Ein Weg zur Cannabis-Legalisierung führt über Luxemburg
Wer hätte gedacht, dass die geplante Cannabis-Legalisierung rechtlich scheitern könnte, weil sie gegen völkerrechtliche Verträge verstößt, von denen nur Fachexperten zuvor gehört haben? Gewiss steht ein solcher Verstoß keineswegs fest, wie Kai Ambos an dieser Stelle darlegte. Robin Hofmann hat erklärt, warum sich zusätzliche Rechtsgrenzen aus dem Unionsrecht ergeben, das man freilich, erneut nach Ambos, auch anders auslegen kann. Was beide Autoren nur streiften, ist die Interaktion von Völker- und Europarecht. Hier droht zusätzliches Ungemach.
Im Kern möchte die Bundesregierung die völkerrechtlichen Zweifel durch einen Trick aus dem Weg räumen. Deutschland soll einfach die maßgeblichen UN-Übereinkommen kündigen, um diese später erneut zu ratifizieren – freilich ergänzt um einen Vorbehalt. Das ist ein cleverer Schachzug, der nach dem Völkervertragsrecht auch möglich ist, solange man das Vorgehen nicht als treuwidriges Umgehungsgeschäft deutet.
Ein deutscher Alleingang hat die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Das Europarecht hat auch beim Völkerrecht ein Wort mitzureden. Die EU hat die UN-Übereinkommen selbst ratifiziert – und zwar ohne Vorbehalt. Außerdem reduziert die innereuropäische Kompetenzverteilung den Spielraum für nationale Alleingänge. Etwas mehr Europa muss die Bundesregierung also wagen. Soweit ihr das Risiko zu groß ist, bleibt nur die große Lösung einer Cannabis-Legalisierung über Brüssel oder Luxemburg.
Völkerrechtliche Bindung kraft EU-Rechts
Unproblematisch beschreiten kann die Ampelkoalition den Weg der Kündigung mit Neubeitritt nur für das UN-Einheitsübereinkommen über Suchtstoffe von 1961. Deutschland ratifizierte dieses nämlich alleine, ohne die EU. Dagegen wurde das UN-Suchtstoffübereinkommen von 1988 als sogenanntes „gemischtes Abkommen“ auch von der EU ratifiziert. Der deutsche Vorbehalt könnte damit schlicht ins Leere laufen.
Robin Hofmann erkennt das Problem, führt es jedoch nicht aus, während Kai Ambos, im Anschluss an die Literatur, von einer fortgesetzten Bindung „im Sinn einer erweiterten ‚Unionstreue‘“ spricht. Das bleibt vage und unterschätzt die Tragweite einer unionsrechtlichen Verpflichtung. Deutschland könnte bei der Cannabis-Legalisierung dasselbe passieren wie jüngst Irland in einem Fall zum Urheberrecht.
Eine Große Kammer in Luxemburg wies dessen Versuch brüsk zurück, die Vergütung von Künstlern aus Drittstaaten durch nationale Maßnahmen einzuschränken. Völkerrechtlich möglich wäre die von Irland geplante Konstruktion. Allein der Gerichtshof betont, dass nationale Alleingänge erstens die einheitliche Auslegung des Unionsrechts nicht ändern (Rn. 46-74) und zweitens die EU völkerrechtlich handeln müsse (Rn. 86-90).
Vorbehalt durch Deutschland oder die EU?
Bei gemischten Abkommen kann nicht etwa jede Vertragspartei tun und lassen, was sie will. Vielmehr ratifizierten Deutschland und die EU das UN-Suchtstoffübereinkommen von 1988 gemeinsam. Wer innerhalb des Abkommens für was zuständig ist, richtet sich nach der Kompetenzverteilung. Grundsätzlich besteht hier ein Parallelismus: Soweit die EU intern eine Zuständigkeit ausübte, muss sie auch extern handeln (Art. 3 Abs. 2 AEUV). Das ist der Grund, warum sich der EuGH im erwähnten Urteil ausdrücklich gegen einen irischen Alleingang verwehrte.
In der EuGH-Rechtsprechung gibt es ein gutes Dutzend an Urteilen, in denen sich die Kommission und die Mitgliedstaaten über die Kompetenzabgrenzung stritten. Teilweise geht es dabei um die Ratifikation, häufig um die Vertretung in internationalen Gremien. Der EuGH untersucht jeweils penibel, wer für was zuständig ist. Danach richtet sich, wer völkerrechtlich handeln darf und welche Rechtsebene die Rechtsfolgen kontrolliert.
Im Fall des UN-Suchtstoffübereinkommens von 1988 spricht viel dafür, dass nationale Alleingänge nicht länger möglich sind. Eindeutig ist das für den Im- und Export von Sucht(austausch)stoffen aus Drittstaaten. Der Außenhandel ist eine ausschließliche EU-Zuständigkeit (Art. 3 Abs. 1 Buchst. d AEUV). Doch auch bei gemischten Kompetenzen wie dem Binnenmarkt und im Strafrecht besitzen die Mitgliedstaaten keinen Freibrief.
Ausschließliche EU-Zuständigkeit
Hier kommen Art. 71 Schengener Durchführungsübereinkommen sowie der Rahmenbeschluss 2004/757/JI über die Strafbarkeit ins Spiel. Die früheren Blogbeiträge haben ausgeführt, dass man beide Regelwerke zwar so auslegen kann, dass sie eine Cannabis-Legalisierung erlauben. Hierum geht es mir vorliegend jedoch gar nicht. Umgekehrt wird ein Schuh draus. Gerade weil sich zwei EU-Rechtsakte zur Strafbarkeit von Cannabis äußern, darf grundsätzlich nur die EU im Außenverhältnis handeln.
Dabei kommt es nach ständiger EuGH-Rechtsprechung nicht darauf an, ob ein inhaltlicher Widerspruch zwischen Völker- und Europarecht besteht. Auch Öffnungsklauseln zugunsten der Mitgliedstaaten, wie in Art. 3 Abs. 2 Rahmenbeschluss 2004/757/JI, hindern nicht die Entstehung einer ausschließlichen EU-Zuständigkeit, soweit ein Sachgebiet „weitgehend“ europäisiert ist. Insofern ist Formulierung „beeinträchtigen oder Tragweite ändern“ in Art. 3 Abs. 2 AEUV irreführend. Der EuGH handhabt sie seit Jahrzehnten eng und streng (hier, Rn. 110-114).
Hiernach spricht viel dafür, dass Deutschland alleine keinen Vorbehalt zur Cannabis-Legalisierung mehr anbringen darf, weil nämlich die EU zuständig ist. Es gilt insofern dasselbe, was der EuGH im erwähnten Urteil zum Irland sagte: Ein Mitgliedstaat darf eine völkerrechtliche Verpflichtung der Union nicht im nationalen Alleingang ändern (hier, Rn. 86-90).
Rettungsanker für einen deutschen Alleingang
Die Bundesregierung könnte allenfalls versuchen, mit zwei Hilfsargumenten die geplante Konstruktion zu retten. Es sind jedoch die sprichwörtlichen Hintertürchen, die nicht wirklich überzeugen, der Bundesregierung jedoch genug juristische Munition bereitstellen könnten, um sich hinter einem Schleier der juristischen Unsicherheit zu verbergen.
Erstens wurde der Rahmenbeschluss 2004/757/JI als intergouvernementaler Rechtsakt angenommen, der ursprünglich wohl keine ausschließliche Außenkompetenz begründete. Allerdings änderte dies der Vertrag von Lissabon. Das Strafrecht gehört heutzutage zum supranationalen Unionsrecht, und für ältere Rechtsakte gelten nach Art. 10 des Protokolls (Nr. 36) über die Übergangsbestimmungen längst die regulären Verfahren. Daher dürfte der EuGH die regulären Außenkompetenzen anwenden. Der Europäischen Haftbefehl jedenfalls ist weitgehend „supranationalisiert“.
Zweitens verlangt Art. 27 Abs. 2 des UN-Suchtstoffübereinkommens von 1988 von der EU eine Kompetenzerklärung, die sich ursprünglich nur auf die Handelspolitik bezog. Zwar sagt die Erklärung ausdrücklich, dass die EU-Kompetenzen „evolutiv“ sind, sich also ausweiten. Offiziell wurde die Erklärung bisher offenbar aber nicht geändert. Auch die zahlreichen EU-Beschlüsse zu gemeinsamen Positionen beziehen sich auf die Ausgestaltung der Tabellen nach Art. 12 des Übereinkommens. Der Inhalt dieser Tabellen wird auf völkerrechtlicher Ebene regelmäßig geändert. Bei all diesen Änderungen handelt die EU bereits jetzt einheitlich.
Eine veraltete Kompetenzerklärung ändert jedoch nicht die EU-interne Zuständigkeitsverteilung, zumal die Erklärung ausdrücklich auf den „evolutiven“ Charakter verweist. Wer kraft Europarechts handeln darf, richtet sich nach den Verträgen und steht nicht zur Disposition der EU-Organe (hier, Rn. 109). Aus der Perspektive des EU-Rechts gilt für den Vorbehalt dasselbe wie für den Suchtstoffhandel. Deutschland kann nicht einfach so unilateral voranschreiten, als ob die EU nicht existierte.
Wer bestimmt den „Verfassungsvorbehalt“?
All diese Überlegungen sind nur dann relevant, wenn die UN-Übereinkommen oder Art. 71 Schengener Durchführungsübereinkommen (SDÜ) einen legalen Cannabis-Konsum verbieten. Kai Ambos präsentierte gute Argumente, warum das völker- und europarechtlich nicht so sein muss. Eine Schlüsselfunktion besitzt der „Verfassungsvorbehalt“ des Art. 3 Abs. 2 des UN-Suchtstoffübereinkommens von 1988. Dieser soll es Deutschland erlauben, den Haschischkonsum zu legalisieren.
Einmal abgesehen davon, dass man erst einmal dartun muss, warum eine einfache Gesetzesänderung sogleich die „Verfassungsgrundsätze“ oder „Grundzüge ihrer Rechtsordnung“ (basic principles of its legal system) ändert, unterstellt die bisherige Diskussion, dass die Beurteilung allein durch die nationale deutsche Brille erfolge. Warum eigentlich? Die EU ist genauso Vertragspartei, und der EuGH wird jedenfalls über die Auslegung von Art. 71 SDÜ mit der Frage befasst werden.
Hierbei schließt sich der argumentative Kreis. Gerade weil die EU-Kompetenzen heutzutage wichtige Aspekte des UN-Suchtstoffübereinkommens abdecken, könnte der Gerichtshof eine einheitliche Linie vorgeben. Genau dies machte das Josemans-Urteil zum niederländischen Haschisch-Konsum (hier, Rn. 36-42). Dort bewirkte die Einheitlichkeit freilich die Pointe, dass wegen des grundsätzlichen Verbots die Binnenmarktvorschriften nicht anwendbar waren. Das SDÜ und die Warenverkehrsfreiheit waren irrelevant, weil die Niederlande in einem Graubereich der Semilegalität verblieben (Rn. 43). Bei einer offiziellen Legalisierung geht das nicht. Hier müsste der EuGH von der bisherigen Verbotslinie abweichen.
Stillstand infolge Politikverflechtung
Eingefleischte EU-Fans kennen in einer solchen Situation nur einen Ausweg: „mehr Europa“. Wenn einige Mitgliedstaaten mit einer vollständigen Cannabis-Legalisierung eine neue Handelsware schaffen, sollte allein schon aus Gründen des Drogentourismus die EU eine einheitliche Lösung vorgeben – im Wege der Gesetzgebung oder judikativ. Dies gilt umso mehr, als eine Legalisierung im größten Mitgliedstaat eine Signalwirkung entfalten dürfte, der andere Länder schnell folgen dürften.
Eine Kompetenz für eine europaweite Cannabis-Legalisierung steht mit Art. 114 AEUV vergleichsweise unproblematisch bereit, wenn die offizielle Legalisierung einen neuen Markt schafft, der entlang nationaler Grenzen parzelliert bleibt (hier, Rn. 86, 97; hier, Rn. 20). Flankierend wären der Rahmenbeschluss und das SDÜ zu ändern, und auch auf der völkerrechtlichen Ebene müsste man einheitlich vorgehen.
Realpolitisch dürfte eine solche große europäische Lösung derzeit wenig Aussicht auf Erfolg haben. Zu schwerfällig sind die europäischen Entscheidungsprozesse und zu unterschiedlich die Grundüberzeugungen. Noch ein Streit mit Polen, Ungarn und manch anderer Regierung? Wohl besser nicht. Der Appetit auf giftige Diskussionen zur Drogenpolitik dürfte gering sein.
Eine derartige Loose-loose-Situation wäre frustrierend. Die EU wäre kompetentiell eigentlich der richtige Akteur, ist politisch jedoch blockiert. Deutschland und einige andere Länder wollen vielleicht handeln, drohen sich jedoch in den europarechtlichen Fallstricken zu verfangen. Europa verfinge sich in einer ebenenübergreifenden Politikverflechtungsfalle.
EuGH als höchstrichterlicher Blockadebrecher
Eine wechselseitige Blockadesituation in der Gesetzgebung könnte den EuGH dazu verleiten, die europa- und völkerrechtlichen Bedenken mit einer mehr oder weniger überzeugenden Begründung beiseite zu wischen. Es wäre nicht das erste Mal, dass der Gerichtshof sich bei einer pikanten Mischung von Sex, Drugs und EU-Recht zurückhält.
Doch auch das umgekehrte Ergebnis ist denkbar. Wenn die Politik zögert, nahm Luxemburg schon häufiger das Heft des Handelns in die Hand und sorgte mit klaren Worten für eine einheitliche Marschroute. Ein Urteil, das die deutsche Drogenpolitik kassiert, könnte ein Weckruf für ein gemeinsames Handeln sein. Doch es geht noch radikaler.
Im Anwendungsbereich von Rahmenbeschluss und SDÜ gilt zweifellos die Grundrechtecharta. Warum nicht einfach den Ruf als dynamisches Grundrechtsgericht stärken und mit einem richterlichen Fiat das Verbot als unvereinbar mit dem Privatleben nach Art. 8 GRCh erklären. Cannabis-Legalisierung kraft EuGH-Rechtsprechung. Das wäre doch etwas Neues. Das Völkerrecht stünde nicht im Wege, denn nach der Normenhierarchie der EU-Verträge besitzen die Grundrechte ein höheres Gewicht.