05 January 2024

Eine überfällige, aber unvollständige Reform

Zum Regierungsentwurf über eine Reform des Völkerstrafrechts

Die Bundesregierung hat am 1.11.2023 ihren Regierungsentwurf (RegE) zur Reform des Völkerstrafrechts vorgelegt und der Bundestag hat ihn am 30.11.2023 in erster Lesung beraten (Drs. 20/9471). Nun ist der federführende Rechtsausschuss am Zug! Der RegE sieht vor allem Änderungen des VStGB, der StPO sowie des GVG vor, um „Strafbarkeitslücken zu schließen, Opferrechte zu stärken und die Breitenwirkung völkerstrafrechtlicher Prozesse und Urteile zu verbessern.“ (S. 10). Er schweigt aber zum zentralen Grundsatz der (funktionalen) Immunität. Diese Lücke sollte im Gesetzgebungsverfahren geschlossen werden.

Punktuelle Anmerkungen

Der Entwurf ist ausführlich und im Wesentlichen überzeugend begründet, weshalb hier einige punktuelle Anmerkungen genügen sollen.

Die heutige „Vorreiterrolle“ Deutschlands bei der Verfolgung völkerrechtlicher Verbrechen wird zu Recht betont (RegE, S. 10). Das war keineswegs immer so. Der Verfasser erinnert sich noch gut an Sitzungen der von der damaligen Bundesjustizministerin Däubler Gmelin eingesetzten VStGB-Expertenarbeitsgruppe  und an Veranstaltungen des AK Völkerstrafrecht, in denen sich vor allem die Vertreter der Bundesanwaltschaft dem Vorhaben eines deutschen Völkerstrafrechts gegenüber überaus skeptisch zeigten und bestrebt waren, das materiell absolute Weltrechtsprinzip (§ 1 VStGB) möglichst einschränkend auszulegen oder irgendwie rechtlich einzuschränken. Das ist dann mit der prozessualen Steuerungsnorm des § 153f StPO gelungen, die maßgeblich auf den Einfluss der Bundesanwaltschaft zurückgeht. Heute hingegen zählt das Völkerstrafrecht – neben Terrorismus, Spionage und Revisionsrecht – zu einem der Hauptarbeitsfelder der Behörde. Bedauerlich ist es vor diesem Hintergrund aber, dass der Entwurf die Stellung des GBA nicht durch Aufhebung des externen, ministeriellen Weisungsrechts stärkt.

Die geplanten materiellrechtlichen Ergänzungen sind allesamt überzeugend und meist auch erforderlich. So vollzieht etwa die Kriminalisierung des sexuellen Übergriffs zum einen die völkerstrafrechtliche Entwicklung mit ihrem stärkeren Fokus auf sexuelle Gewalt (vor allem in bewaffneten Konflikten) nach und erfasst insbesondere auch Fälle, die unter den – aus Bestimmtheitsgründen problematischen – Auffangtatbestand von Art. 7 Abs. 1 (g), Abs. 2 (f) fallen („jede andere Form sexueller Gewalt von vergleichbarer Schwere“). Zum anderen stellt die Änderung auch einen Gleichlauf mit (dem geänderten) § 177 (Abs 1, 2) StGB her, der den sexuellen Übergriff primär als Angriff auf (sexuelle) Selbstbestimmung und Willensfreiheit versteht. Die „sexuelle Sklaverei“ steigert das Unrecht der einfachen Sklaverei (§ 7 Abs. 1 Nr. 3 VStGB). Beim Verschwindenlassen ist der Verzicht auf das Nachfrageerfordernis nicht nur völker(straf)rechtlich geboten (es findet sich weder in Art. 7 Abs. 2 (i) des Statut des Internationalen Strafgerichtshofs [IStGHS] noch in Art. 2 der Konvention zum Verschwindenlassen aus 2006), sondern auch sachlich gerechtfertigt. Die Pflicht der Auskunftserteilung ergibt sich aus dem (straf)rechtswidrigen Vorverhalten des Staates oder der Organisation, die eine Person der Freiheit beraubt hat; sie muss also nicht erst durch eine Nachfrage der Angehörigen o.a. Bezugspersonen ausgelöst werden. Ein solches Nachfrageerfordernis verkennt auf die kriminologische Realität des Verschwindenlassens. Das Opfer und seine Angehörigen sehen sich hier regelmäßig einem organisierten Machtapparat gegenüber, dessen Infragestellung durch Nachfragen entweder lebensgefährlich ist oder ganz und gar sinnlos, weil keine (wahren) Auskünfte zu erwarten sind.  Auch die Kriminalisierung des Verschwindenlassens als Einzeltat (§ 234b neu StGB) ist überzeugend. Zwar ist das Verhalten schon von anderen Tatbeständen erfasst (insbesondere §§ 234a, 235, 239-239b, ggf. §§ 211, 212, 223 ff. StGB), das spezifische Unrecht der Tat wird aber nur durch einen eigenständigen Tatbestand abgebildet. Freilich gilt dieses Argument auch für andere völkerrechtliche (Einzel-)Verbrechen, allen voran die Folter (vgl. Art. 4 der UN-Konvention von 1984), bezüglich derer Deutschland bislang von einer spezifischen Kriminalisierung u.a. deshalb abgesehen hat, weil sie ja schon von anderen Tatbeständen erfasst seien. Strafanwendungsrechtlich unterfällt der neue § 234b StGB aufgrund der völkervertraglichen Grundlage dem Weltrechtsprinzip über § 6 Nr. 9 StGB.

Methodisch kritisch kann man den wiederholten Rekurs auf das Völkergewohnheitsrecht (VGR) sehen, zumal gleichberechtigt neben dem IStGHS als völkerrechtlichem Vertrag, wobei anzuerkennen ist, dass er zur völkerrechtlichen Absicherung der Kriminalisierung dient. Meine Skepsis rührt daher, dass ja schon die Begründung von VGR, gerade wenn es um völkerrechtliche Verbrechen geht, keineswegs ein leichtes Unterfangen ist; gleichwohl wird das Konzept in der völkerstrafrechtlichen Judikatur nachgerade inflationär gebraucht, ohne das dabei auch nur ansatzweise eine Auseinandersetzung mit den schwierigen Entstehungsvoraussetzungen und – bedingungen von VGR stattfindet (zu den Ergebnissen des entsprechenden Beratungsprozesses der UN-Völkerrechtskommission [International Law Commission, ILC] s. hier). Ebenso wenig ist der Verweis auf das IStGHS als Quelle und Grund von VGR unproblematisch, handelt es sich bei einem völkerrechtlichen Vertrag doch um eine gegenüber VGR eigenständige Rechtsquelle (Art. 38 Abs. 1 (a) und (b) IGH-Statut) und ist es durchaus strittig, ob und inwieweit daraus VGR abgeleitet werden kann (dazu ILC-Conclusion 11, insbesondere Abs. 2).

Die Erweiterung der Nebenklage auf (bestimmte) völkerrechtliche Verbrechen klärt zunächst die aufgrund der Öffnungsklausel (§ 395 Abs. 3 StPO) bislang unsichere Rechtslage, denn danach ist der Anschluss als Nebenkläger von den „schweren Folgen der Tat“ abhängig und damit unsicher. Die explizite Erweiterung ist überfällig, denn die (ausländischen) Opfer dieser Verbrechen sind besonderen Belastungen ausgesetzt, die prozessuale Beteiligung sowie anwaltlichen und psychologischen Beistand erforderlich machen. Das rechtfertigt es auch und gerade, den Genozid als nebenklagefähiges Delikt anzuerkennen und zwar ungeachtet seines strittigen individualschützenden Charakters (offenlassend BGH Beschluss v. 30.11.2022 – 3 StR 230/22, Rn. 56). Allerdings lässt sich über die Nichtberücksichtigung der Eigentumsdelikte (§ 9 VStGB) streiten, denn die besondere Schutzbedürftigkeit der Opfer ergibt sich insoweit schon daraus, dass es um Kriegsverbrechen, also Taten während eines bewaffneten Konflikts, geht. Im Übrigen wird hier auch – wie bei Taten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit und die Freiheit – ein wichtiges Individualrechtsgut angegriffen. Kritikwürdig ist allerdings die Beschränkung der aktiven Beteiligung des Opfers auf den Beistand (§ 397b Abs. 4 n.F. StPO) und die damit verbundene Schlechterstellung gegenüber sonstigen nebenklageberechtigten Opfern, die ihre Verfahrensrechte gemäß § 397 Abs. 1 S. 3, 4 (weiter) selbst ausüben können; dabei ist aber zu beachten, dass die Beschränkung nicht greift, wenn die Nebenklagebefugnis nicht „nur“ (§ 397b Abs. 4 n.F.) auf VStGB- sondern zugleich auch auf StGB-Tatbestände gestützt werden kann. Zumindest diskussionswürdig ist die regelhafte Annahme gleichgelagerter Interessen und damit gemeinschaftliche anwaltliche Vertretung von Opfern völkerrechtlicher Verbrechen bei „gleiche[m] Lebenssachverhalt“ (prozessualer Tat) (§ 397b Abs. 1 S. 2 Nr. 2 n.F.).

Die Streichung des Bezugs zur Bundesrepublik in § 169 Abs. 2 GVG stellt nun (endlich) klar, dass völkerstrafrechtliche Verfahren gerade über Deutschland hinausreichende zeitgeschichtliche Bedeutung haben. Die Anhebung der Speicherungs- und Aussonderungsprüffristen in § 77 Abs. 1, 2 BKAG erscheint als technische Marginalie, kann aber angesichts des häufig lange nach Tatbegehung liegenden Beginns völkerstrafrechtlicher Ermittlungen und deren Dauer entscheidend dafür sein, dass noch relevante Daten zur Verfügung stehen (RegE, S. 46 f.).

Der Elefant im Raum: keine Regelung funktioneller Immunität

Die Immunität stellt ein wichtiges Strafverfolgungshindernis bei völkerrechtlichen Verbrechen dar, vor allem wenn es sich um staatliche Führungstäter handelt. Zunächst ist zwischen der persönlichen Immunität (ratione personae), auf die sich nur höchste staatliche Repräsentanten (sog. Trias von Staatsoberhaupt, Regierungschef und Außenminister) berufen können, und der funktionellen Immunität (ratione materiae) für (hoheitliche) Diensthandlungen (acta iure imperii) zu unterscheiden. Während jene im zwischenstaatlichen Verhältnis – zur Sicherstellung des zwischenstaatlichen Verkehrs auf höchster exekutiver Ebene – grundsätzlich unbeschränkt gilt und allenfalls im vertikalen Verhältnis (Staat zu internationalem Strafgericht) eine Einschränkung erfährt (so – nicht unstrittig – die IStGH-Rechtsmittelkammer s. hier, para. 103 ff.), wird die funktionelle Immunität bei schweren völkerrechtlichen Verbrechen auch im zwischenstaatlichen (horizontalen) Verhältnis eingeschränkt. Das hat auf völkerrechtlicher Ebene die ILC in ihrem schon 2017 vorläufig verabschiedeten Artikel 7 eines entsprechenden Vertragsentwurfs (der dann 2022 in erster Lesung verabschiedet wurde) anerkannt. Diese Vorschrift schließt die funktionelle Immunität bei völkerrechtlichen Verbrechen – ohne das Aggressionsverbrechen (Begründung hier, S. 239) – aus (s. amtlichen Kommentar, S. 230 ff.). Der Entwurf wurde den Staaten am 3. August 2022 zur Einholung von Stellungnahmen vorgelegt (s. hier, S. 189 ff.), zum 4. Januar 2024 haben 26 Staaten, darunter Deutschland, von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht (s. hier „Comments by Governments“). Auf innerstaatlicher Ebene hat der BGH die Einschränkung der funktionellen Immunität bei Kriegsverbrechen (grausame oder unmenschliche Behandlung einer geschützten Person) eines niederrangigen Hoheitsträgers anerkannt (BGH 28.1.2021 – 3 StR 565/19). Der Senat hat insoweit „keine ernstzunehmenden Zweifel“, dass das geltende VGR eine solche Immunität ausschließt. Zugleich deutet er an, dass dieser Ausschluss nicht auf niederrangige Hoheitsträger und Kriegsverbrechen beschränkt ist. Die Entscheidung ist auf große Zustimmung gestoßen.

Vor diesem Hintergrund hätte sich die Bundesregierung unmissverständlich zugunsten einer Einschränkung funktioneller Immunität i.S.d. ILC-Entwurfs positionieren sollen (ebenso ECCHR). Dies ist leider nicht geschehen. In der oben genannten Stellungnahme werden zwar „Ausnahmen zur funktionellen Immunität ratione materiae“ als „conditio sine qua non“ der innerstaatlichen Verfolgung völkerrechtlicher Verbrechen anerkannt und auf die überwältigende nationale Gerichtspraxis („thousands of national court judgments“) verwiesen, doch am Ende dieses Absatzes nur von VGR „in status nascendi“ gesprochen und lediglich ein „Trend“ in diesem Sinne ausgemacht. Im folgenden Absatz wird dann zwar die genannte BGH-Entscheidung referiert, aber unter Betonung ihrer fallbezogenen Beschränkung auf niederrangige Hoheitsträger und Kriegsverbrechen, ohne die vom BGH angedeutete Erweiterung auch nur zu nennen; insoweit wird nur auf die entsprechende erweiternde Auslegung (im wissenschaftlichen Schrifttum) verwiesen („has been interpreted“), ohne sich diese aber zu eigen zu machen. Gleichwohl wird die BGH-Entscheidung dann abschließend als „wichtige deutsche Staatspraxis“ mit „erheblicher Tragweite“ („significant bearing“) für die Regierungsposition gewertet, was den Leser einigermaßen ratlos mit der Frage zurücklässt, warum sich die Bundesregierung dann nicht zu einer eindeutigeren, tatsächlich die BGH-Position und sonstige nationale Gerichtspraxis wiederspiegelnde Stellungnahme hat durchringen können. Völkerrechtspolitisch hätte das durchaus auf der Linie anderer Staaten gelegen: Von den o.g. 26 Staaten bekennen sich 18 eindeutig zu einer Einschränkung der Immunität,1) klar dagegen sind lediglich sieben.2)

Umso dringlicher erscheint es nun, dass der Gesetzgeber die immunitätsausschließende Position unmissverständlich gesetzlich absichert. Das GVG verweist insoweit ja nur auf das Völkerrecht (§ 20 Abs. 2) und dieses befindet sich eben – siehe die gerade genannten ILC-Beratungen und die Position der Bundesregierung – noch in der Entwicklung. Eine gesetzgeberische Klarstellung würde insoweit ein starkes Signal gegen Straflosigkeit völkerrechtlicher Verbrechen senden. Es entspräche der heutige Vorreiterrolle Deutschlands. Damit erhebt sich Deutschland nicht über die völkerrechtliche Entwicklung, sondern bezieht eindeutig Stellung an einer entscheidenden Wegscheide, um diese Entwicklung in die richtige Richtung zu lenken. Deutschland leistete so seinen Beitrag zur Staatenpraxis. Ein entsprechender § 5a VStGB könnte wie folgt lauten:

„Funktionale Immunität (Immunität ratione materiae) findet auf die in diesem Gesetz enthaltenen Verbrechen keine Anwendung.“ 

Fazit

Es handelt sich um eine überfällige und im Wesentlichen überzeugende Reform. Der nun befasste Rechtsausschuss sollte sich jedoch mit den hier genannten Kritikpunkten unter Berücksichtigung der andernorts (DRiZ 1/2024) nachgewiesenen Stellungnahmen aus Wissenschaft und Praxis eingehend auseinandersetzen. Insbesondere sollte die zitierte Rechtsprechung des BGH zur funktionellen Immunität und die dazu ergangene Völkerstrafrechtslehre gebührend Berücksichtigung finden. Sie sollte zu einem gesetzgeberischen Immunitätsausschluss bei den VStGB-Verbrechen im o.g. Sinne führen. Man kann nicht einerseits die Verfolgung völkerrechtlicher Kernverbrechen lautstark politisch fordern und die völkerstrafrechtliche Vorreiterrolle Deutschlands bei jedem Pressetermin betonen, aber andererseits die Strafverfolgungsbehörden und die höchste Strafjustiz – die wahren Protagonisten des deutschen Völkerstrafrechts! – bei der Beseitigung wenigstens der funktionalen Immunität alleine lassen. Liebe Mitglieder des Rechtsausschusses, lieber Gesetzgeber, do the right thing now!

Es handelt sich um eine Kurzfassung eines mit zahlreichen Nachweisen in Heft 1/2024 der DRiZ erschienenen Beitrags, abrufbar hier.

References

References
1 Estland, Lettland, Liechtenstein, Litauen, Luxemburg, Österreich, Polen, Rumänien, Schweiz, Ukraine (einschließlich Einbeziehung des Aggressionsverbrechens) sowie Norwegen (für fünf nordische Länder), Panama, Tschechien; i.E. wohl auch Niederlande; diff. bzw. skeptisch Japan, Malaysia, Marokko, Vereinigtes Königreich.
2 Brasilien (!), Iran, Israel, Saudi-Arabien, Singapor, USA und Vereinigte Arabische Emirate.

SUGGESTED CITATION  Ambos, Kai: Eine überfällige, aber unvollständige Reform: Zum Regierungsentwurf über eine Reform des Völkerstrafrechts, VerfBlog, 2024/1/05, https://verfassungsblog.de/eine-uberfallige-aber-unvollstandige-reform/, DOI: 10.59704/9203f7c696bf2dc2.

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