05 March 2024

Ein stabiles Parlament (auch) für Europa

Das Bundesverfassungsgericht billigt die deutsche Zustimmung zur europäischen Sperrklausel

Die (Wieder-)Einführung der Sperrklausel bei den Wahlen des Europäischen Parlaments (EP) in Deutschland hat eine wichtige Hürde genommen: Das Bundesverfassungsgericht steht einer unionsrechtlich verbindlich vorgegebenen Zwei-Prozent-Sperrklausel nicht im Weg. Anträge der Partei DIE PARTEI und ihres Vorsitzenden gegen die Zustimmung Deutschlands zu einer verbindlichen Sperrklausel im EU-Direktwahlakt (DWA) verwarf das Gericht in seinem Beschluss vom 6.2.24 mangels hinreichender Begründung eines Eingriffs in die deutsche Verfassungsidentität als unzulässig. Und das lag nicht nur am begrenzten Prüfungsmaßstab des Gerichts. Der von der Zustimmung der Mitgliedstaaten abhängigen Reform des DWA sollte nun von deutscher Seite nichts mehr in die Quere kommen.

Ein „gleichwertiges“ Parlament

Das Europäische Parlament hat eine einflussreiche Rolle im europäischen demokratischen System. Die Fähigkeit, diese Rolle gegenüber anderen EU-Organen – insbesondere seinem Ko-Gesetzgeber, dem Rat – effektiv wahrzunehmen, kann die Einführung einer Sperrklausel rechtfertigen. So lässt sich die jüngste Entscheidung des Zweiten Senats in der EU-Sperrklausel-Saga verkürzt zusammenfassen.

Diese Darstellung der Rolle des EP durch das BVerfG ist neu. In den Entscheidungen zur EP-Sperrklausel von 2011 und 2014 lehnte das BVerfG ab, unter Anwendung des Maßstabes aus seiner Rechtsprechung zur Prozenthürde bei Bundestagswahlen, dass eine Beeinträchtigung der Wahlgleichheit und Chancengleichheit der Parteien durch die Sperrklausel aufgrund des Schutzes der Funktionsfähigkeit des EP gerechtfertigt werden könne. Begründet wurde das unter anderem mit der – im Vergleich zum Bundestag – anderen, zurückgenommenen Aufgabenstellung des EP (Art. 14 Abs. 1 EV). „Typische“ Parlamentsaufgaben insbesondere im Verhältnis zur „Unionsregierung“, der Kommission, fehlten dem EP. Zwar wähle es die Kommissionspräsidentin (auf Vorschlag des Rats). Diese sei aber auf die Organisation stabiler Mehrheiten im Parlament nicht angewiesen. Auf die Funktionsfähigkeit und Stabilität des EP komme es verkürzt gesagt mangels Aufgaben nicht so sehr an, dass diese eine Sperrklausel rechtfertigen könnten. Das EP sei eben nicht wie der Bundestag.

An den in den Verträgen aufgeführten Aufgaben des EP hat sich seit dem Lissabon-Vertrag bis heute nichts geändert. Auch auf die faktische Stärkung des EPs angesichts der gesteigerten Menge und Bedeutung von Sekundärrecht und dem gesteigerten Interesse an Europawahlen, geht das Gericht nicht ein. Dennoch liest sich die Schilderung der Funktionen des Europäischen Parlaments in der aktuellen Entscheidung ganz anders als noch 2011 und 2014. Das BVerfG widmet den Bedingungen der Handlungsfähigkeit des EP im Rahmen seiner bestehenden Aufgaben einige Absätze. Das EP erscheint als gleichberechtigter Player neben den anderen EU-Organen, der für eigene Positionen einsteht. Allein die Wahrnehmung der eigenen seit dem Lissabon-Vertrag unverändert in den Verträgen definierten Aufgaben erfordere aber, dass sich stabile Fraktionen und Mehrheiten im EP bildeten – was die Einführung einer Sperrklausel grundsätzlich rechtfertigen könne. Mit anderen Worten: Das EP ist – auch in den Augen des BVerfG – wichtig genug (geworden) für eine Sperrklausel.

Ein Gebot der politischen Stunde

Wenn sich auch keine „handfesten“ Kompetenzen des Parlaments seit den letzten Sperrklausel-Entscheidungen verändert haben, so jedenfalls aber die politische Prognose für Europa. 2011 bezeichnete das BVerfG die Annahme,dass der Einzug weiterer Parteien ins EP die Fraktionsbildung und -arbeit erschweren könne, noch als „überzeichnet” (Rn. 109). Die Fraktionen seien in der Lage, die Mitglieder aus rund 200 verschiedenen Parteien – trotz parteipolitischer und mitgliedstaatlicher Differenzen – zu bündeln und so für ein kompromiss- und arbeitsfähiges, geschlossenes Parlament zu sorgen. 2024 ist die Prognose zur integrativen Kraft der Fraktionen im EP eine andere: Auch das Europäische Parlament ist mit einer zunehmenden Diversifizierung der Parteienlandschaft und einem Rechtsruck konfrontiert. So erwartet auch das BVerfG eine „zunehmende Vertiefung der Differenzen in den grundsätzlichen Anschauungen der Fraktionen zum Zweck und zur Berechtigung des Voranschreitens der europäischen Integration, was die Konsensbildung zusätzlich erschweren dürfte” (Rn. 17). Demokratische Mehrheiten lassen sich, so die Prognose, zukünftig im EP zunehmend schlecht organisieren. Anders als 2011 und 2014 erkennt das BVerfG in der gegenwärtigen politischen Lage eine tatsächlich drohende Funktionsbeeinträchtigung des Parlaments. Nicht zu Unrecht! Das BVerfG zeigt sich als Hüter des Europäischen Parlaments, in einer Zeit, in der der Schutz von Parlamenten und ihrer Funktionsfähigkeit ein Gebot der Stunde ist.

Kein deutscher Sonderweg

Seine gewandelte Auffassung von den Funktionsbedingungen des EP und der Verfassungskonformität einer EU-Sperrklausel lässt das BVerfG schließlich durchblicken, wenn es selbst vor einem deutschen „Sonderweg” bei der EU-Sperrklausel warnt und sich dabei den kategorischen Imperativ zu eigen macht, den Di Fabio, Mellinghoff und Müller bereits vor 13 bzw. 10 Jahren in abweichenden Meinungen den EU-Sperrklausel Entscheidungen entgegenhielten:„Jeder Mitgliedstaat ist dazu angehalten, die Anforderungen an die Strukturen des Wahlrechts in einer Weise auszugestalten, dass sie zugleich Maxime für die Wahl des gesamten Europäischen Parlaments sein können.” Auffallend – waren doch die Sperrklauseln zuletzt am Gericht gescheitert. Dass die Sperrklausel nun von europäischer Seite verbindlich vorgegeben werden soll, ist durchaus als Reaktion auf das Scheitern der Hürde in Deutschland zu verstehen. 2011 und 2014 hatte das BVerfG explizit darauf hingewiesen, dass eine verbindliche unionsrechtliche Regelung den eigenen Prüfungsmaßstab reduzieren – und sein Prüfergebnis verändern – könnte. Der Zweite Senat zeigt sich mit seiner expliziten Warnung vor einem deutschen Sonderweg bei der Sperrklausel, dessen Konsequenzen alle Mitgliedstaaten zu tragen hätten (Rn. 126), nun betont integrationsfreundlich. Die Bundesrepublik ist allerdings auch mit der Zustimmung zur DWA-Reform von 2018 spät dran: auf Platz 26 von 27. Mit Ausnahme Spaniens haben alle anderen Mitgliedsstaaten bereits zustimmt.

Die jetzige Entscheidung ist ein wichtiges Zeichen in Richtung des Europäischen Gesetzgebers. Dieser bereitet bereits eine Verordnung vor, mit der das EU-Wahlrecht grundlegend weiter harmonisiert wird, u. a. durch transnationale Listen und eine unionsweite Sperrklausel von 3,5 %. Die Beurteilung des Gerichts, ob durch die verbindliche europäische Sperrklausel die deutsche Verfassungsidentität verletzt wird, sollte daher bei 1,5 zusätzlichen Prozentpunkten nicht anders ausfallen. Die Angleichung der wahlrechtlichen Bedingungen demokratischer Repräsentation in den Mitgliedstaaten (Rn. 98, 125) könne, so erklärt der Zweite Senat außerdem in der aktuellen Entscheidung, neben dem Interesse an der parlamentarischen Funktionsfähigkeit eine Sperrklausel rechtfertigen. Das dürfte als Prinzip dann auch für eine etwaige Verfassungsidentitätsprüfung der Einführung einer transnationalen Zweitstimme durch die geplante Verordnung gelten.

Noch keine Sperrklausel bei den EP-Wahlen im Juni 2024

Der Weg scheint nun frei dafür zu sein, dass der Bundespräsident das Zustimmungsgesetz ausfertigt, der dies bisher ausgesetzt hatte (dazu näher Sauer). Bevor allerdings der Bundestag die Sperrklausel mit einer Änderung des EuWG umsetzt, wird noch Spanien der DAW-Reform zustimmen müssen. Angesichts der Ausführungen zum erforderlich (gewordenen) Schutz der Funktionsfähigkeit des Parlaments und dem in der deutschen Integrationsverantwortung begründeten Auftrag zur Angleichung des deutschen EuWG an die unionsweiten wahlrechtlichen Bedingungen dürfte sich der deutsche Gesetzgeber ermutigt fühlen: Eine 2 %-Hürde scheint sicher vor dem BVerfG. Bei ihm könnte nach diesem Urteil sogar der Eindruck entstehen, die Funktionsfähigkeit des EP könne auch die Festsetzung (im Umsetzungsspielraum) einer höheren Hürde rechtfertigen.

Bei den kommenden Wahlen im Juni wird es allerdings noch keine Prozenthürde in Deutschland geben. Martin Sonneborn hat also noch einmal eine Chance, ins EP einzuziehen – jedenfalls an einer Sperrklausel wird dies nicht scheitern.


SUGGESTED CITATION  Grundmann, Jonas; Mittrop, Johanna: Ein stabiles Parlament (auch) für Europa: Das Bundesverfassungsgericht billigt die deutsche Zustimmung zur europäischen Sperrklausel, VerfBlog, 2024/3/05, https://verfassungsblog.de/ein-stabiles-parlament-auch-fur-europa/, DOI: 10.59704/5836fd4a267cd516.

One Comment

  1. Lasse Ramson Mon 25 Mar 2024 at 14:04 - Reply

    Vielen Dank für den lesenswerten Beitrag!
    Ich würde euch zustimmen, dass die Tendenz des BVerfG, das EP nicht mehr als Parlament zweiter Klasse zu disqualifizieren, begrüßenswert ist.
    Ob das Gericht damit zum Parlamentsschützer wird, halte ich aber nach wie vor für fraglich. Ob die schwache empirische Basis zum Funktionsverlust gerade angesichts der etablierten „Vielfalt in Einheit“ des EP ausreicht, um derart schwerwiegende Beschränkungen der Wahlrechtsgrundsätze zu rechtfertigen, ist hier vielleicht noch fraglicher als im nationalen Recht.
    Insofern würde ich mir wünschen, dass der DWA in Hinblick auf diesen Aspekt stärker hinterfragt würde. Auch wenn Karlsruhe dafür sicherlich ohnehin nicht das richtige Forum ist.

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