07 February 2025

Drei Milliarden Euro als Verfassungsfrage

Zum jüngsten Streit um die Finanzierung der Ukraine-Unterstützung

In den letzten Wochen debattierte die deutsche Politik erneut über eine Erhöhung der Ukraine-UnterstützungIm Konkreten geht es um finanzielle Mittel in Höhe von drei Milliarden Euro. Alle relevanten politischen Akteur:innen haben sich dafür ausgesprochen, der Ukraine die Mittel schnellstmöglich zuzusagen. Streitpunkt bleibt aber – wie so oft in der jüngeren Vergangenheit der bundesrepublikanischen Politik – die finanzverfassungsrechtliche Umsetzung des Vorhabens. Die Verfügung über drei Milliarden Euro wird für die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt mit einem Haushaltsvolumen von knapp 500 Milliarden Euro zur Verfassungsfrage.

Umsetzung im Wege der Notfallkompetenz des Finanzministers aus Art. 112 GG

Außenministerin Baerbock und Verteidigungsminister Pistorius, unterstützt von Politiker:innen der Grünen und der FDP, halten eine Umsetzung im Wege der Notfallkompetenz des Bundesfinanzministers durch eine überplanmäßige bzw. außerplanmäßige Ausgabe für denkbar. Diese ist in Art. 112 GG und § 37 Bundeshaushaltsordnung (BHO) geregelt.

Eine solche Ausgabe kommt im Falle eines unvorhergesehenen und unabweisbaren Bedürfnisses in Betracht, sofern ein Haushaltstitel zu wenig finanzielle Mittel vorsieht (überplanmäßig) oder überhaupt kein relevanter Haushaltstitel (außerplanmäßig) vorliegt. Aufgrund des nicht beschlossenen Bundeshaushalts 2025 besteht derzeit ein sogenannter etatloser Zustand. Die Bundesregierung vollzieht eine vorläufige Haushaltsführung nach Art. 111 GG. Die Notfallkompetenz aus Art. 112 GG kann aber auch während eines etatlosen Zustands eingesetzt werden (BVerfGE 45, 1, 103).

Unvorhergesehen im Sinne des Art. 112 Satz 2 GG ist ein Bedürfnis, wenn es tatsächlich nicht bekannt war oder dessen gesteigerte Dringlichkeit nicht vorgesehen wurde (BVerfGE 45, 1, Leitsatz 5). Zwar ist der Beginn des Ukraine-Krieges schon knapp drei Jahre her. Die militärische Lage des Krieges und die politische Bewertung der notwendigen Unterstützung entwickeln sich allerdings stetig dynamisch fort, sodass dieses Merkmal vermutlich zu bejahen wäre.

Um unabweisbar im Sinne des Art. 112 Satz 2 GG zu sein, muss die Ausgabe so eilbedürftig sein, dass sie nicht durch einen Nachtragshaushalt eingebracht oder bis zum nächsten regulären Haushalt zurückgestellt werden kann, wie sich aus § 37 Abs. 1 Satz 3 BHO ergibt (im Anschluss an BVerfGE 45, 1, Leitsatz 6 reformiert). Verfassungsrechtlich überprüft wird dahingehend die bloße Vertretbarkeit (BVerfGE 45, 1 Leitsatz 6).

Auch diese Voraussetzung wäre in diesem Fall wohl erfüllt. Die sich schnell verändernde Dynamik des Krieges lässt es jedenfalls vertretbar erscheinen, nicht bis zur Haushaltsaufstellung nach der Bundestagswahl warten zu können. Ein Nachtragshaushalt, der im Verhältnis zur subsidiären Notkompetenz ebenfalls Vorrang besäße, kommt schon deswegen nicht in Betracht, weil im etatlosen Zustand bereits kein regulärer Haushalt existiert, an den ein Nachtragshaushalt anknüpfen könnte.

Die beiden Tatbestandsmerkmale zielen darauf ab, den Vorrang des Parlaments in der Ausübung des Budgetrechts sicherzustellen und die Kompetenz des Bundesfinanzministers aus Art. 112 GG auf Notfälle zu beschränken. Dies gilt umso mehr im etatlosen Zustand, der die Befugnisse der Bundesregierung in der vorläufigen Haushaltsführung durch Art. 111 GG auf drei Fallgruppen begrenzt. Der Begrenzung des exekutiven Haushaltsvollzugs im Verhältnis zur parlamentarischen Haushaltsaufstellung kam insbesondere in der Staatspraxis der frühen Bundesrepublik eine hohe Bedeutung zu. In dieser wurde die Aufstellung des Haushaltsplans durch den Bundestag regelmäßig erst im bereits laufenden Haushaltsjahr vorgenommen, weshalb die Spielräume des exekutiven Haushaltsvollzugs größer waren.

Finanzverfassungsrechtlich wäre es voraussichtlich zulässig, sich auf die Notfallkompetenz zu stützen. Realistisch ist dies derzeit jedoch nicht, da sich der amtierende Bundesfinanzminister Kukies bereits kritisch dazu geäußert hat. Letztlich ist es aber dieser, der der über- und außerplanmäßigen Ausgabe zustimmen muss.

Umsetzung durch Aktivierung der Notlagenklausel der Schuldenbremse

Neben dem Bundesfinanzminister steht auch der Bundeskanzler der Verwendung der Notfallkompetenz kritisch gegenüber. Stattdessen sei es notwendig, die Notlagenklausel der Schuldenbremse aus Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG zu aktivieren. Diese erlaubt dem Haushaltsgesetzgeber im Falle einer außergewöhnlichen Notsituation eine unbegrenzte Kreditaufnahme – zuletzt war dies beispielsweise in den Jahren 2020 und 2021 die Corona-Pandemie. Zur Aktivierung müsste der Bundestag mit Kanzlermehrheit einen Überschreitungsbeschluss fassen, was dazu führt, dass die normalerweise geltenden Obergrenzen zur Kreditaufnahme nicht gelten.

Die Feststellung einer Notlage noch vor der Bundestagswahl ist politisch allerdings unrealistisch. Mutmaßlich benutzt der Bundeskanzler das Argument, dass die Aktivierung der Notlagenklausel möglich und notwendig ist, da er zuvor Finanzminister Lindner mit Berufung auf knappe finanzielle Spielräume entlassen hat; die Notfallkompetenz des Finanzministers zu nutzen, würde diese politische Rhetorik zumindest bis zu einem gewissen Grad relativieren.

Ob unter den derzeitigen Gegebenheiten ein Überschreitungsbeschluss zulässig wäre, ist in der Rechtswissenschaft umstritten und ohne eine konkrete Begründung des Bundestages nur begrenzt zu beurteilen. Es käme nämlich nicht nur darauf an, ob der Ukraine-Krieg eine Notlage im Sinne des Art. 115 Abs. 2 Satz 6 darstellt. Maßgeblich wäre ebenso, inwiefern die aus dem Krieg resultierenden Finanzierungsbedürfnisse den Haushalt belasten. Der Krieg müsste die staatliche Finanzlage erheblich beeinträchtigen. Mit zunehmender Dauer des Krieges erhöht sich die Darlegungslast, inwiefern dieser die staatlichen Finanzen immer noch außergewöhnlich belastet.

Das BVerfG hat in seinem Urteil des BVerfG vom 15. November 2023 einen durchaus restriktiven Kurs vorgeben, weswegen vorsichtiges Vorgehen verständlich erscheint. Die Maßstäbe zur Notlagenklausel lassen sich allerdings auch großzügiger lesen, berücksichtigt man, dass einzelne Tatbestandsmerkmale in den Einschätzungsspielraum des Haushaltsgesetzgebers fallen. Beispielsweise verbleibt dem Haushaltsgesetzgeber ein Spielraum bei der Beurteilung, ob die staatliche Finanzlage erheblich beeinträchtigt ist. Ein etwaiger Beschluss zur Feststellung einer Notsituation würde sich voraussichtlich nicht nur auf die drei Milliarden Euro beziehen, sondern alle Maßnahmen enthalten, die im Haushaltsentwurf für die Ukraine-Unterstützung vorgesehen wurden. Ebenso scheiterte der Nachtragshaushalt von 2021 nicht am Notlagenbegriff oder an einer erheblichen Beeinträchtigung, sondern am Veranlassungszusammenhang zwischen Notlage und Überschreitung der Kreditobergrenzen – verfassungsrechtlich problematisch war vor allem die rückwirkende Umwidmung von Kreditermächtigungen. Letzteres wäre im Falle der nun avisierten Ukraine-Unterstützung nicht der Fall.

Die Notlagenklausel zu aktivieren, hätte haushaltspolitisch den Vorteil, dass die Einnahmenquelle der Ukraine-Unterstützung unmittelbar mit der politischen Entscheidung zur Ausgabe festgelegt wäre. Wird die Notlagenklausel benutzt, müssen die daraus möglichen Kreditermächtigungen für die Unterstützung der Ukraine verwendet werden. Demgegenüber stehen die finanzverfassungsrechtlichen Risiken, die Notlagenklausel zu verwenden, die sich durch die restriktive Auslegung des BVerfG gesteigert haben.

Die haushaltspolitische Vertagung des Streits

Im Gegensatz dazu enthielte die Verwendung der Notfallkompetenz keine Entscheidung darüber, wie die Ukraine-Unterstützung finanziert würde. Sie würde den Finanzierungsstreit schlicht in die Zukunft nach der Bundestagswahl vertagen. Zwar sieht die Vorschrift des § 37 Abs. 3 BHO vor, dass Überschreitungen durch Einsparungen bei anderen Ausgaben in demselben Einzelplan ausgeglichen werden sollen. Vorgesehen ist eine Verortung in Einzelplan 60. Dies bezieht sich allerdings auf den bisher vom Parlament nicht beschlossenen Regierungsentwurf zum Bundeshaushalt 2025.

Verantwortlich dafür, die Finanzierung endgültig zu bestimmen, wäre also der zukünftige Haushaltsgesetzgeber. Dieser müsste in den Verhandlungen um den Bundeshaushalt 2025 nach der Bundestagswahl die zusätzlichen drei Milliarden in der regulären Haushaltsaufstellung einplanen; ein Unterfangen, das im Lichte des Haushaltsentwurfs mitsamt einer vergleichsweise hohen globalen Minderausgabe von etwa 10 Milliarden Euro zumindest nicht leichter würde.

Die aktuellen Positionen stellen sich daher durchaus besonders dar: der Finanzminister, der im Haushaltsvollzug die Notfallkompetenz besitzt, schützt durch seine Ablehnung die Interessen der Abgeordneten, deren Haushaltsverhandlungen durch die Verwendung der exekutiven Notfallkompetenz schwieriger würden – das Parlament drängt die Exekutive dazu, ihr eigenes Budgetrecht aufgrund der vorübergehenden politischen Handlungsunfähigkeit vorwegzunehmen. So passierte am 31. Januar ein Antrag der FDP-Fraktion den Bundestag, in dem dieser die Bundesregierung dazu auffordert, die Notfallkompetenz für die Ukraine-Unterstützung einzusetzen.

Die bereits ohne die zusätzlichen drei Milliarden Euro schwierige Einigung auf einen Bundeshaushalt für 2025 könnte allerdings durch eine Lockerung der Schuldenbremse aus Art. 109 Abs. 3 und Art. 115 Abs. 2 GG erleichtert werden. Eine solche Reform ist Bestandteil des Programms zur Bundestagswahl der SPD und der Grünen. Sie wird auch von Spitzenpolitiker:innen der Union nicht ausgeschlossen bzw. teilweise gefordert. Keine derzeit im Bundestag vertretene Partei außer der FDP und AfD schließt eine Reform aus. Es ist daher nicht unwahrscheinlich, dass die Schuldenbremse nach der Bundestagswahl reformiert wird, sollte die notwendige Zweidrittelmehrheit politisch erreichbar sein. In diesem Fall liefe es praktisch wieder auf eine Finanzierung durch eine erhöhte Kreditaufnahme hinaus – ebenso wie im Modell der Aktivierung der Notlagenklausel.

Nochmals: Streit um Verfassungsrecht anstatt politischer Zweckmäßigkeit

Unabhängig von der Bewertung der einzelnen Argumente zeigt sich an der jüngsten Debatte ein weiteres Mal der starke Fokus der bundesrepublikanischen Politik auf finanzverfassungsrechtliche Normen, die weitreichende materielle Vorgaben zur Haushaltsgestaltung machen. Während die Vorschrift des Art. 112 GG das Verhältnis exekutiver Haushaltsführung und parlamentarischen Rechts zur Haushaltsaufstellung balancieren will, greift die Schuldenbremse materiell in die Haushaltsaufstellung ein. Im Hintergrund schwebt dabei aufgrund der grundgesetzlichen Verankerung der Schuldenbremse das Damoklesschwert des Verfassungsbruchs und eine damit verbundene etwaige Nichtigkeit des Haushaltsgesetzes.

Die Verfügung über drei Milliarden Euro als Verfassungsfrage

Nun ist ein haushälterischer Streit per se noch kein kritikwürdiger Zustand, sondern vielmehr der Regelfall in einer parlamentarischen Demokratie. Besonders an der derzeitigen Situation ist jedoch die spezifische Verbindung von Haushaltspolitik und Verfassungsrecht. Indem das Staatsschuldenrecht die Verfassung durch eine erhebliche materielle Regelungsdichte zu einem maßgeblichen Gegenstand der haushaltspolitischen Debatte macht, erhält jedes finanzielle Vorhaben neben der politischen eine erhebliche rechtliche Dimension.

Die Verfügung über drei Milliarden Euro durch die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt mit einem Bruttoinlandsprodukt von etwa vier Billionen Euro und einem Haushaltsvolumen von knapp 500 Milliarden wird so zur Verfassungsfrage, zur grundlegenden Frage des politischen Systems. Das daraus resultierende finanzverfassungsrechtliche Mikado ist mitnichten ein Einzelfall seit Bestehen (und Zerbrechen) der Ampel-Koalition, wie auch Hanno Kube in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung bemerkte.

Stabilität durch Politik

Daher kann man Kritik an die handelnden Politiker:innen richten, die finanzverfassungsrechtliche Risiken zur Umsetzung ihrer Politikwünsche hingenommen haben und hinnehmen anstatt die relevanten Verfassungsrechtsnormen zu ändern. Ebenso kann man kritisieren, dass der Bundeskanzler sich mit Berufung auf verfassungsrechtliche Argumente dagegen wehrt, einen haushaltsrechtlich gangbaren Weg zu gehen. Dies wird ihm allerdings erst durch das Staatsschuldenrecht ermöglicht, das die Verfassung zu einem maßgeblichen Gegenstand der haushaltspolitischen Debatte macht.

Geboten ist daher eine kritische Reflexion über Funktion und Ausgestaltung des Staatsschuldenrechts, insbesondere hinsichtlich der materiellen Regelungsdichte und des Normierungsstils. Ein möglichst restriktiver Rahmen sorgt nicht ohne Weiteres für Stabilität. Vielmehr benötigt der Haushaltsgesetzgeber Rechtsnormen, die – auch nach ihrem Sinn und Zweck und nicht nur durch kreative Auslegung des Wortlauts und der Systematik – Möglichkeit zur Weiterentwicklung und Bewegung geben. Stabilität wird nicht nur durch Recht, sondern ebenso durch Politik hergestellt. Die Aufgabe des Verfassungsrechts ist die angemessene Verbindung der beiden. Im Bereich des Staatsschuldenrechts wird schuldenpolitische Gestaltung zur bloßen Verwaltung. Die finanzverfassungsrechtliche Tendenz der jüngeren Vergangenheit, die Begrenzung und Zähmung der Politik stets der Ermöglichung und Beweglichkeit vorzuziehen, ist zu überdenken.

Der Autor dankt Bent Stohlmann und Ruth Weber für hilfreiche Anmerkungen zu früheren Versionen des Beitrags.

 



SUGGESTED CITATION  Märtin, Lukas: Drei Milliarden Euro als Verfassungsfrage: Zum jüngsten Streit um die Finanzierung der Ukraine-Unterstützung, VerfBlog, 2025/2/07, https://verfassungsblog.de/drei-milliarden-euro-als-verfassungsfrage/, DOI: 10.59704/e1862bd7398ab691.

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