Ein Nachruf ohne Tränen
Das Ende der Grundmandatsklausel
Wahlrechtsreformen sind immer schmerzhaft. Grundlegende Wahlrechtsreformen sind es erst recht. Denn sie stellen viele über Jahrzehnte eingeübte Wahrnehmungsmuster des politischen Systems unter Politikern, Journalisten und in der Bevölkerung in Frage und werden von Parlamentsmehrheiten getroffen, die dabei ihre eigenen zukünftigen Erfolgsaussichten nicht vernachlässigen. Es ist ein Wunder, wenn sie überhaupt zustande kommen. Die gerade vom Bundestag verabschiedete Wahlrechtsreform ist die grundlegendste in der Geschichte der Bundesrepublik. Dass das hohe öffentliche Wellen schlägt, kann nicht überraschen. Besondere Aufregung verursacht die Streichung der sogenannten Grundmandatsklausel, von deren Existenz im Bundeswahlgesetz bis vor kurzem nur Eingeweihte überhaupt Notiz genommen hatten. Nach dieser Vorschrift im noch bis zum Inkrafttreten der Reform geltenden Bundeswahlgesetz sind Parteien, deren Bewerbern es gelingt, bundesweit drei Wahlkreise zu gewinnen, nicht an die Fünf-Prozent-Hürde gebunden. Diese Parteien erhalten also die Zahl von Mandaten, die ihnen nach ihrem Prozentanteil an Zweitstimmen zusteht, auch dann zugeteilt, wenn sie die Sperrklausel verfehlen. Es ist bemerkenswert, dass die Streichung einer Klausel, die seit jeher ernsthaften verfassungsrechtlichen Zweifeln unterliegt und vom Bundesverfassungsgericht nur mit äußerster Mühe noch für verfassungsgemäß erklärt wurde, eine derartige Debatte auslöst.
Das ist um so eigenartiger, als die Kritiker keinerlei auch nur von Ferne valides verfassungsrechtliches Argument gegen die Streichung vorbringen können. Die aus Sicht der Betroffenen nur allzu verständliche politische Klage über ein mögliches zukünftiges Scheitern der Linkspartei oder gar der CSU an der Fünfprozenthürde muss hier das verfassungsrechtliche Argument ersetzen. An dessen Stelle tritt allenfalls verfassungspolitisches Klagen und Raunen. So hat etwa Uwe Volkmann auf diesem Blog gemeint, die Abschaffung der Grundmandatsklausel sei zwar vielleicht nicht offenkundig verfassungswidrig, aber doch irgendwie sehr unschön.
Unschön sind grundlegende Wahlrechtsreformen aber immer, weil sie nicht von Engeln, sondern von Politikern gemacht werden. Man wird auch kaum sagen können, dass die Fraktionen der regierende Ampelkoalition sich hier in der Sache oder kommunikativ besonders professionell gezeigt hätten, haben sie doch die Streichung der Grundmandatsklausel erst spät in ihren Entwurf aufgenommen und diese berechtigte und im neuen Wahlrecht folgerichtige Entscheidung öffentlich nicht hinreichend gegen die absehbare Kritik verteidigt. Aber darauf kommt es auch nicht an. Entscheidend ist, dass gegen diese Streichung keinerlei irgendwie valides verfassungsrechtliches Argument vorgebracht werden kann.
Schon die Entstehung der Grundmandatsklausel im Jahr 1956 war ein wahlrechtliches Trauerspiel erster Güte. Es war die Zeit, in der die Unionsparteien der frühen Bundesrepublik langsam zum zentralen Faktor des bürgerlichen Lagers aufstiegen, dabei aber zunächst noch auf kleinere, mehr oder minder rechtsgerichtete Bündnispartner angewiesen waren, von denen im Bundestag nach 1961 nur die FDP überlebte. Besonders wichtig war dabei die vor allem in Niedersachsen starke Deutsche Partei (DP). Aus dieser Interessenlage der CDU/CSU in den 1950er Jahren heraus entstand die Klausel. Sie erlaubte es, einerseits über die Sperrklausel die Parteienvielfalt zu reduzieren, andererseits durch Absprachen über die Unterstützung von DP-Kandidaten durch die Union in einzelnen Wahlkreisen der Deutschen Partei mindestens drei Direktmandate zu sichern und damit einen verlässlichen Koalitionspartner ohne Rücksicht auf die Sperrklausel in den Bundestag zu hieven. Die Grundmandatsklausel ist ihrer Entstehung nach eine Vorschrift, die Manipulationen zur Umgehung der Sperrklausel Tür und Tor öffnen sollte und auch geöffnet hat. Der Staatsrechtler Hans Nawiasky nannte die Vorschrift damals völlig mit Recht eine „korrumpierende Bestimmung“.
Gemessen an der vom Grundgesetz verbürgten Wahlrechtsgleichkeit war diese Vorschrift von Anfang an kaum zu rechtfertigen. Denn offenkundig liegt hier eine Ungleichbehandlung im Verhältnis zu anderen Parteien vor, die weniger als fünf Prozent der Zweitstimmen erzielen und deshalb nicht im Bundestag vertreten sind. Warum genau soll der Gewinn von drei Direktmandaten diese Ungleichbehandlung rechtfertigen? Das Bundesverfassungsgericht hat diese Rechtfertigung noch im Jahr 1997 versucht, indem es die besondere politische Kraft der jeweiligen Partei hervorhob, die aus ihrem mehrfachen Erfolg in der Mehrheitswahl im Wahlkreis abzuleiten sei (BVerfGE 95, 408 [422]). Das war nicht überzeugend, weil nie dargelegt werden konnte, warum bei einer bundesweiten Wahl gewissen örtlichen Stimmkonzentrationen eine derartige überragende Bedeutung beigemessen werden sollte. Angesichts der schwachen Mehrheiten, mit denen inzwischen einige Wahlkreise gewonnen werden, hat das Argument mittlerweile noch stärker an Überzeugungskraft eingebüßt. Vom Bundesstaatsprinzip, das Alexander Dobrindt nun ins Spiel zu bringen versucht, war beim Bundesverfassungsgericht erst recht nie die Rede. Ganz im Gegenteil hat das Gericht bereits in seiner auf Klage der Bayernpartei (!) ergangenen ersten Entscheidung zur Grundmandatsklausel aus dem Jahr 1957 klargestellt, dass der Bundesgesetzgeber bei der Wahl zum Bundestag als dem unitarischen Verfassungsorgan des Bundes föderative Gesichtspunkte nicht zu berücksichtigen braucht (BVerfGE 6, 84, [99]) Ohnehin verlangt die Grundmandatsklausel gerade nicht, dass die drei Wahlkreise in demselben Bundesland gewonnen werden müssen und knüpft also gar nicht an die bundesstaatliche Struktur der Bundesrepublik an. Die Beseitigung einer Regelung, die, wenn überhaupt, nur als Ausnahme verfassungsrechtlich gerechtfertigt werden kann, wirft daher kein verfassungsrechtliches Problem auf.
Die Abschaffung der Grundmandatsklausel entspricht überdies dem Grundkonzept der nun vom Bundestag beschlossenen Wahlrechtsreform, auch wenn die Ampelkoalition und ihre Gutachter das erst verspätet erkannt haben. Denn Kern der Reform ist ein konsequenter Übergang zum Verhältniswahlrecht, bei dem die Wahlkreismandate nur noch dann zugeteilt werden, wenn dafür eine entsprechende Zweitstimmendeckung vorliegt. Gerade dadurch wird sichergestellt, dass der bisherige Spuk aus Überhang- und Ausgleichsmandaten verschwindet und der Bundestag in der Zukunft immer genau 630 Mandate haben wird. Das ist die nicht hoch genug zu preisende Leistung der Reform. Wenn aber Wahlkreismandate in der Zukunft nur noch auf hinreichender Zweitstimmenbasis zugeteilt werden, wäre es widersinnig, die relative Mehrheit in drei Wahlkreisen – die als solche nach neuem Recht kein Wahlkreissieg mehr sein wird – für Parteien ausreichen zu lassen, welche die Sperrklausel und damit die hinreichende Zweitstimmendeckung gerade verfehlen.
Angesichts von alledem ist alles Geraune über eine mögliche Wiederbelebung der Grundmandatsklausel durch das Bundesverfassungsgericht ohne jedes verfassungsrechtliche Fundament. Es bleibt freilich das politische Geschmäckle, dass der derzeit regierenden Koalition ein Scheitern der Linkspartei oder der CSU bei der nächsten Bundestagswahl sicherlich nicht ungelegen käme und ihre Motive für die Reform insoweit nicht allein staatspolitisch-lauterer Natur sind. Aber solche mitschwingenden Motive machen den Gesetzesbeschluss des Bundestages nicht verfassungswidrig.
Vielmehr entsteht durch die nun beschlossene Reform erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik die begrüßenswerte Situation, dass die Fünfprozenthürde wirklich ausnahmslos für alle Parteien gilt. Wenn manche Akteure das als schmerzhaft erleben, liegt das in erster Linie daran, das sie sich an das verfassungsrechtlich fragwürdige Privileg der Grundmandatsklausel zumindest als Sicherheitsnetz gewöhnt haben und es ihnen zugleich nicht mehr gelingt, verlässlich mehr als fünf Prozent der Wähler hinter sich zu versammeln. Insbesondere bei der CSU mutet es geradezu grotesk an, wie sehr diese Partei nunmehr versucht, ihre eigene Entscheidung, bei Bundestagswahlen ausschließlich in Bayern anzutreten, als Problem des zukünftigen Wahlrechts darzustellen. Es ist jedenfalls verfassungsrechtlich nicht Aufgabe des Wahlrechts zum nationalen Verfassungsorgan Bundestag, politische Geschäftsmodelle ehrgeiziger Regionalparteien zu fördern, die Sorge haben, vor Ort nicht länger fünf Prozent der Wähler für sich zu gewinnen. Solche politischen Geschäftsmodelle können durchaus eine ganze Zeit lang erfolgreich sein, wie es einst für ein paar Jahre der Deutschen Partei der Adenauerzeit gelang oder noch der CSU der letzten Wahlperiode, die auf ihre unnachahmlich burschikose Weise in das noch geltende Wahlrecht drei unausgeglichene Direktmandate hineinverhandelte. Aber das hält eben bestenfalls so lange vor wie die entsprechenden Mehrheitsverhältnisse im Parlament. Niemand im politischen Berlin hat die jahrelange Blockadehaltung der CSU bei der dringend gebotenen Wahlrechtsreform vergessen. Die CSU hat dort offenkundig keine verlässlichen Freunde mehr, nicht einmal in einem großen Teil ihrer Schwesterpartei. Sie mag daraus politische Konsequenzen welcher Art auch immer ziehen. Auf die Wiederbelebung der Grundmandatsklausel in Karlsruhe sollte sie dabei jedenfalls nicht hoffen. Diese Klausel mag sich ungeachtet ihrer verfassungsrechtlichen Fragwürdigkeit in der Geschichte der Bundesrepublik gelegentlich politische Verdienste erworben haben: um stabile Bundestagsmehrheiten in den 1950er Jahren oder die politische Integration von Teilen Ostdeutschlands in den 1990er Jahren. Aber derartige historische Verdienste liegen ohnehin allein im Auge des Betrachters. Ehemalige Volksparteien mit unsicheren Zukunftsaussichten in Bayern oder Ostdeutschland wird dieses dubiose Überbleibsel der Adenauerzeit nun jedenfalls nicht mehr vor einem etwaigen sinkenden Wählerzuspruch retten können. Das Ende der Grundmandatsklausel war überfällig. Sie möge in Frieden ruhen.
Die 5 % Klausel ist angesichts der in Artikel 38 GG festgelegten Maßstäbe eine hu rechtfertigende Ausnahme vom Prinzip der Wahlgleichheit. Wir haben uns zwar alle daran gewöhnt, dass es diese Klausel gibt – trotzdem sollte nicht das Gefühl dafür verloren geht, dass durch diese Klausel potentiell viele Bürger mit ihrer Wahlentscheidung nicht im BT vertreten sind.
Man kann deshalb durchaus argumentieren, dass diese Bregrenzung überhaupt nur dann gerechtfertigt werden kann, wenn durch sie nicht wesentliche politische Strömungen unrepräsentiert bleiben. Und deshalb wäre ich mir nicht so sicher, ob es Verfassungsrechtlich in Ordnung geht, wenn die 5 % Klausel ohne Grundmandatsklausel angewandt wird. Mal sehen.
Auf jeden haben die Ampelparteien klar gezeigt, mit wie wenig demokratischem Bewusstsein sie ausgestattet sind. Aber das ist ja bei SPD und Grünen auch keine besondere Überraschung.
Die kurzfristige Streichung der Grundmandatsklausel finde auch ich politisch nicht ganz fair und leider im derzeitigen Klima etwas unklug. Ihr Vorwurf an SPD und Grüne ist trotzdem pauschal-verunglimpfend.
Verfassungsrechtlich dürfte es nicht viel zu meckern geben, auch wenn ich die Fünfprozenthürde kritisch sehe. Eine wirklich gute Lösung im Sinne der Gleichheit der Wahl wäre gewesen, die Grundmandatsklausel zu streichen und im gleichen Atemzug die Fünfprozenthürde auf drei oder dreieinhalb Prozent zu senken. Chance vertan.
Im Übrigen bleiben Parteien nationaler Minderheiten von der Fünfprozenthürde ausgenommen, § 4 Abs. 2 S. 3 BWahlG bleibt nämlich erhalten. Der Satz “[…]dass die Fünfprozenthürde wirklich ausnahmslos für alle Parteien gilt.” stimmt also nicht ganz. Vielleicht kann’s die CSU ja so versuchen. 😉
Entschuldigung, ich muss mich korrigieren, die Ausnahme für Parteien nationaler Minderheiten findet sich im neuen BWahlG in § 4 Abs. 2 S. 3 (BT-Drs. 20/5370), die Systematik hat sich etwas geändert. Im alten BWahlG war’s § 6 Abs. 3 S. 1.
Lieber Herr Schönberger,
danke für diese schlichten, klaren, nicht von politischer Agenda getragenen und in jeder Hinsicht überzeugenden Zeilen.
Der CSU sei empfohlen, schlichtweg von der Grundmandatsklausel auf eine Grundsicherungsklausel zu schwenken: Unbeschadet der von ihr errungenen Erst- und Zweitstimmen ist die CSU mit einer Mandatszahl vertreten, die dem Vom-Hundertsatz der bayerischen Wahlberechtigten zum Bundestag dem insgesamt Wahlberechtigten zum Bundestag entspricht.
Weitere satirisch-traurige Vorschläge zur Rettung der CSU sind willkommen. Die Abschaffung der 5 % – Klausel wäre eine Möglichkeit. Aber die gefährden aus CSU Sicht ja die Handlungsfähigkeit der Demokratie..
Und ich (Gemeinschaftskundeunterricht in Baden-Württemberg vor mehreren Jahrzehnten) dachte immer
1. Dass mit der Fünf-Prozent-Hürde einer „Zersplitterung“ des Parlaments entgegengewirkt werden soll.
2. Dass die problematische Größe des Bundestages vor Allem mit den Überhang- und Ausgleichsmandaten und weniger mit der Grundmandatsklausel zusammenhängt.
Irgendwie beschleicht mich das Gefühl, dass die Ampel-Koalition die Fünf-Prozent-Hürde für Zwecke instrumentalisiert, für die sie gar nicht geschaffen wurde. Die Abschaffung der Grundmandatsklausel kommt mir so vor, als ob sich die Ampel-Koalition für die „nukleare Option“ für den Umgang mit der CDU/CSU entschieden hätte. Da fällt mir neben einer Listenverbindung auch noch der Kreuther Trennungsbeschluss (bundesweite Ausdehnung der CSU) ein.
2021 entfielen 13,5% aller Stimmen auf Parteien, die weniger als 5% erreichten. Sollte der Trend weitergehen, dass die sonstigen Parteien wachsen und sollten die CSU und die FDP tatsächlich an der 5%-Hürde scheitern, wäre diese Zahl um die 25%. Das wäre schon eine enorme Zahl von Wählern, deren Zweitstimme i.E. keinen Erfolgswert erhielte.
Betrachtet man dann die heutige Verfassungsrealität, in der Oppositionsparteien kaum mehr als ein Rederecht im Gesetzgebungsverfahren zukommt, erscheint die Vereinbarkeit der 5%-Hürde mit Art. 38 GG äußerst fraglich. Erst recht, wenn sie ohne Ausnahmen, wie der Grundmandatsklausel gilt.
M.E. bedürfte es einer Herabsenkung der Sperrklausel auf 3 oder 4%, um die Wahlrechtsreform mit der wünschenswerten Verkleinerung des BTags verfassungskonform zu gestalten. Die historischen Bedenken hinsichtlich Splitterparteien gehen schlicht an der heutigen Machtverteilung zwischen BReg und BTag vorbei und können eine strikte 5%-Hürde nicht rechtfertigen.
Ich finde die von Herrn Schönberger vorgetragenen Argumente für die Abschaffung der Grundmandatsklausel überzeugend und jedenfalls nicht verfassungsrechtlich problematisch. Aber die entscheidende Frage greift er eben nicht auf: nämlich die pauschale Aberkennung des Mandats eines Bewerbers mit den meisten Stimmen in einem Wahlkreis, sofern er einer Partei angehört, die die 5 % insgesamt verfehlt.
Diese Zusatzbestimmung, die die Grundmandatsklausel überhaupt nicht tangiert, ist meines Erachtens höchst problematisch – und vor allem auch gar nicht notwendig.
Man stelle sich vor, ein unabhängiger Kandidat gewänne einen Wahlkreis. Er könnte damit nach der neuen Regelung per se kein Mandat erhalten. Nun wird man einwenden, dieser Fall sei rein theoretisch. Aber wir erleben gerade in vielen deutschen Kommunen, wie sich unabhängige Kandidaten gegen von einer Partei vorgeschlagene durchsetzen.
Im Ergebnis halte ich diesen Aspekt der Wahlrechtsreform für höchst problematisch, weil er das Recht, sich in einem Wahlkreis um ein Mandat zu bewerben, teilweise einschränkt beziehungsweise für alle Kandidaten, die entweder ohne Parteigründung antreten oder einer Partei angehören, die die Fünf-Prozent-Hürde verfehlt, faktisch streicht.
Oh, von daher sollte dieser Aspekt noch einmal überdacht werden. Dann wäre die Linkspartei (nach dem Wahlergebnis von 2021) mit ihren drei direkt gewählten Abgeordneten (sofern sie in der für alle geltenden Listung entsprechend abschneiden) vertreten, aber nicht mit 39.
“Im Ergebnis halte ich diesen Aspekt der Wahlrechtsreform für höchst problematisch, weil er das Recht, sich in einem Wahlkreis um ein Mandat zu bewerben, teilweise einschränkt beziehungsweise für alle Kandidaten, die entweder ohne Parteigründung antreten oder einer Partei angehören, die die Fünf-Prozent-Hürde verfehlt, faktisch streicht.”
Da unabhängige Wahlkreisbewerber, auch wenn sie bisher nicht relevant waren, naheliegenderweise nicht von der Zweitstimmendeckung und der 5%-Hürde betroffen sind, ergibt sich tatsächlich ein etwas anderes Problem: Ein parteiunabhängiger Kandidat könnte mit relativer Mehrheit im Wahlkreis in den Bundestag gewählt werden, während Wahlkreiskandidaten einer (egal wie knapp) unter 5% der Zweitstimmen bleibenden Partei in keinem Fall in den Bundestag einziehen dürften.
Eine völlige Gleichbehandlung parteigebundener und unabhängiger Wahlkreiskandidaturen ist zwar im vorliegenden Konzept der Zweitstimmendeckung nicht möglich, aber eine Abmilderung in Form einer modifizierten Zweitstimmendeckung für Parteien unter der Prozenthürde könnte geboten sein: Eine Begrenzung der Anzahl der Wahlkreismandate in einem Bundesland etwa auf den Zweitstimmenanteil der jeweiligen Landesliste an der bundesweiten Summe aller gültigen Zweitstimmen hätte etwa den Effekt, dass die Linke vermutlich ihre einzelnen und eine schwächere CSU zumindest einen proportional angemessenen Teil an Wahlkreismandaten behalten dürften.
Eine vollständige Gleichstellung von parteilosen und parteigebundenen Bewerbern wäre auch unter dem System der Zweitstimmendeckung durchaus möglich. Man müsste lediglich das Parteienmonopol bei der Einreichung von Landeslisten abschaffen. Dann könnten freie Wählergruppen mit Landeslisten antreten und auf diese Weise auch ihren (parteilosen) Wahlkreisbewerbern zu einer Zweitstimmendeckung verhelfen. Wenn man dann auch noch Listenverbindungen nicht-konkurrierender Landeslisten zuließe (und das BVerfG seinen Widerstand hiergegen aufgäbe), könnten freie Wählergruppen aus verschiedenen Bundesländern Zählgemeinschaften bilden und so vielleicht – bei entsprechender politischer Relevanz – die Sperrklausel überwinden. Das wäre allemal sinnvoller als dieser pseudodemokratische Einzelbewerber-Kitsch, den zu pflegen den Parteien offensichtlich leicht fällt, da er ihrer Machtstellung in keiner Weise jemals gefährlich werden kann. Zumal ein erfolgreicher Einzelbewerber als Alleinkämpfer im Bundestag ohnehin hoffnungslos überfordert wäre.
Ein bemerkenswerter Beitrag. Die Behauptung, es gebe gegen die Verfassungsmäßigkeit der Streichung der Grundmandatsklausel “auch nur kein von Ferne valides verfassungsrechtliches Argument”, würde vielleicht noch plausibler, wenn man sich mit den Auswirkungen der 5%-Klausel unter den Rahmenbedingungen des neuen Wahlsystems auch nur ansatzweise beschäftigen würde. Dies kann ich nicht erkennen.
Das Problem ist in der Tat nicht der Regionalproporz oder die individuelle Betroffenheit der CSU (oder der Linken), sondern die mit der 5%-Hürde seit jeher verbundene Beeinträchtigung der Erfolgswertgleichheit unter (nunmehr) nahezu vollständiger Immunisierung des parteipolitischen Status Quo gegen Anfechtungen von außen, die durch die Streichung der Grundmandatsklausel noch verstärkt wird. Wie bitte sollen sich neue Parteien etablieren können, wenn sie sich der 5%-Hürde nicht mehr durch den Gewinn einzelner Direktmandate annähern kann? Etwa durch informelle Unterstützung einzelner Direktkandidaten, bis eine Überschreitung der 5%-Klausel realistisch erscheint?
Über die bisherige Funktion der Grundmandatsklausel, die Parteien bei Gewinn dreier Grundmandate auch dann auf ihren relativen Stimmanteil hebt, wenn dieser 5% unterschreitet, mag man streiten können; dass (listengebundene) erfolgreiche Direktkandidaten nunmehr auch dann unter die Räder kommen, wenn eine Verteilung bzw. Verschiebung des (vermeintlich) gewonnenen Mandats aufgrund der Unterschreitung der 5%-Hürde gar nicht stattfindet, sollte man m.E. aber schon ansprechen, wenn man der Reform einen Persilschein ausstellt.
M.E. ist das Gegenteil richtig: Aufgrund der Neuregelung des Wahlrechts wäre dringend zu erwägen gewesen, die 5%-Klausel entsprechend anzupassen; die vollständige Streichung der Grundmandatsklausel führt demgegenüber sogar noch in die falsche Richtung. Dass die Neuregelung in der veränderten Ausschussfassung einer verfassungsgerichtlichen Prüfung standhält, halte ich daher für eher fernliegend. Hier von “Klagen und Raunen” zu sprechen, ist zudem auch argumentativ unseriös.
Das überschätzt mE den Wert der Grundmandatsklausel für nicht-etablierte Parteien. Zugegeben, für Die Linke+Vorgänger war sie mehrfach wichtig. Umgekehrt zeigt doch aber die Geschichte der AfD, dass es auch anders geht. Als die AfD 2017 3 Direktmandate errang (2013: 0) kam sie bundesweit bereits auf 12,6% in der Zweitstimme (2013: 4,7%). Nicht-etablierte Parteien können es also (in diesem Fall wird man sagen müssen: leider) auch ohne Grundmandate in den BT. Die Vorstellung, dass sich Parteien quasi erst durch Einzelkandidaten aufbauen und dann danach bundesweit Stimmen sammeln, scheint mir heute sogar eher realitätsfern.
Vieles bei der verfassungsrechtlichen Würdigung der Wahlrechtsreform scheint davon abzuhängen, ob es sich bei dem neuen Wahlrecht tatsächlich um einen “konsequenten Übergang zum Verhältniswahlrecht” handelt. Das kann man durchaus bezweifeln, solange es überhaupt noch Wahlkreiskandidaten gibt. Mir erschließt sich auch nicht, warum diese Reform “dringend geboten” war. Das Wahlrecht hat jedenfalls wichtigere Aufgaben, als ein kleines Parlament zu garantieren. Eine angemessene Repräsentation auch regionaler Anliegen oder wichtiger, aber nicht allgemeiner Interessen eingeschlossen. Dies könnte im Rahmen eines strikten Verhältniswahlrechts beispielsweise durch die Absenkung der Sperrklausel und ihre Anwendung auf Landesebene statt auf Bundesebene erreicht werden. Wurde so etwas im Gesetzgebungsverfahren diskutiert? Wie wäre eine derart gestaltete Sperrklausel verfassungsrechtlich einzuschätzen?
Vielen Dank für diesen Beitrag.
Vor allem die historische Einordnung der Entstehung der Grundmandatsklausel ist für mich in der aktuellen Diskussion um die Wahlrechtsreform erhellend.
Es war und ist eine fragwürdige Klausel zur Sicherung politischer Koalitionen.
Verglichen mit früheren “Manipulationen”, die in dem Beitrag angesprochen werden, ist der aktuelle Fall “Der Linken” harmlos, weil das bundesweite Ergebnis immerhin bei 4,9 % lag.
Aber es zeigt trotzdem das grundsätzliche Problem: Ein unehrliches Gefeile und Gehämmer an der Fünfprozenthürde.
Die Grundmandatsklausel öffnete Raum für Manipulationen des Wählerwillens.
Der Beitrag lässt regionalen Unterschieden schlicht keinerlei Raum. Dabei wäre gerade erst zu klären, ob der Wahlkreis als festbestehendes Element auch der künftigen Reform nicht genau auf eine solche Regionalisierung und Personalisierung zielt und was hieraus folgt für die Folgerichtigkeitskriterium des BVerfG, wie auch allgemein die Integrationsfunktion der Wahl und die Verzerrung durch die 5 % – Klausel. Unklar ist, wieso das genetische Argument zur Grundmandatsklausel im Beitrag etwas ändert, zumal der Beitrag ja selbst darauf verweist, dass die Motive des Gesetzgebers heute nicht ausschlaggebend sind… Wenn wir unsere Verfassung ständig neu interpretieren und damit auch neu schaffen, sollten wir nicht zuerst die Frage nach Integrationsfunktion der Wahl beantworten?
Die „Entstehung“ der Grundmandatsklausel auf das Jahr 1956 zu datieren und sie auf die damalige Interessenlage der CDU/CSU zurückzuführen, wird den historischen Abläufen nicht gerecht.
Zwar war es vor allem die CDU, die sich die Grundmandatsklausel zu Nutze gemacht hat, indem sie durch gezielte Wahlkreisabsprachen andere ihr nahestehende Parteien über die Schwelle trug. So verhalf sie 1953 durch den Verzicht auf einen eigenen Bewerber im Wahlkreis Oberhausen der Zentrumspartei zu einem Direktmandat. In gleicher Weise überließ sie 1953 und 1957 in mehreren Wahlkreisen in Niedersachsen und Hamburg der Deutschen Partei das Rennen.
Diese praktische Anwendung bzw. Ausnutzung der Grundmandatsklausel sollte man aber nicht mit ihrer Enstehung bzw. Entwicklung verwechseln. Die Grundmandatsklausel ist 1956 auch nicht neu entstanden, sondern lediglich von einem Mandat auf drei Mandate erhöht worden. Treibende Kraft war hierbei jedoch nicht die CDU/CSU, sondern die FDP. Die FDP erhoffte sich davon, die Zahl der Konkurrenten im bürgerlich-konservativen Lager zu reduzieren. Die Interessenlage der CDU/CSU war dazu zwar kompatibel, die Union war damals aber mehr darauf fokussiert, ein reines Mehrheitswahlrecht zu etablieren, was ihr freilich misslang.
Auch bei der Entstehung der Grundmandatsklausel spielte die FDP eine größere Rolle als die DP, wenngleich in anderer Hinsicht: Geboren wurde die Grundmandatsklausel auf einer Ministerpräsidentenkonferenz 1949 in Schlangenbad bei Wiesbaden. Hier machten die CDU-Ministerpräsidenten Müller (Württemberg-Hohenzollern) und Arnold (NRW) den Vorschlag, dass nur Parteien mit bundesweit mindestens einem Direktmandat bei der Sitzverteilung berücksichtigt werden sollen. Damit wollten sie mutmaßlich vor allem die FDP schwächen. Inbesondere Müller hatte hieran ein vitales Interesse, da die Vormachtstellung seiner CDU im geplanten Südweststaat vor allem von der FDP und deren Ministerpräsidenten Maier (Württemberg-Baden) bedroht schien. Letztlich konnte Maier (FDP) in Schlangenbad mit Unterstützung der SPD-Ministerpräsidenten jedoch durchsetzen, dass es alternativ zum Direktmandat auch reichen sollte, bundesweit fünf Prozent der Stimmen zu erzielen.
(Dass aufgrund einer Intervention der alliierten Militärregierung die Sperrklausel bei der ersten Wahl 1949 dann doch auf Landes- statt Bundesebene galt und dies erst durch den Bundestag zur zweiten Wahl 1953 „korrigiert“ wurde, tut hier nichts zur Sache.)