemeinden“ (Rdn. 114) öffnen. Verbrauchsteuern seien aber „Produktionskosten der Wirtschaft, die in einem einheitlichen Wirtschaftsgebiet eine einheitliche Steuergesetzgebung notwendig machen“ (Rdn. 114).

2. Die Antwort auf die zentrale Frage, ob sich in der Tektonik des europäisierten Abfallrechts in den letzten Jahrzehnten Spalten aufgetan haben, die der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung zur kommunalen Verpackungssteuer den Boden entzogen hätten und neue Gestaltungsspielräume der Gemeinden geöffnet haben, macht den kompetenzrechtlichen Schwerpunkt in der Interpretation des materiellen Abfallrechts der Entscheidung aus. Die Verpackungssteuer steht nach Auffassung des Senats in ihrer Ausgestaltung als Lenkungssteuer in Widerspruch zum aktuellen Abfallrecht des Bundes (Rdn. 130 ff.). Der Bundesgesetzgeber habe detailliert geregelt, mit welchen rechtlichen Instrumenten und in welchem Umfang die Ziele der Abfallvermeidung und Abfallverwertung verwirklicht werden sollten. Danach handele es sich beim Verpackungsgesetz um ein geschlossenes System, das Zusatzregelungen durch den kommunalen Gesetzgeber ausschließe (Rdn. 137 ff.).

Auch der Vorrang der Abfallvermeidung und die in § 33 KrWG niedergelegten Abfallvermeidungsprogramme von Bund und Ländern begründeten für die Kommunen nicht die Zuständigkeit, die abfallwirtschaftliche Zielsetzung der Abfallvermeidung eigenständig „voranzutreiben“ (Rdn. 148). Auch wenn das Ziel, das Verpackungsaufkommen zu senken, auf Grundlage der bisherigen Regelungen im Verpackungsgesetz nicht (ausreichend) erreicht worden sein sollte, sei es Sache des Bundesgesetzgebers, diese fortzuentwickeln. Wenn er das nicht tut, dann berechtigte dies die Kommunen nicht dazu, dessen Entscheidungen in eigener Zuständigkeit zu „verbessern“. (Rdn. 148). Überdies habe der Bundesgesetzgeber den Kommunen hierfür ausdrücklich nur in begrenztem Umfang eine Sachkompetenz im Rahmen ihrer öffentlichen Einrichtungen und der Erteilung von Sondernutzungserlaubnissen eingeräumt, aber gerade keine erweiterte Kompetenz auf dem Gebiet der Steuergesetzgebung (Rdn. 168).

3. Der Senat misst schließlich auch den Steuertatbestand am basalen materiellen steuerrechtlichen Grundsatz der Abgaben- und Belastungsgleichheit in Kombination mit der Figur des (strukturellen) Vollzugsdefizits (Rdn. 174 ff.). So sei auch der Begriff der „Einzelmahlzeit“, für die eine Obergrenze der Besteuerung von 1,50 EUR gelte, nicht ausreichend vollzugsfähig und verstoße damit gegen den Grundsatz der Belastungsgleichheit in Art. 3 Abs. 1 GG. Diese Satzungsbestimmung sei auf Ineffizienz angelegt, da der steuerpflichtige Endverkäufer zur Bestimmung der Obergrenze der Besteuerung allein auf die freiwilligen Angaben des Konsumenten abstellen könne (Rdn. 178). Bei größeren Sammelbestellungen spreche bei lebensnaher Betrachtung alles für ein Vollzugsdefizit, weil die Konsumenten kaum die Wahrheit sagen werden. Die weiteren, im Verfahren strittigen Fragen – nach der erdrosselnden Steuerwirkung als Eingriff in die Berufsfreiheit, nach dem möglichen Verstoß gegen die Einwegkunststoffrichtlinie – hält der Senat schließlich wegen der Unwirksamkeit der Verpackungssteuersatzung nicht mehr für entscheidungsbedürftig (Rdn. 179).

Freie Dezision

Das Urteil des VGH Mannheim lädt in allen drei Fragenkreisen zu kritischen Nachfragen ein. Es ist überdies ein gutes Beispiel für die mehr oder weniger freie richterliche Dezision, zu welchen Rechtsverstößen sich eine Entscheidung im Normenkontrollverfahren verhält, wenn andere Verstöße das Verdikt der Rechtsunwirksamkeit schon für sich genommen tragen. Die Entscheidung hätte, nachdem mit der Örtlichkeit der Verbrauchsteuer die Kompetenz abhandengekommen war, auch enden können. Der Senat wollte aber augenscheinlich dringend etwas zur Vereinbarkeit kommunaler Abfalllenkungsbesteuerung zum bundesrechtlichen Abfallrecht sagen. Warum er dann aber zur Erdrosselungssteuer und zum Richtlinienverstoß schweigt, bleibt sein Geheimnis. Geheimnisvoll ist auch, warum der Senat die Sammlung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nur selektiv zu kennen scheint und munter mit Zitaten aus der juris-Datenbank zitiert. Gerichtliche Entscheidungen sind keine wissenschaftlichen Arbeiten und mögen anderen handwerklichen Qualitätsmaßstäben folgen.

Der Schwerpunkt der Entscheidung liegt klar darauf, die kompetenziellen Grenzen kommunaler Verpackungssteuern zu entfalten. Die abseits dieser für den Steuertatbestand erhebliche Frage der Belastungsgleichheit und des Vollzugsdefizits der „Einzelmahlzeit“ dürfte ihrerseits zwar dem Gourmand im Verbrauchsteuerrecht nähere Konturen verleihen, dessen Einzelmahlzeit für andere Völlerei bedeutete. Auch mag die Verwiesenheit auf Angaben des Steuerträgers gegenüber dem Steuerentrichtungspflichtigen im Steuervollzug zu einer  genaueren Analyse des Verifikationsprinzips einladen. Sie ist aber über den Tübinger Fall hinaus für kommunale Verbrauchsteuern kaum von grundsätzlicher Bedeutung. Anders die Kompetenzfragen. Die Kombination, den Typus der örtlichen Verbrauchsteuer restriktiv zu interpretieren und auf Widerspruchsfreiheit der Lenkungsabgaben im interföderalen Kooperationsverhältnis mit dem (Bundes-)Sachgesetzgeber zu bestehen, lässt im Ergebnis von den kommunalen Spielräumen zur Steuerfindung nur noch kärgliche Reste übrig.

Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung

Das Urteil ist ersichtlich bemüht, den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts zur Bändigung von Lenkungsabgaben zu folgen, die nicht nur steuersystematisch Misstrauen auslösen. Die hier anzulegenden Kriterien der Widerspruchfreiheit zum bundesrechtlichen System des Abfallrechts zeigen die Komplexität übergreifender, ja die Leitprinzipien ganzer Rechtsgebiete ausdifferenzierender Norminterpretation. Die oft bemühte Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung ist in der Rechtsanwendung eine leicht überforderte Kategorie. Ob der VGH Mannheim eine zeitgemäße Interpretation des Abfallrechts geliefert hat, werden Bundesverwaltungs- und ggf. Bundesverfassungsgericht hoffentlich klarstellen (können). Die Annahme abschließender bundesrechtlicher Regelungen, die weitergehende Lenkungsimpulse der kommunalen Steuergesetzgeber sperren, erschöpft sich jedenfalls in der Logik der Jahrzehnte alten Entscheidung zur Kasseler Verpackungssteuer. Ob deren Prämissen in Zeiten intergenerativen Grundrechtsschutzes (BVerfGE 157, 30) noch tragfähig sind, hat das Urteil nicht ausgelotet. Viel spricht aber dafür, auch die kommunale Fürsorge gegenüber natürlichen Lebensgrundlagen zu stärken.

Fallstricke der Steuertypen

Dass der Umgang mit in die Jahre gekommenen Präjudizien seine Tücken hat, offenbart die Entscheidung vor allem aber bei der Frage der örtlichen Aufwand- und Verbrauchsteuer i. S. d. Art. 105 Abs. 2a GG. Das Kriterium der Örtlichkeit, also die tatbestandliche Anknüpfung an örtliche Begebenheiten, wird üblicherweise zur Abgrenzung der Steuerarten gerade bei Verbrauchsteuern auch auf die Steuerwirkungen bezogen und insoweit gefordert, dass der belastete Konsum vor Ort stattfindet. Das Urteil nimmt hier erneut Anleihen bei der Judikatur des BVerfG zur kommunalen Verpackungssteuer und der schon von dieser bemühten Entscheidung zur Speiseeisbesteuerung in Hessen aus dem Jahr 1963 (BVerfGE 16,306). Diese hatte den örtlichen Bezug der Verbrauchsteuer in der Begrenzung der unmittelbaren Steuerwirkungen auf das Gemeindegebiet eingefordert, um ein die Wirtschaftseinheit berührendes Steuergefälle zu vermeiden. Der VGH jedenfalls hält diese Grenzen jedenfalls bei der Besteuerung von „take-away“-Verpackungen, die leicht über die Gemeindegrenzen hinaus transportiert und deren Inhalte andernorts konsumiert werden können, für überschritten.

Typusbegriffe erlauben Typisierungen. Die Erfassung der Wirklichkeit ist im Urteil dabei ebenso vorverständnisgeprägt wie in ihrer Empirie freischwebend. Der massenhafte Konsum in Tübingen verpackten Fastfoods im regionalen Kontext ist aus Mannheimer Perspektive scheinbar naheliegend. Typisierungen knüpfen am Normalfall an und müssen realitätsgerecht sein. Das tragende Abstellen auf den Ort der Verwendung des besteuerten Wirtschaftsgutes überzeugt aber auch im Vergleich zu anderen kommunalen Aufwandsteuern schon im Ansatz nicht.  Ein Schelm könnte auf der Grundlage der Argumentation des Senats für die an typischerweise an den Wohnsitz anknüpfenden kommunalen Aufwandsteuern Ungemach im Anzug sehen. Pferde- und Hundehalter in Baden-Württemberg sollten sich dann hüten, ihre Vierbeiner jenseits des Gemeindegebiets auszuführen.  Es kommt in beiden Fällen nur darauf an, dass die sich im Aufwands- und Verbrauchsakt manifestierende Leistungsfähigkeit territorial radiziert ist und nicht darauf, wo der Besteuerungsgegenstand im Nachhinein genutzt oder konsumiert wird. Wer seine Hunde jenseits des Gemeindegebiets ausführt, kann die besteuerte Einwegverpackung für den Imbiss mitnehmen.

Die engen Spielräume, die der VGH in beim Steuertypus anlegt, könnten rechtstatsächlich mit Hinweis auf die seit den 1960er Jahren erfolgte Mobilisierung der Konsumenten in Frage gestellt werden. Die Konsumbedingungen haben sich seit dem Präjudiz des Bundesverfassungsgerichts zur Speiseeisbesteuerung schlicht verändert. Was heißt unter den Bedingungen der Konsumentenmobilität die für örtliche Verbrauchsteuern hiernach entscheidende Meidung eines Steuergefälles, wenn die Steuerträger der Verbrauchsteuer natürlich im Gemeindegebiet ansässig sind? Was ist der relevante Markt und wo liegen seine Grenzen? Verfassungssystematisch sind die zu engen Typisierungsspielräume aber vor allem ein Indiz dafür, wie unzureichend die kommunale Steuergesetzgebungskompetenz und der Typus der kommunalen Aufwand- und Verbrauchsteuern an die verfassungsrechtlichen Konturen der kommunalen Selbstverwaltung rückgebunden sind. Dort werden interkommunale Kooperation und überörtliche Wirkungen kommunaler Aufgabenfindung und -erledigung hingenommen, hier nicht. Dies ist jedenfalls steuerverfassungsrechtlich nicht adäquat dogmatisch erfasst und verarbeitet. Das kann man dem VGH indes kaum vorwerfen, gibt aber Anlass, die Steuerkompetenzlehre mit der Reichweite auch der kommunalen Selbstverwaltungsgarantie konsequent abzugleichen.

Der VGH hat die Revision zugelassen. Der Gemeinderat der Stadt Tübingen hat am 28. April mit 25 zu 11 Stimmen beschlossen, in Revision zu gehen, und so besteht die Hoffnung, dass BVerwG und vielleicht auch BVerfG Gelegenheit haben werden, kommunalen Aufwand- und Verbrauchsteuern einen zeitgemäßen finanzverfassungsrechtlichen Rahmen zu geben. Und schließlich: Das kleine gallische Dorf kennzeichnet die überbordende Widerstandkraft seiner Bewohner. Die Diskussion um die Rolle der Einheit der Rechtsordnung bei steuerlichen Lenkungsabgaben ist mit dem Urteil des VGH Mannheim jedenfalls nicht abgeschlossen, sondern neu eröffnet. Das ist ein Wert an sich.


SUGGESTED CITATION  Droege, Michael: Die Stadt, der Müll und der VGH Mannheim: Vom vorläufigen Ende der Tübinger kommunalen Verpackungssteuer, VerfBlog, 2022/5/02, https://verfassungsblog.de/die-stadt-der-mull-und-der-vgh-mannheim/, DOI: 10.17176/20220502-182216-0.

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