08 January 2013

Ein paar Gedanken zum New-School-Antisemitismus

Was Old-School-Antisemitismus ist, davon haben wir alle eine ziemlich genaue Vorstellung. Weltverschwörung und Hostienschändung, Stürmer-Karikaturen von krummnasigen Börsenjuden: damit wollen wir natürlich alle nichts zu tun haben. Das ist was für Skinheads und SS-Veteranen. Aber wir doch nicht! Wir verabscheuen doch die Nazis aus tiefster Seele. Gerade weil das unsere Großväter waren. Wir wissen doch Bescheid. Uns passiert das doch nicht noch einmal.

Aber dann ergibt es sich, dass uns Juden Anlass geben, uns über sie aufzuregen. Dann ist vielleicht was los. Dann brechen alle Dämme. Wer weiß, vielleicht sind am Ende gar nicht wir die Bösen? Haben da nicht die angeblichen Opfer auch, oder sogar: viel mehr Dreck am Stecken? Da wird uns gleich ganz pudelwohl bei dem Gedanken. Die Gelegenheit lassen wir uns nicht entgehen.

Das ist der New-School-Antisemitismus. Und von dem sind wir, Hand aufs Herz, alle nicht völlig frei.

Der Fall Augstein hat die alte Debatte, wo die Kritik an der israelischen Regierungspolitik aufhört und der Antisemitismus anfängt, wieder mächtig hochkochen lassen in den letzten Tagen. In der Süddeutschen (noch nicht online) setzt sich heute Andrian Kreye mit der Antisemitenhitparade des Simon-Wiesenthal-Centers und anderen Versuchen auseinander, Antisemitismus mehr oder minder objektiv und kriteriengestützt zu definieren. Am Ende kommt er zu dem (nicht weiter ausgeführten) Schluss, bei Ressentiments und Vorurteilen gehe es

weniger darum, wie man sie definiert, als darum, wie sie empfunden werden.

Daran ist sicher richtig, dass man mit objektiven Kriterien das Dilemma in Zweifelfällen kaum gelöst bekommt. Ich würde das Argument nur umdrehen: Ob eine Äußerung antisemitisch ist oder nicht, liegt nicht im Ohr des Adressaten, sondern in der Motivation des Äußerenden.

Das macht die Sache schwierig: Aus welchen Motiven jemand etwas sagt, ist erstens von außen schwer zu bestimmen und noch schwerer zu beweisen und zweitens dem Äußernden selber nicht unbedingt bewusst.

Aber gerade unbewusste Motive haben so eine Art, sich auf geradezu geisterhafte Weise Sichtbarkeit zu verschaffen in der Wortwahl dessen, der sich äußert. Ich bin gestern auf einen Text gestoßen, dem man sich eigentlich nicht ohne Nasenklammer nähern sollte, der das aber sehr schön exemplifiziert. Der Autor (the less said about him, the better) regt sich maßlos über Henryk M. Broders Attacken gegen Augstein auf, und zwar mit folgenden Worten:

Was Broder mit Augstein versucht, hat sich Broder direkt bei den Nazis abgeschaut. (…) Wer sich so äußert, jenseits von Fakten, der will nur noch vernichten. Und Henryk M. Broder ist fest entschlossen, Jakob Augstein zu vernichten. Diese Zitate haben eine Art Endkampf-Charakter – Broder ist der Aggressor und Augstein das Opfer, der in den verrückten Augen von Broder ein  Täter ist (…)

Da brauche ich nichts weiter zu sagen, oder?

Was Augstein selbst betrifft, so will und kann ich mich über seine Motive nicht äußern. Die Zitate jedenfalls, auf die das Simon-Wiesenthal-Center seinen Antisemitismusvorwurf stützt, geben keine derartigen Zaunpfahl-Winke her. (Das wäre ja auch noch schöner.)

Vielleicht aber kommt es aber gar nicht so sehr darauf an. Eigentlich ist es doch so: Die Versuchung, uns durch Umkehrung des Täter-Opfer-Schemas Erleichterung zu verschaffen, verspüren wir doch irgendwie alle. Man muss sich doch nur mal klar machen, wie viel Zeit man mit Händeringen über Netanjahu verbringt und wie wenig mit, sagen wir mal, Haareraufen über Pakistan.

Den Unterschied macht nicht das Haben oder Nichthaben dieser Motive, sondern der Umgang damit. Und umgehen kann man erst damit, wenn man sich überhaupt bewusst geworden ist, dass man sie hat. Das ist wie bei den Anonymen Alkoholikern: Wer darauf beharrt, kein Alkoholproblem zu haben, wird es nie los.

Insoweit scheint mir die Situation in Deutschland noch ganz passabel. In der deutschen Politik und Medienöffentlichkeit ist das Bewusstsein darüber, was es mit dem New-School-Antisemitismus auf sich hat, ziemlich weit verbreitet. Wer das für selbstverständlich hält, sollte sich mal mit Österreichern unterhalten (von Ungarn ganz zu schweigen).

Deshalb fliegt bei uns ein CDU-Abgeordneter aus der Fraktion, wenn er von den Juden als “Tätervolk” faselt. Deshalb stürzen wir unseren Nationalnobelpreisträger Günter Grass vom Podest, wenn er Israel den Willen zum atomaren Holocaust an den Leib dichtet. Deshalb ist sich die politischen Elite – in scharfem Kontrast zur breiten Bevölkerung – fast geschlossen einig darin, dass die Beschneidung nicht kriminalisiert werden darf.

Aber ich will hier keine Selbstzufriedenheit verbreiten. Dass dazu kein Anlass besteht, zeigt ein Blick in die Kommentarspalte unter jedem einzelnen der Artikel auf diesem Blog, die das Beschneidungsthema behandeln…


SUGGESTED CITATION  Steinbeis, Maximilian: Ein paar Gedanken zum New-School-Antisemitismus, VerfBlog, 2013/1/08, https://verfassungsblog.de/ein-paar-gedanken-zum-new-school-antisemitismus/, DOI: 10.17176/20170807-154106.

27 Comments

  1. Noah Tue 8 Jan 2013 at 17:17 - Reply

    Soll ich die letzten Sätze so verstehen, dass Gegner der Beschneidung von Nicht-Einwilligungsfähigen Newschool-Antisemiten sind? 🙂 Oder ist diese Kritik nur auf diejenigen beschränkt, die “Endkampf”-Rhethorik benutzen? Aber da treffen sich scheinbar auch zwei verschiedene Wahrnemungswelten. Ich hab mehr Irrationalität und Nazi-Beschimpfungen auf der Seite der Beschneidungsbefürworter als Antisemitismus auf Seiten der Gegner gesehen. Und dass Israels Regierung nicht friedlich ist, hat nichts damit zu tun, dass dort große Teile der Bevölkerung dem Judentum angehören. Ähnlich wie Italiens Hang zur Wahl von Berlusconi (=> Martin Schulz sei optimal geeignet für die Rolle des “KZ-Wächters”, man erinnert sich) nichts mit dem hohen Anteil an Katholiken in der Bevölkerung zu tun hat. Dennoch sind beide Regierungen widerlich.

  2. Hans Tue 8 Jan 2013 at 18:15 - Reply

    Das Israels Regierung nicht friedlich ist mag vielleicht nichts damit zu tun haben, dass die Mehrheit der israelischen Bevölkerung jüdisch ist. Dass wir uns mehr Zeit mit der israelischen Regierung in der Öffentlichkeit auseinandersetzen als mit der syrischen (allein in diesem Jahr brachte der Konflikt dort mehr Todesopfer als im Israel-Palästina Konflikt in den gesamten letzten 20 Jahren), könnte durchaus etwas damit zu tun haben, dass eine Mehrheit der israelischen Bevölkerung jüdisch ist.

  3. Shirin Tue 8 Jan 2013 at 18:27 - Reply

    Herr Steinbeis: Was für ein undifferenzierter Kommentar zur Beschneidung. Lesen Sie mal, was Prof. Dr. Holm Putzke dazu gestern in einem Interview gesagt hat, dann bekommen Sie vielleicht eine Vorstellung davon, von welche intellektuelle Differenziertheit (und Redlichkeit) ich meine: http://hpd.de/node/14709

  4. Maximilian Steinbeis Tue 8 Jan 2013 at 19:06 - Reply

    @Shirin: Ich behaupte nicht, dass alle Argumente gegen Beschneidung antisemitisch motiviert sind. Aber ich behaupte, dass die jubelnde Begeisterung, mit der sich so viele Leute auf dieses Thema stürzen, nicht anders als durch New-School-Antisemitismus erklärbar ist. Im Übrigen: Verschafft mir Ihr Link auf das Putzke Interview eine Vorstellung von intellektueller Differenziertheit und Redlichkeit? Nö. Kann ich eigentlich nicht sagen.

  5. schorsch Tue 8 Jan 2013 at 19:16 - Reply

    Zitat Putzke: “Zweitens bestand die Projektgruppe der AAP selber aus zahlreichen Beschneidungsbefürwortern, die teilweise sogar ihre eigenen Kinder hatten beschneiden lassen.”
    – Ist ja irre! Solche Leute? Scheiß die Wand an! Dabei sollte doch klar sein, dass – ganz nach dem Vorbild der deutschen Debatte – eigentlich nur Menschen ohne beschnittene Kinder über diesen Brauch reden sollten.

  6. Methapher Tue 8 Jan 2013 at 20:54 - Reply

    Ich mag den Vergleich: “Das ist wie bei den Anonymen Alkoholikern: Wer darauf beharrt, kein Alkoholproblem zu haben, wird es nie los.”
    Das Gundproblem dabei ist das gleiche wie bei einem Menschen unter Terrorverdacht: Je unauffälliger er sich verhält, desto verdächtiger macht er sich. Oder eben beim Alkoholismus: Wer das Problem zugibt, hat eines. Wer es abstreitet, ebenfalls.

  7. Stephen Schöndorf Tue 8 Jan 2013 at 23:52 - Reply

    @ schorsch

    Zitat Putzke: “Zweitens bestand die Projektgruppe der AAP selber aus zahlreichen Beschneidungsbefürwortern, die teilweise sogar ihre eigenen Kinder hatten beschneiden lassen.”
    – Ist ja irre! Solche Leute? Scheiß die Wand an! Dabei sollte doch klar sein, dass – ganz nach dem Vorbild der deutschen Debatte – eigentlich nur Menschen ohne beschnittene Kinder über diesen Brauch reden sollten.

    Einer der Autoren des AAP-Reports hat seinen eigenen Sohn auf dem Küchentisch (!) beschnitten:

    Do you have a son and, if so, did you have him circumcised?

    Yes, I do. I circumcised him myself on my parents’ kitchen table on the eighth day of his life. But I did it for religious, not medical reasons. I did it because I had 3,000 years of ancestors looking over my shoulder.

    http://www.thejewishweek.com/features/new-york-minute/fleshing-out-change-circumcision

    Würden Sie wissenschaftliche Expertisen zur weiblichen Beschneidung von Leuten akzeptieren, die die Klitorisvorhaut ihrer Tochter amputiert haben?

  8. Hans Adler Wed 9 Jan 2013 at 00:00 - Reply

    Herr Steinbeis: Der Gedanke, dass die “jubelnde Begeisterung” (eine ekelhafte, verhetzerische Metapher) auch etwas mit der Sache selbst zu tun haben könnte, der ist Ihnen wohl noch nie gekommen? Bis vor kurzem herrschte überall, so auch in der Medizin eine Verharmlosung der Vorhautbeschneidung vor. Unter anderem wurde behauptet, dass Säuglinge weniger Schmerzen empfinden als ältere Kinder und Erwachsene. Allerdings hat sich in den letzten Jahrzehnten herausgestellt, dass sie tatsächlich sogar mehr Schmerzen empfinden und das, teils lang anhaltende, Traumatisierungen eher die Regel als die Ausnahme sind. Selbstverständlich erfordert das eine Neubewertung. Und selbstverständlich ist ein großer Teil der Bevölkerung erst anlässlich des Kölner Urteils auf diese neuen Erkenntnisse aufmerksam geworden.

    Meine eigene erste Reaktion war vergleichbar mit der von Frau Merkel. Dann habe ich mich sicherheitshalber noch etwas genauer informiert und musste leider feststellen: Beschneidung ist leider keine Bagatell-Körperverletzung sondern kann erhebliche irreversible Nachteile bewirken. Bei Säuglingen stellt sie zudem in der Regel objektiv Folter dar. Ich bin überhaupt nicht glücklich über diese Erkenntnis. Das erlaubt es mir aber nicht, davor die Augen zu verschließen.

    Es ist in jedem Fall faszinierend, wie Sie das ernste Thema Antisemitismus als Aufhänger für einen billigen unsachlichen Angriff auf die Gegner der Zwangsbeschneidung verwenden. Aber wahrscheinlich habe ich mich für so eine Äuße