Ein Grundrecht auf Generationengerechtigkeit?
Die Relevanz des Klimaschutz-Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts für andere Rechtsgebiete mit intergenerationaler Bedeutung
Mit dem jüngst veröffentlichten Klima-Beschluss hat der Erste Senat des BVerfG in aufsehenerregender Weise festgelegt, dass die jüngere Generation einen Anspruch darauf hat, die Lasten des Klimawandels nicht allein zu tragen. Intergenerationengerechtigkeit und intertemporale Freiheitssicherung in Klimaschutzfragen sind damit nicht mehr nur Perspektiven, sondern einklagbare subjektiv-öffentliche Rechte auf Grundrechtsniveau. Die Entscheidung hat aber auch über das Umweltrecht hinaus Bedeutung, etwa für den Rechtschutz der jungen Generation in den Bereichen der sozialen Sicherungssysteme oder der Staatsverschuldung. Sie gibt Anlass, sämtliche Säulen des gesellschaftlichen Lebens, bei denen Entscheidungen der Gegenwart zu Lasten für künftige Generationen führen, auf mögliche Beschränkungen intertemporaler Freiheiten abzuklopfen.
Intertemporale Freiheiten und Generationenbezug im BVerfG-Beschluss
Das BVerfG hält in seinem Klimabeschluss fest, dass das Grundgesetz „unter bestimmten Voraussetzungen zur Sicherung grundrechtsgeschützter Freiheit über die Zeit und zur verhältnismäßigen Verteilung von Freiheitschancen über die Generationen“ verpflichtet.
Was sind diese „bestimmten Voraussetzungen“ im Einzelnen? Hier kann auf die bekannte dogmatische Prüfung aus Schutzbereich, Eingriff und Rechtfertigung zurückgegriffen werden. Das Bundesverfassungsgericht legt an dieser Stelle den Begriff der „eingriffsähnlichen Vorwirkung“ zugrunde. Diese leiten die Karlsruher Richterinnen und Richter nicht etwa aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG, Art. 14 Abs. 1 GG, einem Grundrecht auf menschenwürdige Zukunft oder einem Grundrecht auf ein ökologisches Existenzminimum ab, sondern stützen sie ganz allgemein auf die Freiheitsrechte. Freiheitsrechte im Allgemeinen seien dadurch verletzt, dass die nach dem Bundes-Klimaschutzgesetz (KSG) bis zum Jahr 2030 zugelassenen Emissionsmengen die nach 2030 noch verbleibenden Emissionsmöglichkeiten erheblich reduzieren. Die Verlagerung der Reduzierungspflichten in die Zukunft führt zu der Gefahr, dass praktisch jegliche grundrechtlich geschützte Freiheit bedroht ist.
Nachfolgende Generationen, so das Gericht, können es nur um den Preis radikaler eigener Enthaltsamkeit vermeiden, einen irreversiblen Kipppunkt zu erreichen. Die Grundrechte des Grundgesetzes schützen im Wege einer intertemporalen Freiheitssicherung auch vor Regelungen, die einen Verbrauch von Ressourcen zulassen, ohne dabei hinreichend Rücksicht auf die hierdurch gefährdete künftige Freiheit zu nehmen. Neu ist, dass eine eingriffsähnliche Vorwirkung ausreicht, wenn diese nicht bloß faktischer Art, sondern rechtlich vermittelt ist. Die verfassungsrechtliche Rechtfertigung der Gefahr künftiger Freiheitseinbußen setzt schließlich zum einen voraus, dass die über das Ausmaß künftiger Freiheitseinbußen mitbestimmenden Vorschriften mit elementaren Grundentscheidungen des Grundgesetzes vereinbar sind. Zum anderen dürfen daraus keine unverhältnismäßigen Belastungen der künftigen Freiheit der Beschwerdeführenden folgen. Aus dem Gebot der Verhältnismäßigkeit folgt laut Beschluss, dass nicht einer Generation zugestanden werden darf, unter vergleichsweise milder Belastung große Anteile einer begrenzten Ressource zu verbrauchen, wenn damit zugleich den nachfolgenden Generationen eine radikale Last überlassen würde und deren Leben schwerwiegenden Freiheitseinbußen ausgesetzt wäre. Weil die Weichen für künftige Freiheitsbelastungen aber bereits durch die aktuellen gesetzlichen Regelungen gestellt werden, muss deren Auswirkung auf die künftige Freiheit aus heutiger Sicht und zum jetzigen Zeitpunkt – an dem die Weichen noch umgestellt werden können – verhältnismäßig sein.
Die Dimensionen der Generationengerechtigkeit
Ohne den Begriff zu verwenden, impliziert der Senat mit der Idee der intertemporalen Freiheitseinschränkung, dass Generationengerechtigkeit ein (justiziables) Ziel des Grundgesetzes ist. Mit ihr geht Gleichheit als Kern jeder Gerechtigkeit einher, die es verbietet, sich Privilegien zu Lasten kommender und folglich noch wehrloser Generationen herauszunehmen. Die rechtsphilosophische Rechtfertigung der so verstandenen Generationengerechtigkeit liegt am Beispiel der natürlichen Umwelt darin, dass sie Gemeineigentum der Menschheit ist. Jede Generation darf von den Früchten zehren, während ein Verbrauch dieses Kapitals ein Privileg auf Kosten der folgenden Generationen bedeuten würde, das ihr wegen des einmaligen und endlichen Charakters der natürlichen Umwelt nicht zusteht. Daraus ergibt sich zugleich, dass sich Generationengerechtigkeit nicht auf die natürliche Umwelt beschränkt, sondern darüber hinaus eine kulturelle, technische und soziale Dimension aufweist. Jede Generation hat damit zwar das Recht, beispielsweise Kulturgüter, Verkehrswege oder soziale Institutionen zu nutzen, aber ebenso die Verpflichtung, mit ihnen sparsam umzugehen. Die Generation der Älteren darf sich nicht auf Kosten der Jüngeren bereichern (vgl. dazu insgesamt hier). Diese soziale Dimension der Generationengerechtigkeit ist auch vor dem Hintergrund der Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG zu sehen, der u.a. das in Art. 20 Abs. 1 GG verankerte Sozialstaatsprinzip umfasst. Der Sozialstaat wird nicht nur den gegenwärtigen Generationen garantiert, sondern ist auch künftigen Generationen zu erhalten.
Generationengerechtigkeit de lege ferenda
Den Ausführungen des Ersten Senats zur Sicherung grundrechtsgeschützter Freiheit über die Zeit und zur verhältnismäßigen Verteilung von Freiheitschancen über die Generationen hinweg gehen entsprechende Diskussionen in der Legislative und der Literatur voraus. Aber auch das BVerfG hat in Entscheidungen zum Ausbleiben der Rentenerhöhung bei gleichzeitiger Erhöhung der Krankenkassenbeiträge oder zu den vermögensrechtlichen Grenzen staatlicher Kreditaufnahme schon den Begriff Generationengerechtigkeit verwendet. Seit der Jahrtausendwende werden immer wieder Ideen formuliert, um die Generationengerechtigkeit umfassend im Grundgesetz zu verankern, und zwar über Art. 20a GG und Art. 109 GG hinaus. So haben 2006 eine Reihe junger Mitglieder des Bundestages fraktionsübergreifend eine entsprechende Staatszielbestimmung in Form eines neuen Art. 20b GG angedacht. Dieser mit Generationengerechtigkeit überschriebene Artikel sollte folgenden Wortlaut erhalten:
„Der Staat hat in seinem Handeln das Prinzip der Nachhaltigkeit zu beachten und die Interessen künftiger Generationen zu schützen.“
Auch der ehemalige Präsident des Bundeverfassungsgerichts Hans-Jürgen Papier hat 2019 vorgeschlagen, den Grundsatz der rechtsstaatlichen Demokratie in Art. 20 Abs. 3a GG um diese Aspekte zu ergänzen:
„Die Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung berücksichtigen das Ziel einer dauerhaften Befriedigung des Gemeinwohls und der Belange auch künftiger Generationen. Durch Bundesgesetz, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf, werden für Bund und Länder gemeinsam geltende Maßstäbe für die Einhaltung der Pflicht nach Satz 1 festgelegt.“
Vom Klimaschutz zur Sozialversicherung
Auch über das Umweltrecht hinaus hat die Entscheidung aus Karlsruhe Relevanz für Rechtsgebiete mit intergenerationaler Bedeutung. Dabei ist beispielsweise an die sozialen Sicherungssysteme, allen voran die gesetzliche Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung zu denken. Hier besteht ebenso die Gefahr künftiger Freiheitseinschränkungen, die im derzeit geltenden Recht angelegt ist und daher potentiell auch eine gegenwärtige und eigene Grundrechtsbetroffenheit begründet. Wie im Bereich Klimaschutz sprechen gute Gründe dafür, dass das Ausmaß der Grundrechtsbeschränkungen dabei durch die bestehenden Regelungen bereits für die Zukunft mitgedacht und mitgeregelt, d. h. dem Grundgedanken der Generationengerechtigkeit Rechnung getragen werden muss.
Das bestehende System der Sozialversicherungen birgt vor allem mit Blick auf den demografischen Wandel die Gefahr, dass die Gesamtbeiträge schon im Jahr 2060 bei einem Status-Quo-Szenario auf über 50% steigen werden und das Rentenniveau auf 40% sinken wird. Ob diese Modellrechnung eintreten wird, lässt sich (noch) nicht feststellen. Das Risiko gravierender Beschränkungen, das mit ihr einhergeht, nimmt jedoch zu, wenn notwendige Strukturreformen weiterhin von Legislaturperiode zu Legislaturperiode verschoben werden. Denn dadurch könnte der Fall eintreten, dass künftigen Generationen nur noch signifikante Leistungseinschränkungen oder durchgreifende Strukturreformen bleiben, um derart immense Beiträge zu vermeiden. Hiermit wäre wiederum die Ausübung von allgemeinen Freiheitsrechten, die direkt oder indirekt mit dem Erhalt und der Finanzierung der gesetzlichen Sozialversicherungen zusammenhängen, bedroht. Eine eingriffsähnliche Vorwirkung läge vor. Im Ergebnis können die aktuellen Normen zu den Sozialsicherungssystemen mit den künftig betroffenen Freiheitsgrundrechten somit nur in Einklang gebracht werden, wenn sie mit Vorkehrungen zur grundrechtsschonenden Bewältigung der drohenden Lasten verbunden werden.
Gegen diese Erwägung spricht nicht, dass das BVerfG im Beschluss allerdings immer wieder auf die Irreversibilität der fraglichen Entwicklung als Voraussetzung eines Grundrechtseingriffs hingewiesen hat. Sind Permafrostböden in Sibirien oder die Eismassen an den Polen erst geschmolzen, ist ein Kipppunkt erreicht, der die Erderwärmung unumkehrbar macht. Eine naturgesetzliche Irreversibilität liegt im Bereich der Sozialversicherungssysteme zwar nur insoweit vor, wie Anzahl, Alter, Gesundheitszustand und Lebenserwartung der Beitragszahlenden und Leistungsempfangenden betroffen ist. Demgegenüber können die Beiträge, Leistungen oder Bundeszuschüsse jederzeit angepasst werden. Allerdings ist nicht ausgeschlossen, dass auch die Systeme der sozialen Sicherung zeitnah an einen irreversiblen Punkt gelangen aus der kein freiheitsschonender Weg mehr herausführt. Dieser würde eintreten, wenn nur noch Strukturreformen mit erheblichen freiheitsbeschränkenden Maßnahmen möglich sind, um Beiträge, Leistungen oder Bundeszuschüsse mit einem verfassungswidrigen Niveau zu verhindern.
Fazit
Der Gesetzgeber ist nach dem Beschluss des BVerfG dazu verpflichtet, frühzeitig grundlegende Voraussetzungen und Anreize für Entwicklungen zu schaffen, die auch später noch einen gehaltvollen Gebrauch von grundrechtlichen Freiheiten ermöglichen. Diese Verpflichtung gilt nicht nur für den Klimaschutz, sondern muss gleichermaßen für die sozialen Sicherungssysteme und im Ergebnis für alle Bereiche, die von intergenerationaler Bedeutung sind, gelten. Die Entscheidung des Ersten Senats muss daher Anlass sein, sämtliche Säulen des gesellschaftlichen Lebens, bei denen Entscheidungen der Gegenwart zu Lasten für künftige Generationen führen, auf mögliche Beschränkungen der intertemporalen Freiheiten abzuklopfen. Hierbei ist zu fragen, ob die zu erwartenden möglichen Beschränkungen gerechtfertigt sind. Ist eine Rechtfertigung nicht möglich, muss es auch in anderen Rechtsgebieten möglich sein, die Sicherstellung intertemporaler Freiheiten zu verlangen. Generationengerechtigkeit könnte darüber hinaus aber nicht nur rechtsgebietsspezifisch gedacht werden (Umweltrecht, Sozialversicherungsrecht etc.), sondern vielmehr rechtsgebietsübergreifend im Sinne einer Gesamtbilanz zu verstehen sein. So könnten steigende konsumtive Privilegien in der Gegenwart aus dem Gesundheitswesen, der Altersvorsorge, der staatlichen Neuverschuldung etc. möglicherweise auch ausgeglichen werden mit investiven Zukunftsausgaben, z. B. in das Bildungswesen und andere Bereiche sozialer und materieller Infrastruktur (vgl. dazu hier). Der Beschluss aus Karlsruhe ist demnach nicht nur für den Klimaschutz ein Meilenstein, sondern legt dogmatisch diejenigen Voraussetzungen fest, nach denen Rechtsnormen mit intergenerationaler Bedeutung betrachtet werden müssen und unter welchen Bedingungen ein Recht auf generationengerechte Ausgestaltung des Rechts eingefordert werden kann.