Ein bisschen Verfolgung kann so schlimm nicht sein? Sicherheit in Herkunftsstaaten ist keine Frage des politischen Willens
Der Bundestag hat letzten Freitag beschlossen, Georgien sowie die Maghreb-Staaten Algerien, Tunesien und Marokko in die Liste der sicheren Herkunftsstaaten (Anlage II des Asylgesetzes) aufzunehmen. Wahrscheinlich wird der Gesetzentwurf wie schon ein ähnlicher in der letzten Legislaturperiode im Bundesrat an der Ablehnung der Grünen scheitern. „Verantwortungslose Blockierer“ heißt es nun vonseiten der CDU/CSU. Für sie ist die Ausweitung der Liste ein wichtiges Instrument, um für „schnellere Abschiebungen“ und (durch die erhoffte „Signalwirkung“) für einen Rückgang der Asylanträge zu sorgen. Die gewollte Kehrseite dieser Politik ist, dass die Chancen für Menschen aus den als sicher qualifizierten Staaten, in Deutschland Asyl zu bekommen, deutlich sinken – und zwar nicht nur in „Missbrauchsfällen“: Wenn das Verfahren mit der Vermutung, für Personen aus einem bestimmten Staat seien die Voraussetzungen nicht gegeben, „beschleunigt“ wird, dürften Anträge vielfach auch in berechtigten Fällen nach § 29a Abs. 1 AsylG als „offensichtlich unbegründet“ abgelehnt werden – mit der Folge, dass nach § 36 AsylG auch die Rechtsschutzmöglichkeiten stark eingeschränkt sind. Die Vermutung im Einzelfall zu widerlegen ist äußerst schwierig (vgl. nur dieses Beispiel).
Im Folgenden soll es nicht um die Problematik des Konzepts der sicheren Herkunftsstaaten an sich gehen. Seine Zulässigkeit ist durch Art. 16a Abs. 3 GG entschieden. Umso mehr ist aber einem Missverständnis entgegenzutreten, das angesichts der Zuständigkeit des Gesetzgebers für die Einstufung von Ländern als sicher naheliegt. Aktuell entsteht der Eindruck, dass es eine Frage des politischen Willens ist, ob Länder sicher sind. Man könnte meinen, die Menschenrechtslage sei nur ein Faktor in einer umfassenden Abwägung, so dass bei einem starken Willen zur Zuwanderungsbegrenzung die Anforderungen, um ein Land als sicher einzustufen, sinken. Das wird der verfassungsrechtlichen Konzeption aber nicht gerecht.
Entscheidung über empirische Annahmen und die Logik des Politischen
Dass Art. 16a Abs. 3 GG gerade dem Gesetzgeber die Entscheidung überträgt, Herkunftsstaaten als sicher einzustufen, ist ungewöhnlich. Das in der Norm aufgestellte Kriterium, ob in einem Staat „aufgrund der Rechtslage, der Rechtsanwendung und der allgemeinen politischen Verhältnisse gewährleistet erscheint, dass dort weder politische Verfolgung noch unmenschliche oder erniedrigende Behandlung stattfindet“, ist eine empirische Frage. Zu ihrer Beantwortung muss auf der Grundlage von Berichten über die Menschenrechtslage eine Prognose erstellt werden. Für Tatsachenfeststellungen ist im Rechtssystem typischerweise die Verwaltung zuständig. So sammeln die Polizei und diverse Aufsichtsbehörden empirisches Wissen, um Einzelfallmaßnahmen und generelle Verbote auf einer tragfähigen Grundlage treffen zu können. Die typische Aufgabe der Gesetzgebung ist eine andere: Aus dem Wissen über Tatsachenlagen ergibt sich noch nicht, welche rechtlichen Wertungen gelten sollen. Zur Entscheidung über diese politische, nicht wahrheitsfähige Frage eignet sich das durch Deliberation, Kompromissfindung und die Mehrheitsregel geprägte Gesetzgebungsverfahren besonders gut. Das heißt freilich nicht, dass der Legislative nur die Aufgabe der politischen Gestaltung zukäme. Die Tatsachenwürdigung wird vor allem als Grundlage wertender Entscheidungen relevant. Wenn der Gesetzgeber etwa die Höhe von Sozialleistungen zur Existenzsicherung festgelegt, muss er nicht nur entscheiden, welche Güter sich die Betroffenen leisten können sollen, sondern auch eine Vorstellung von den tatsächlichen Lebenshaltungskosten haben. Für die empirischen „Vorfragen“ sind die Handlungsmodi der Verhandlung und Mehrheitsentscheidung ungeeignet. Die Aufgabe der Legislative ist hier nicht, einen politischen Willen zu bilden, sondern Tatsachen zutreffend zu ermitteln – das gerät im politischen Betrieb leicht in Vergessenheit.
Bei Art. 16a Abs. 3 GG besteht die Besonderheit, dass sich die Aufgabe des Gesetzgebers ganz auf die empirische Feststellung konzentriert. Die Norm unterwirft die Menschenrechtslage im jeweiligen Land nicht der freien politischen Beurteilung. Eine Frage des politischen Willens ist allein, ob, sofern die Voraussetzungen vorliegen, ein Land in die Liste aufgenommen werden soll – hierzu ist der Gesetzgeber nicht verpflichtet. Die Situation entspricht dem typischen Fall der Eingriffsverwaltung: Auch die Polizei darf bei Vorliegen der jeweiligen Voraussetzungen Maßnahmen ergreifen, muss dies aber nicht tun.
Der nun im Bundestag angenommene Gesetzesentwurf beteuert in der Begründung, die Einstufung der Maghreb-Staaten als sicher beruhe auf einer sorgfältigen Analyse der Menschenrechtslage. Bemerkenswert ist aber, dass etwa erhebliche Einschränkungen der Versammlungsfreiheit und der Unabhängigkeit der Justiz sowie die Verfolgung Homosexueller eingeräumt werden, es am Ende jedoch heißt, der Einstufung als sicher stehe „trotz noch vorhandener Defizite“ nichts entgegen. Im Fall Tunesiens soll die Einstufung des Landes als sicher „im Rahmen einer Gesamtbetrachtung“ nicht einmal daran scheitern, dass NGOs kontinuierlich „über Einzelfälle von Folter“ berichten. Hier drängt sich der Schluss auf, dass die Gesamtbeurteilung dem Ziel einer restriktiveren Migrationspolitik folgt. Der alles entscheidende Punkt für die Einstufung ist die geringe Schutzquote der letzten Jahre von unter 5 %. Amnesty International hat diese Grenze als willkürlich kritisiert und darauf hingewiesen, dass die aussagekräftigere, weil um formale Antragszurückweisungen in Dublin-Fällen bereinigte Quote für alle Maghreb-Staaten bei über 5 % liege.
Was, wenn Herkunftsstaaten unsicher werden?
Besonders problematisch ist die Verquickung von Tatsachenannahmen und politischer Logik in einer dynamischen Perspektive. Wenn sich die Welt ändert, können empirische Annahmen, die früheren Entscheidungen zugrunde liegen, unrichtig werden. Auch eine ursprünglich zutreffende Prognose über die Menschenrechtslage in einem Land kann sich nachträglich als falsch erweisen. Um ein Land wieder von der Liste zu streichen, bedarf es einer neuen Entscheidung. Aber Zeit und Ressourcen des politischen Prozesses sind begrenzt. Eine notwendige Anpassung der Liste kann in Vergessenheit geraten, wenn die Aufmerksamkeit gerade auf anderen Themen liegt. Dieses Problem wird freilich durch die 2015 eingeführte Verpflichtung der Bundesregierung zu regelmäßigen Berichten (§ 29a Abs. 2a AsylG) zumindest entschärft.
Ein Weiteres kommt hinzu: Wenn ein Land durch ein neues Gesetz von Bundestag und Bundesrat von der Liste gestrichen werden soll, sind die Vetopositionen umgekehrt. Können einerseits die Grünen eine Erweiterung der Liste blockieren, kann sich andererseits die CSU gegen jede Kürzung sperren. Solange sie an der Regierung beteiligt ist, hilft auch die Möglichkeit der Streichung durch Rechtsverordnung nicht weiter, wie sie § 29a Abs. 3 AsylG im Interesse einer schnellen Reaktion auf Veränderungen vorsieht. Tatsächlich ist die Liste bisher fast nur erweitert worden, nur ein Mal wurde mit Gambia (1995) ein Land wieder gestrichen.
Zeit für eine Intensivierung der verfassungsgerichtlichen Kontrolle
Wie lässt sich verhindern, dass aus politischem Kalkül empirisch unzutreffende Annahmen über die Sicherheit von Herkunftsstaaten festgeschrieben werden, oder dass eine zunächst zutreffende Einstufung zur Fiktion wird, weil die erforderliche Mehrheit für eine Streichung fehlt? Hier könnte am Ende das BVerfG gefragt sein.
Im Verwaltungsrecht ist klar, dass die tatbestandlichen Voraussetzungen sowohl beim Erlass einer exekutiven Regelung als auch fortlaufend tatsächlich gegeben sein müssen. Betroffene können Verwaltungsakte und Rechtsverordnungen gerichtlich aufheben lassen, wenn die empirischen Annahmen, auf die sie gestützt sind, nicht oder nicht mehr zutreffen. Dabei sind die Gerichte keineswegs die besseren Experten. Sie können aber würdigen, ob empirische Aussagen methodisch nachvollziehbar getroffen worden sind. Vor allem haben die Betroffenen die Möglichkeit, eine neue Entscheidung zu erzwingen, wenn die Behörden trotz tatsächlicher Veränderungen untätig bleiben. In vielen europäischen Staaten wird auch die Liste sicherer Herkunftsstaaten von der Exekutive festgelegt: in Österreich, der Schweiz und Belgien durch die Regierung, in Frankreich durch das BAMF-Äquivalent. Diese Entscheidungen können verwaltungsgerichtlich angefochten werden. Tatsächlich hat etwa der belgische Conseil d’État die Einstufung Albaniens, der französische Conseil d’État die des Kosovos kassiert.
Trifft die Legislative empirische Annahmen, darf nicht deshalb die gerichtliche Irrtumskontrolle ausfallen. Die politische Logik ist keine Garantie gegen Fehlannahmen, im Gegenteil macht die Versuchung, die Tatsachenwürdigung den politischen Zielen anzupassen, Regelungen hier besonders fehleranfällig. Das BVerfG hat dann auch in den letzten Jahren verstärkt Anforderungen an empirische Annahmen der Legislative herausgearbeitet. Wenn der Gesetzgeber Abwehrrechte einschränkt und Leistungsrechte umsetzt, schuldet er den Betroffenen realitätsgerechte empirische Annahmen und muss bei veränderten Tatsachenlagen gegebenenfalls nachbessern. Das BVerfG hat dies in den Entscheidungen zu Hartz IV und zum Asylbewerberleistungsgesetz besonders deutlich gemacht.
Im Lichte der Rechtsprechungsentwicklung stehen die Chancen nicht schlecht, dass das BVerfG heute die Zulässigkeit der Einstufung von Herkunftsstaaten als sicher weniger zurückhaltend überprüft als in seiner Entscheidung von 1996. Damals hatte die Mehrheit des Zweiten Senats dem Gesetzgeber einen „Entscheidungs- und Wertungsspielraum“ zugebilligt. Ein Gesetz könne nur für verfassungswidrig erklärt werden, wenn sich der Gesetzgeber „nicht von guten Gründen hat leiten lassen“. Das war im Senat schon damals hochumstritten, nur eine 5:3-Mehrheit erachtete die Einstufung Ghanas als sicherer Herkunftsstaat für verfassungsmäßig. Jutta Limbach hat in ihrem Sondervotum die Subsumtionsaufgabe des Gesetzgebers überzeugend beschrieben: Dass nach Art. 16a Abs. 3 GG der Gesetzgeber den generellen Sachverhalt der Sicherheit eines Herkunftsstaats festzustellen hat (während Behörden und Gerichte eine dennoch bestehende individuelle Verfolgung prüfen), dürfe nicht zu „Freiräumen“ bei der Diagnose der politischen Verfolgung führen. Die Beschleunigung der Asylverfahren solle „allein durch die Vorwegnahme der Antwort auf die Frage der generellen Sicherheit in bestimmten Herkunftsstaaten bewirkt werden, nicht aber auf Kosten der Sorgfalt und Verläßlichkeit der Sachverhaltsannahmen geschehen“.
Sicherlich bedürfen auch die in Art. 16a Abs. 3 GG verwendeten Rechtsbegriffe der politischen Verfolgung und der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung der Konkretisierung. Aber auch das ist keine Frage des politischen Ermessens, sondern eine der Verfassungsauslegung, und selbstverständlich sollte die Auslegung des Gesetzgebers durch das BVerfG nachprüfbar sein. Es ist ein gravierender Irrtum zu meinen, der Gesetzgeber dürfe aus migrationspolitischen Erwägungen bestimmen, dass „ein bisschen Verfolgung“ schon in Ordnung sei.
Selbst der Spielraum, den das Mehrheitsvotum von 1996 der Legislative eingeräumt hat, bezieht sich allein auf die Würdigung der Menschenrechtslage. Denn davon, dass sich der Gesetzgeber „von guten Gründen hat leiten lassen“ kann kaum gesprochen werden, wenn die empirischen Annahmen lediglich dazu dienen, den Willen zur Zuwanderungsbegrenzung durchzusetzen. In einer geringen Schutzquote, die für die Einstufung der Maghreb-Staaten nun maßgeblich herangezogen wird, hat der Senat damals jedenfalls ein bloßes Indiz gesehen, das eine „eigenständige Prüfung der Verhältnisse anhand der in der Verfassung vorgegebenen Prüfkriterien“ nicht ersetze.
Sollten einzelne Landesregierungen mit grüner Beteiligung der Einstufung der Maghreb-Staaten als sicher doch noch zustimmen, läge es am BVerfG, auf den Antrag einer anderen Landesregierung, die Vorlage eines Verwaltungsgerichts oder eine Verfassungsbeschwerde hin klarzustellen, dass die Menschenrechtslage in einem Staat keine Frage des politischen Willens ist. Ein zusätzlicher Anreiz für eine intensivere Prüfung besteht für das BVerfG aufgrund der Konkurrenz zum EuGH, der mitgliedsstaatliche Listen sicherer Herkunftsstaaten an den im Anhang I der Richtlinie 2013/32/EU aufgestellten Mindestanforderungen überprüfen kann.
Zu alledem wird es aber wohl nicht kommen. Die Grünen haben allen Grund, in der Maghreb-Frage standhaft zu bleiben. Vielleicht hat ihre gegenwärtige Erfolgssträhne ja auch damit zu tun, dass sie dem andauernden Ruf nach einer restriktiveren Migrationspolitik, für die menschenrechtliche Fakten zweitrangig sind, entschieden entgegentreten?