27 February 2020

Ein Parlament der Menschheit

Warum die Bundesregierung die Bildung einer parlamentarischen Versammlung bei den VN unterstützen sollte

Ich stelle mir vor, in meiner Stadt gäbe es ein Wahlkreisbüro, eines unter vielen, in denen Abgeordnete ihren Wählern vor Ort zur Verfügung stehen, sich für ihre Fragen und Anliegen Zeit nehmen, Bericht erstatten über die Politik, die in den Parlamenten gemacht wird, die Politik zu den Bürger*innen bringen und diese darin einbinden. Das Wahlkreisbüro, das ich meine, gibt es noch nicht lange. Der_die Abgeordnete, der_die es eingerichtet hat, arbeitet nicht im Bundestag in Berlin und auch nicht im Landtag in Düsseldorf, München oder Schwerin. Sein_ihr Parlament befindet sich in New York oder einer anderen großen Weltstadt. Es ist das Parlament der Menschheit, in dem Vertreter*innen der Bürger*innen aus allen Ländern dieser Erde zusammenkommen und gemeinsam über die globalen Herausforderungen unserer Zeit beraten. Ich frage mich: Ist das nur ein Wunschtraum oder könnte es irgendwann Wirklichkeit sein?

Die Vereinten Nationen in der Demokratiekrise

Ein Blick zurück in die Gegenwart. In diesem Jahr zelebrieren die Vereinten Nationen den 75. Jahrestag ihrer Gründung. „Die Zukunft, die wir wollen, die Vereinten Nationen, die wir brauchen: Wir bekräftigen unser gemeinsames Bekenntnis zum Multilateralismus“ ist das Motto von 2020. Das Jahr gibt nicht nur Anlass zu Erinnerung, sondern auch einen Ansatzpunkt, um nach Antworten auf die großen Fragen um die Zukunft der Vereinten Nationen (UN) zu suchen. Die Reformdiskussionen kreisen vornehmlich um die Umgestaltung des UN-Sicherheitsrats, dessen Zusammensetzung ein längst vergangenes politisches Szenario reflektiert. Die Debatte ist wichtig, sie greift aber zu kurz. Damit die Vereinten Nationen den globalen Herausforderungen gerecht werden können, müssen sie insgesamt transparenter, unbedingt handlungsfähiger, aber auch – und gerade – bürger*innennäher werden.

Immer mehr Probleme und Fragen verlangen nach globalen Antworten. Der Bedeutungsgewinn der internationalen Politbühne ist indes nicht mit den erforderlichen demokratischen Reformen einhergegangen. Demokratische Beteiligung findet, mit Ausnahme des Europäischen Parlaments, unverändert auf nationaler Ebene statt. So ist es auch in der UN-Generalversammlung, die primär den Willen der Staaten zum Ausdruck bringt. Als Folge dieser diskrepanten Entwicklung kranken die Vereinten Nationen an einem tragschweren Legitimationsdefizit, welches durch eine schwindende Akzeptanz der internationalen Zusammenarbeit oder gar aktive Proteste zum Ausdruck kommt. Kritiker der Forderungen nach einer Demokratisierung der internationalen Ordnung werden einwenden, dass bereits hinreichende Legitimationsketten existieren. Diese sind jedoch faktisch derart lang und für die Wähler*innen so intransparent, dass von einer echten demokratischen Willensbildung und Einflussnahme innerhalb des intergouvernementalen Systems der VN kaum gesprochen werden kann. Die Legitimationskette ist auf der internationalen Ebene kaum mehr als ein theoretisches Konstrukt.

Der Mensch als Rechtssubjekt im Völkerrecht

Die Forderung nach einer globalen Vertretung der Bürger*innen dieser Welt fußt nicht allein auf politischen Erwägungen. Das Demokratiegebot ist auch ein völkerrechtliches Grundprinzip als „Ausdruck der Stellung des Menschen als obersten Bezugspunkt des Völkerrechts“ (vgl. Frithjof Ehm, Das völkerrechtliche Demokratiegebot, S. 282). Seit der Gründung der Vereinten Nationen hat das völkerrechtliche Verständnis von Rechtssubjektivität einen beträchtlichen Wandel durchlaufen. Waren es 1945 noch im Wesentlichen die Staaten, welche auf internationaler Ebene Träger von Rechten und Pflichten waren, wird heutzutage auch das Individuum in bestimmten Bereichen des Völkerrechts als Rechtssubjekt, ja, sogar als die primäre, natürliche Völkerrechtsperson angesehen. Einzelpersonen können heute selbst die Verletzung von Menschenrechten vor internationalen Gerichten und Gremien geltend machen. Ebenso können sie zur Verantwortung gezogen werden, wenn sie Verbrechen begehen, die unter das Völkerstrafrecht fallen. Auch der Zivilgesellschaft als solcher kommt heutzutage ein ungleich höherer Stellenwert zu als unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg. So ist es vor allem zivilgesellschaftlichen Akteuren zu verdanken, dass sich Politikbereiche wie die Menschenrechte, der Klimawandel, die Gleichberechtigung der Geschlechter und der Umweltschutz zu zentralen Handlungsfeldern der Vereinten Nationen entwickelt haben. Es ist an der Zeit, die Menschen auch an den globalen Entscheidungsprozessen gleichberechtigt zu beteiligen, als eigenständige Stimmen, ohne die Zwischenschaltung von staatlichen Vermittlern. Dieser Gedanke, so visionär, vielleicht gar utopisch er heutzutage vielen erscheinen mag, findet seine ideengeschichtlichen Wurzeln in einem Zeitraum, der lange vor Beginn der Globalisierung liegt.

Das Weltparlament: Eine Vision mit langer Tradition

Der Traum von einer globalen Vertretungsinstanz für alle Menschen reicht bis in die Antike zurück, fand aber insbesondere in der Neuzeit vermehrt öffentliche Erwähnung. Wie Andreas Bummel und Jo Leinen in ihrem Buch „Das demokratische Weltparlament. Eine kosmopolitische Vision“ schildern, waren es in Deutschland unter anderen Johann Baptist Sartorius und Georg Jellinek, die sich Formen einer internationalen parlamentarischen Versammlung vorstellten, noch lange bevor der Völkerbund als erste internationale Staatenversammlung 1919 ins Leben gerufen wurde. Der Staatsrechtler Sartorius veröffentliche 1837 einen Entwurf von einer repräsentativen Völkerrepublik der Menschheit, „deren Gesetzgebung von einem Senat besorgt werden wird“, der, um „die Wahl leicht übersehbar, bündig und schnell zu machen“, von der Weltbevölkerung über Wahlkollegien gewählt werden solle (Leinen/Bummel, S. 28). Auch für den Völkerrechtler Jellinek (1851-1911) bestanden keine Zweifel daran, dass die parlamentarische Repräsentation ein Element der internationalen Ordnung sein sollte, dass also „zur Feststellung der gemeinsamen Normen den Vertretern der Regierungen Volksvertreter, etwa Abgeordnete der Parlamente der Vertragsstaaten, an die Seite gesetzt werden“ sollten (Jellinek, Die Lehre von den Staatenverbindungen, 1982, S. 186).

Die Idee einer globalen Parlamentarierversammlung wurde auch schon einmal von einer deutschen Regierung vorgebracht – vor nunmehr über 100 Jahren, im Jahr 1919, unter dem Eindruck des Ersten Weltkrieges und dem Einfluss der Friedensbewegung. Der deutsche Entwurf des Kabinetts von Philipp Scheidemann sah für die Satzung des Völkerbundes die Schaffung eines Weltparlamentes vor. Dieses sollte zunächst aus Vertreter*innen der nationalen Parlamente der Mitgliedsstaaten zusammengesetzt werden, um sich sodann selbstständig neu zu konstituieren. Die Umsetzung des Vorschlages scheiterte jedoch an den Vorbehalten der übrigen Regierungen. Aus dem ersehnten Projekt eines Bundes der Völker wurde eine Liga der Staaten. Die Idee eines direkt gewählten Weltparlaments war ihrer Zeit zu weit voraus.

Gegenwärtige Ansätze für die Bildung eines Weltparlaments

Mittlerweile aber hat der Zeitgeist aufgeholt. Zahlreiche zivilgesellschaftliche Initiativen engagieren sich dafür, den Bürger*innen dieser Welt eine stärkere Stimme zu verleihen und sich aktiv in globale Entscheidungsprozesse einbringen zu können. Die Nichtregierungsorganisation Democracy without borders engagiert sich seit 2003 für die Schaffung einer United Nations Parliamentary Assembly (UNPA) als ein Korrektiv zur nationalen Machtpolitik der Staaten. Ein solches Parlament könnte zunächst eine einfache Beratungsfunktion übernehmen und mit der Zeit zu einer echten parlamentarischen Vertretung mit Informations-, Kontroll- und Mitwirkungsrechten erwachsen – eine Entwicklung, wie sie bereits das Europäische Parlament vollzogen hat.

Darüber, wie die Beteiligung der Zivilgesellschaft konkret aussehen kann, existieren im Einzelnen verschiedene Denkmodelle, deren Realisierung am Ende vom Konsensus der internationalen Staatengemeinschaft abhängig ist. Grundsätzlich denkbar, aber praktisch hürdenreich wäre die Einrichtung eines weiteren Hauptorgans der Vereinten Nationen. Dazu müsste allerdings die UN-Charta geändert werden, wozu es gemäß Art. 108 UN-Charta einer Zweidrittelmehrheit in der Generalversammlung sowie der Ratifizierung von zwei Dritteln der UN-Mitgliedsstaaten, einschließlich der fünf ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates, bedarf.

Diskutiert wird auch die Gründung einer eigenständigen internationalen Organisation durch den Abschluss eines neuen völkerrechtlichen Vertrages. Dieser müsste indes, um in Kraft treten zu können, zunächst von einer bestimmten Anzahl von Staaten ratifiziert werden. Das völkervertragsrechtlich separate Gremium könnte dann auf der Grundlage einer Kooperationsvereinbarung mit den Vereinten Nationen zusammenarbeiten. Anstelle einer Neugründung wird auch die Integration der Interparlamentarischen Union (IPU) als „parlamentarischer Arm“ in das UN-System erwogen. Bei der IPU handelt es sich um eine internationale Organisation, die 1889 von Parlamentariern und überzeugten Weltbürgern als internationales Dialogforum gebildet wurde und seit 2002 eine Beobachterstatus bei der UN-Generalversammlung innehat.

Pragmatischer erscheint gegenüber diesen Vorschlägen der Ansatz, eine parlamentarische Versammlung als Nebenorgan der Generalversammlung einzurichten, wofür gemäß Art. 22 UN-Charta lediglich eine einfache Mehrheit innerhalb des Gremiums ausreichen würde. Wäre der politische Wille vorhanden, könnte ein solcher Schritt schon bald gemacht sein.

Vorschläge zur Zusammensetzung

Die Delegierten des Weltparlaments könnten entweder von den Parlamenten der UN-Mitgliedsstaaten entsandt oder durch Direktwahl von den Bürgern der Mitgliedsstaaten bestimmt werden. Für eine Versammlung, die sich aus Abgeordneten der nationalen Parlamente zusammensetzt, existieren bereits mehrere Vorbilder, die beispielgebend herangezogen werden können, wie die Parlamentarische Versammlung des Europarates, das Panafrikanische Parlament und die Parlamentarische Versammlung der OSZE.

Die Alternative zur Entsendung der Delegierten durch die nationalen Parlamente ist die Direktwahl. Dieser Vorschlag hätte den Vorteil, dass das Weltparlament personell vollständig unabhängig von den nationalen Parlamenten wäre. Bürger*innen könnten sich überall auf der Welt aktiv an der Zusammensetzung des Weltparlaments beteiligen, die Parlamentarier*innen wären ihnen unmittelbar rechenschaftspflichtig. Damit ist die Hoffnung verbunden, dass das Gefühl der Beteiligung ungleich höher wäre als bei der Entsendung von Parlamentariern aus nationalen Parlamenten. Die Befürworter eines solchen Modells betonen darüber hinaus, dass die Direktwahl der Abgeordneten auch in autokratischen Regierungssystemen einen Beitrag zur Förderung der Demokratie leisten könnte.

Ein Weltparlament sollte jedenfalls nicht nach dem Grundsatz des „One state, one vote“, der die Zusammensetzung der UN-Generalversammlung bestimmt, zusammengesetzt werden. Nach diesem Prinzip steht den über eine 1,3 Milliarden Einwohnern von China ebenso eine Stimme zu wie den 600.000 Luxemburgern. Aufgrund der gigantischen Unterschiede zwischen den Bevölkerungszahlen wäre es durch Zusammenschluss aller kleineren Staaten praktisch möglich, dass eine zwei-Drittel-Mehrheit für wichtige Entscheidungen zu Stande käme, welche indes nur einen Bruchteil der Weltbevölkerung abbildet. Eine parlamentarische Versammlung müsste der Bevölkerungsstärke eines jeden Landes Rechnung tragen. Auch hier können die genannten internationalen Parlamente als Beispiele fungieren, wie die Anzahl der Abgeordneten einerseits proportional zur Bevölkerungszahl und andererseits zueinander verhältnismäßig bestimmt werden kann.

Eine realistische Zukunftsperspektive?

Ich stelle fest: Tatsächlich scheinen wir der Einrichtung eines Parlaments der Menschheit näher zu sein als jemals zuvor – wenn nur die nationalen Staats- und Regierungschefs Bereitschaft zeigen und sich den Demokratisierungsbestrebungen nicht länger verschließen. Seit einigen Jahren erhalten die zivilgesellschaftlichen Initiativen Rückendeckung aus internationalen Politforen. Das Lateinamerikanische Parlament und das Panafrikanische Parlament haben die Einrichtung einer parlamentarischen Versammlung bei den Vereinten Nationen begrüßt. Zuletzt hat das Europäische Parlament im Juli 2018 die EU-Staaten dazu aufgerufen, die Einrichtung einer UNPA zu unterstützen „in order to increase the democratic character, the democratic accountability and the transparency of global governance and to allow for better citizen participation in the activities of the UN“ (2018/2040(INI)). Viele tausend Einzelpersonen aus Politik, Wissenschaft und Kultur unterstützen das Vorhaben. Auch im Bundestag haben Abgeordnete bereits 2004 und 2005 fraktionsübergreifend für eine Einbeziehung von Parlamentariern in die Arbeit der Vereinten Nationen plädiert. Zu den Unterzeichner*innen gehörte auch die damalige Anwärterin auf das Amt der Bundeskanzlerin, Dr. Angela Merkel. Der 75. Jahrestag der Vereinten Nationen wäre ein geeigneter Anlass, die Einrichtung eines echten, demokratischen Weltparlaments endlich Wirklichkeit werden zu lassen. Die Bundesregierung könnte zu einem Wegbereiter werden in diesem zukunftsweisenden Prozess. In unserer heutigen Zeit, in der allerorten nationalistische und autokratische Tendenzen die politischen Entwicklungen prägen, gäbe es wohl kaum ein stärkeres Signal für Demokratie, internationale Zusammenarbeit und, mehr noch, für globalen Zusammenhalt.


SUGGESTED CITATION  Klimke, Romy: Ein Parlament der Menschheit: Warum die Bundesregierung die Bildung einer parlamentarischen Versammlung bei den VN unterstützen sollte, VerfBlog, 2020/2/27, https://verfassungsblog.de/ein-parlament-der-menschheit/, DOI: 10.17176/20200227-101139-0.

8 Comments

  1. Thomas Streit Thu 27 Feb 2020 at 13:30 - Reply

    Die Abschaffung der “one state one vote” Regelung ist zutiefst undemokratisch und kann daher nicht von den Vereinten Nationen beschlossen werden. Abgesehen gibt es – außerhalb von Anhängern der sog. “Zivilgesellschaft” – glücklicherweise auch keinen politischen Willen dies zu tun.

    Damit erledigen sich die weiteren Ausführen von selbst. Ein Parlament der Menschheit darf und wird es glücklicherweise niemals geben.

  2. Richard Maxheim Thu 27 Feb 2020 at 16:17