Vorzeichenwechsel im Europawahlrecht
Zur neuen unionsrechtlich vorgegebenen Sperrklausel bei der Wahl des Europäischen Parlaments
Der Bundestag hat am 15. Juni einer Sperrklausel für die Wahlen zum Europäischen Parlament (EP) zugestimmt. Kurz vor der Sommerpause schloss sich auch der Bundesrat an. Der deutsche Gesetzgeber unternimmt auf ein Neues, womit er schon zweimal vor dem Bundesverfassungsgericht gescheitert ist. Dieses Mal hat der deutsche Gesetzgeber bei der Einführung der Sperrklausel einen verbindlichen EU-Rechtsakt im Rücken. Damit geht allerdings einher, dass die Sperrklausel nun (auch verfassungsgerichtlich) mit allen Konsequenzen als determiniertes Unionsrecht behandelt werden muss. Doch auch eine 2 %-Hürde ist nicht zu 100% sicher vor dem BVerfG.
European turn bei der EU-Sperrklausel
Bisher hat das BVerfG eine 5%- (2011) und eine 3%-Hürde (2014) bei den Europawahlen für verfassungswidrig erklärt. Die Ungleichbehandlungen i. S. v. Art. 3 Abs. 1 und Art. 21 Abs. 1 GG könnten angesichts der im Vergleich mit dem Bundestag nur eingeschränkten parlamentarischen Funktionen des EP nicht mit dem Argument der verbesserten parlamentarischen Funktionsfähigkeit des EP gerechtfertigt werden.
Die neue Hürde bei der Europawahl geht auf die Reform des Direktwahlaktes (DWA) zurück, die der Rat der Europäischen Union mit Zustimmung des EP bereits 2018 beschlossen hat. Die Reform verpflichtet zur Einführung einer Sperrklausel von „nicht weniger als 2 % und nicht mehr als 5%“ in Mitgliedstaaten, in denen nach Listen gewählt wird und mehr als 35 Sitze vergeben werden – also u.a. in der Bundesrepublik. Mehr als die Hälfte der Mitgliedstaaten hat übrigens bereits eine Sperrklausel. Der Reform hat der Gesetzgeber nun pauschal zugestimmt und daran mitgewirkt, Unionsrecht zu schaffen, das mit seiner Vorrangwirkung auch nicht vor deutschem Verfassungsrecht haltmacht. Darauf kommt es entscheidend an, denn im Bereich der verbindlichen Vorgaben des EU-Rechts zur Sperrklausel entfällt so künftig grundsätzlich die Kontrolle ihrer Verfassungskonformität. Dreh- und Angelpunkt der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit der Sperrklausel sind künftig nicht mehr primär Art. 3 Abs. 1 GG, die Wahlrechtsgleichheit, und Art. 21 Abs. 1 GG, die Chancengleichheit der Parteien, sondern Art. 23 Abs. 1 GG (i. V. m. Art. 79 Abs. 3): die Mitwirkung der Bundesrepublik an der Europäischen Integration.
Höhe der Sperrklausel
Dass nun eine Sperrklausel kommt, ist so gut wie sicher (vorausgesetzt auch Zypern und Spanien stimmen der DWA-Reform bald zu). Auf die Höhe der Sperrklausel, die jetzt für die übernächste EP-Wahl ins Europawahlgesetz (EuWG) aufgenommen werden muss, hat sich der deutsche Gesetzgeber allerdings noch nicht festgelegt.
Der reformierte DWA ist nicht neutral gegenüber der Höhe der Sperrklausel. Vielmehr gibt er die Einführung einer Sperrklausel von „nicht weniger als 2 %“ zwingend vor. Gleichzeitig darf sie 5 % nicht überschreiten (was für das deutsche Wahlrecht nicht relevant sein sollte). Eine höhere Hürde als 2% (und nicht mehr als 5 %) festzusetzen, liegt im Umsetzungsspielraum der Mitgliedstaaten. Dies berührt aber nicht die Umsetzungspflicht zur Einführung einer Sperrklausel von (mind.) 2 % (und das Verbot einer Sperrklausel > 5 %). Anders als im Bereich der verbindlichen Vorgaben des Unionsrechts verdrängt der Vorrang des Unionsrechts die Prüfung der Verfassungskonformität im Umsetzungsspielraum nicht (s. BVerfGE 152, 152 – Recht auf Vergessen I; so auch EuGH, C-399/11 – Melloni). Eine Sperrklausel > 2 % läge demnach zwar im Umsetzungsspielraum, könnte aber gemäß der Rechtsprechung des BVerfG erneut einer Überprüfung an Art. 3 Abs. 1 GG und Art. 21 Abs. 1 GG unterzogen werden. Solch eine Hürde stünde also weiterhin auf höchst unsicheren Füßen.
Sind 2% schon zu viel?
Der Vorrang des Unionsrecht ist bekanntlich nach deutscher Verfassungsrechtsprechung nicht unbegrenzt. In den Kern der deutschen Verfassungsidentität darf er nicht vordringen. Würden die 2 % an der Identitätskontrolle scheitern, könnte auch die verfassungsändernde Mehrheit im Bundestag und Bundesrat die Hürde nicht retten. Diese käme nicht an Art. 79 Abs. 3 GG vorbei. Ob eine 2 %-Hürde die Verfassungsidentität in Form der Unantastbarkeit des Demokratieprinzips verletzt, sei hier nur kurz angerissen: Der Kern des Demokratieprinzips ist durch eine 2%-Hürde nicht betroffen. Die im Prinzip gleiche demokratische Einflussnahme auf die Zusammensetzung des EP ist durch die Sperrklausel nicht per se in Gefahr. Die Wahlgleichheit wird nicht abgeschafft oder in einem Maße beeinträchtigt, das sie faktisch aushöhlen würde, sondern nur in überschaubaren Maß eingeschränkt. Tatsächlich besteht im Übrigen schon jetzt in Deutschland allein aufgrund des Verhältnisses von Sitzen zur Anzahl abgegebener Stimmen eine signifikante rechnerische 0,5 %-Mindestschwelle für den Einzug einer Partei.
Außerdem ist grundsätzlich zu fragen, ob die deutsche Verfassungsidentität der Einschätzung des immerhin direkt gewählten EP entgegenzuhalten ist. Dieses beruft sich selbst auf die Sperrklausel als Mittel zum Schutz ordnungsgemäßer parlamentarischer Arbeitsweise (vgl. Entschließung des EP. 11.11.2015, Erwäg. R) und begründet die unionsrechtliche Vorgabe einer Sperrklausel zudem mit der Förderung „gleicherer Wahlbedingungen“ in den Mitgliedstaaten (Beschlussempfehlung des EP, 2.7.2018, S. 7/9). Das EP ist mit der Aktivierung von Art. 223 Abs. 1 AEUV durch die DWA-Reform gemeinsam mit dem Rat selbst mit der Regelung des Wahlrechts befasst. Es hat damit auch eine Kompetenz, für seine eigene Funktionsfähigkeit zu sorgen.
In jedem Fall müsste das BVerfG, bevor es die Verfassungsidentität für verletzt ansieht, zunächst den EuGH im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens anrufen (BVerfGE 126, 286 – Honeywell; E 134, 366 – OMT-Vorlagebeschluss).
Das wahlrechtliche Recht-auf-Vergessen-III?
So weit, so einfach. Sowohl aus unionsrechtlicher als auch aus verfassungsrechtlicher Sicht sind die 2% nicht in Gefahr. Doch hat der erste Senat des BVerfG zuletzt in seiner Recht-auf-Vergessen-II-Entscheidung einen Weg gefunden, in unionsrechtlich volldeterminierten Bereichen auch außerhalb der Identitätskontrolle weiter mitzureden. Anstelle der durch den Vorrang des verbindlichen Unionsrechts ausgeschlossenen Prüfung anhand des Grundgesetzes, macht das BVerfG sich nun die Unionsgrundrechte zu eigen und überprüft Maßnahmen anhand dieser. Dem Grunde nach funktioniert das auch im Wahlrecht. Anstelle einer Prüfung der Sperrklausel an Art. 3 Abs. 1 GG müsste sich das BVerfG nach einem äquivalenten Schutz der Wahlgleichheit im Primärrecht umsehen. In der Überprüfung der im EuWG geregelten Sperrklausel an Unionsrechten läge allerdings eine bemerkenswerte Ausdehnung der Recht-auf-Vergessen-II-Rechtsprechung: Im Gegensatz zur Ursprungsrechtsprechung würde hier nicht die Überprüfung von fachgerichtlichen Entscheidungen anhand der Unionsgrundrechte vorgenommen, sondern über die Kassation eines Umsetzungsgesetzes wegen eines möglichen Verstoßes gegen Unionsrechte verhandelt. Würde das Gericht jedoch auf der Suche nach einer unionsrechtlich garantierten Wahlgleichheit überhaupt fündig werden?
Entscheidend ist hier, dass es nicht auf einen 1:1-Gleichlauf der grundgesetzlichen und unionsrechtlichen Wahlgleichheit ankommt – sonst stieße man schnell an seine Grenzen. Eine unionsweite, streng formale Gleichheit der Wahl kann es angesichts der primärrechtlich vorgesehenen degressiven Proportionalität der Sitzverteilung (Art. 14 Abs. 2 Satz 3 EUV) kaum geben. Eine unionsrechtliche Wahlgleichheit, die auch das BVerfG anwenden könnte, muss allerdings auch nur funktional der grundgesetzlichen Wahlgleichheit entsprechen. Funktionale Gleichheit bedeutet gerade, dass die Besonderheiten der Europäischen Union berücksichtigt werden können. In einer als Verfassungsverbund aufgebauten Union entsprechen die unionsrechtlichen Grundrechte nicht immer genau denen aller verschiedenen nationalen Verfassungen.
Gibt es also ein funktionales Äquivalent? Auch auf Unionsebene würde eine unionsrechtliche Wahlgleichheit grundsätzlich für das gleiche Gewicht der einzelnen Stimmen sorgen – und ist doch gleichzeitig schon in ihrer Definition auf Primärrechtsebene durch die föderalen Belange der Union begrenzt (s. Art. 14 Abs. 2 Satz 3 EUV). Auf die unionsrechtliche Wahlgleichheit wirkt sich der sui generis Charakter der EU besonders aus, betrifft sie doch gerade mit der Wahl des Parlaments einen Kernbestandteil des politischen Systems der Union. Dass dieses anderen Maßstäben folgt als die Demokratie unter dem Grundgesetz, hat u. a. das BVerfG in seiner Lissabon-Entscheidung herausgearbeitet. Die Funktion der Wahlgleichheit nach dem Grundgesetz wie nach dem Unionsrecht ist dennoch gleich: Sie dient der Absicherung des (systemimmanent unterschiedlich definierten) demokratischen Charakters der Wahl.
Dennoch ist nicht offensichtlich, wo eine spezifische unionsrechtliche Wahlgleichheit, an der die Sperrklausel zu messen wäre, überhaupt im Primärrecht verankert ist. Art. 39 Abs. 2 GRCh schützt dem Wortlaut nach nicht die Gleichheit der Wahl. Das Grundrecht wäre teleologisch zu ergänzen oder es müsste auf die allgemeine Gleichheit vor dem Gesetz nach Art. 20 GRCh zurückgegriffen werden. Auch die gemeinsame Verfassungsüberlieferung der Mitgliedstaaten könnte die Wahlgleichheit auf Unionsebene grundrechtlich fixieren. Nicht zuletzt ist auch Art. 3 1. ZP-EMRK zu berücksichtigen, an dessen Gleichheitsgehalt der EGMR schon Sperrklauseln geprüft hat (Zulässigkeit einer 5%-Hürde: EGMR Partija „Jaunie Demokrati“ und Partija „musu Zeme“/Lettland; Zulässigkeit einer 10%-Hürde: EGMR Yumak u. Sadak/Türkei). Schließlich fragt sich, ob die unionsrechtliche Wahlgleichheit womöglich in der demokratischen Gleichheit nach Art. 9 EUV verbürgt ist (für diese Idee sei auf die Dissertation von Sophie Jendro, in Vorbereitung, verwiesen). Würde das BVerfG allerdings Art. 9 EUV direkt als funktionales Äquivalent heranziehen, würde dies eine Ausdehnung seiner Recht-auf-Vergessen-II-Rechtsprechung darstellen, indem es nicht nur auf die Unionsgrundrechte, sondern auch auf die primärrechtlich garantierten Grundwerte/Grundprinzipien abstellen würde.
Auch hier gilt: Im Alleingang könnte das BVerfG allerdings nicht das Unionsrecht auslegen, sondern müsste zunächst den EuGH anrufen und nach einer Definition der unionsrechtlichen Wahlrechtsgleichheit fragen. Wäre das BVerfG dann weiterhin der Auffassung, eine unionsrechtliche Wahlrechtsgleichheit bliebe hinter dem nach dem Grundgesetz erforderlichen Schutz zurück, ließe ihm das letztendlich doch nur die Verfassungsidentitätskontrolle übrig (deren Voraussetzungen hier jedoch wohl nicht erfüllt sind, s.o.).
Europäische Maßstäbe für eine zunehmend europäische Wahl
Mit zunehmender Vereinheitlichung des Wahlrechts zum EP müssen die Besonderheiten des demokratischen Systems der Union auch aus Perspektive der Mitgliedstaaten zunehmend Berücksichtigung finden. Das gilt auch für ihre verfassungsrechtliche und verfassungsgerichtliche Beurteilung. Eine solche, für die Eigenschaften des politischen Systems der Europäischen Union offene Bewertung der Sperrklausel liegt auch im Rahmen der Integrationsverantwortung nach Art. 23 GG sowie den Rechtsprechungslinien des BVerfG. Daran ändert sich auch für die nächste Episode der Geschichte der europäischen Sperrklausel nichts: Während der deutsche Gesetzgeber mit der Zustimmung zur Direktwahlaktreform von 2018 beschäftigt war, hat das EP bereits einen Vorschlag für den Erlass einer Verordnung zur Wahl des Europäischen Parlaments veröffentlicht, der die verbindliche Mindesthöhe der Sperrklausel noch einmal auf 3,5 % erhöht – höher als die 2014 vom BVerfG gekippte 3 %-Hürde.
Wesentliche Einsichten zum Schutz der Wahlgleichheit auf Unionsebene verdanken die Autor:innen der Dissertation von Sophie Jendro, die im Juni 2023 an der Universität Leipzig verteidigt wurde.