17 November 2020

Eine Zensur findet nicht statt – auch nicht bei Extremisten

Längst sind es nicht mehr nur Verschwörungserzähler und Anhänger der politischen Extreme, die behaupten, man könne hierzulande seine Meinung nicht mehr frei äußern. Auch Journalisten, Wissenschaftler, Schriftsteller und Künstler kritisieren mittlerweile, dass die Grenzen dessen, was ohne Repressalien gesagt werden darf, immer enger gezogen würden. Nicht zuletzt deshalb ist es wichtiger denn je, dass sich der Staat schon im Ansatz keinerlei Meinungszensur verdächtig macht. Das Grundgesetz lässt ohnehin keinen Raum für Kompromisse: „Eine Zensur findet nicht statt“. Und so darf es selbst bei Neonazis und notorischen Holocaustleugnern wie Horst Mahler keine Ausnahme davon geben. Der soll künftig aber, wenn es nach der Staatsanwaltschaft geht, dem LKA Brandenburg seine Veröffentlichungen spätestens eine Woche vor Erscheinen anzeigen.

Allerdings genießen selbst Verfassungsgegner das Recht auf freie Meinungsäußerung – zumindest solange nicht das Bundesverfassungsgericht die Verwirkung des Grundrechts ausspricht.

Neues Kapitel in der Causa Mahler

Nach mehr als zehn Jahren Haft – gleichwohl unterbrochen durch eine Haftverschonung und eine vergebliche Flucht nach Ungarn –, die der einstige APO-Anwalt, RAF-Mitbegründer und heutige Rechtsextremist Horst Mahler unter anderem wegen zahlreicher Fälle der Volksverhetzung verbüßt hatte, wurde eine der bizarrsten Figuren der jüngeren deutschen Geschichte vor einigen Tagen aus dem Gefängnis entlassen. Die Staatsanwaltschaft München II beantragt nun im Rahmen der Führungsaufsicht, dem 84-Jährigen die Veröffentlichung von Text- und Sprachbeiträgen im Internet oder in sonstigen Medien zu verbieten – es sei denn, er zeige dem Staatsschutz beim LKA Brandenburg die geplante Veröffentlichung spätestens eine Woche vor Erscheinen an und mache ein Exemplar davon dem Landeskriminalamt unter genauer Benennung des Erscheinungsortes zugänglich. Ferner sollen ihm Veröffentlichungen auf seiner Internetseite sogar gänzlich verboten werden. Letztere habe er bereits zur Genüge für strafbare Meinungsäußerungen verwendet. Ein Beschluss des Landgerichts Potsdam über die von der Staatsanwaltschaft beantragten Weisungen steht noch aus. Einstweilen konnte Mahler ihm durch Befangenheitsanträge gegen zwei Richter zuvorkommen.

Führungsaufsicht vs. Meinungsfreiheit

Die von der Staatsanwaltschaft beantragten Weisungen sollen im Rahmen der Führungsaufsicht (§§ 68 ff. StGB) ergehen und verhindern, dass Mahler weitere Straftaten begeht. Bei einem Verstoß gegen Weisungen drohen erneut strafrechtliche Konsequenzen (§ 145a StGB). Die bekannteste Weisung im Rahmen der Führungsaufsicht dürfte mittlerweile die elektronische Fußfessel sein. Dem Betroffenen kann aber gem. § 68b Abs. 1 Nr. 4 StGB auch die Weisung erteilt werden, bestimmte Tätigkeiten nicht auszuüben, die er nach den Umständen zu Straftaten missbrauchen kann.

Das Ziel, das die Staatsanwaltschaft München II verfolgt – nämlich Mahler durch die Maßregeln an der Verbreitung von Wort- und Textbeiträgen mit strafbarem Inhalt zu hindern – ist einleuchtend. Wer wollte nicht instinktiv jemandem den Mund verbieten, der mittlerweile nur noch von sich reden machen kann, wenn er gegen Juden hetzt oder den Holocaust leugnet. Von der Größe des Rechts zeugt jedoch, dass im freiheitlichen demokratischen Miteinander selbst Verfassungsfeinde nicht per se einen Maulkorb tragen müssen. Und so fällt auch im Fall Mahler zunächst auf, dass die beantragten Maßregeln in einem unübersehbaren Spannungsverhältnis zur Meinungsfreiheit und insbesondere zum Zensurverbot stehen.

Keine Ausnahme vom Zensurverbot

Das verfassungsrechtliche Zensurverbot aus Art. 5 Abs. 1 Satz 3 GG ist eine Errungenschaft aus dem Kampf um die freie Presse im 19. Jahrhundert. Es verbietet jedoch nur die Vor- oder Präventivzensur, also den Fall, in dem die Meinungsäußerung und -verbreitung von einer vorherigen staatlichen Genehmigung abhängig gemacht wird (Verbot mit Erlaubnisvorbehalt). Die reine Existenz eines solchen Kontrollverfahrens lähmt das Geistesleben so stark, dass die Verfassung keine Ausnahme vom Zensurverbot zulässt. Demgegenüber sind Kontroll- und Repressivmaßnahmen nach der Veröffentlichung von Medienprodukten (Nachzensur oder Verbot) im Rahmen gesetzlicher Schranken (Art. 5 Abs. 2 GG) sehr wohl zulässig. Das Zensurverbot garantiert letztlich die Freiheit, zunächst jede Meinung zu äußern. Es nimmt dem Grundrechtsträger jedoch nicht die Gefahr ab, für seine ungefilterte Äußerung oder Publikation im Nachhinein verantwortlich gemacht oder sogar strafrechtlich sanktioniert zu werden – wofür die beträchtlichen Gefängnisstrafen Mahlers wiederum eindrückliches Zeugnis sind.

Recht auf extremistische Meinungen

Das Recht auf freie Meinungsäußerung stellt bekanntermaßen ein „Grund-Grundrecht“ dar und ist, wie das Bundesverfassungsgericht schon 1958 im Lüth-Urteil betonte, für die freiheitlich-demokratische Staatsordnung schlechthin konstituierend. Dass es das höchste deutsche Gericht mit der Meinungsfreiheit von Extremisten nicht weniger ernst meint, zeigt eine Entscheidung aus dem Jahre 2010: Das Oberlandesgericht München hatte einem wegen Volksverhetzung verurteilten Rechtsterroristen zuvor die Weisung aufgegeben, für fünf Jahre kein rechtsextremistisches oder nationalsozialistisches Gedankengut zu publizieren. Es stellte beim Betroffenen eine Kontinuität bei der Begehung politisch motivierter Straftaten fest und befürchtete, dass er fortan durch Veröffentlichungen die strafrechtlichen Grenzen des § 130 StGB (Volksverhetzung) überschreiten wird. Auf die Beschwerde des Betroffenen hin stellte das Bundesverfassungsgericht allerdings klar, dass die Meinungsfreiheit auch die Verbreitung rechtsextremistischer Meinungen grundsätzlich schützt. Das fünfjährige Publikationsverbot sei dagegen nicht verhältnismäßig. Die Richter verlangten bei Maßnahmen, die an den Inhalt einer Äußerung anknüpfen, eine besonders sorgfältige Abwägung zwischen der Schwere des Eingriffs und dem Sicherheitsbedürfnis der Allgemeinheit sowie dem Grad der Wahrscheinlichkeit weiterer drohender Rechtsgutsverletzungen.

Einschränkungen unterhalb der Strafbarkeitsschwelle?

Allerdings hielt es das Bundesverfassungsgericht „möglicherweise nicht von vornherein ausgeschlossen“, im Rahmen der Führungsaufsicht in „Bezug auf bestimmte Situationen auch die Verbreitung von Meinungen unterhalb der Strafbarkeitsschwelle zu verbieten“. Eine solche Maßnahme müsse ein Betroffener „umso eher [hinnehmen], als sie sich – etwa durch eine Begrenzung auf bestimmte Situationen – auf die Form und die äußeren Umstände der Meinungsäußerung beschränkt“ (Rn. 24).

Daraus ließe sich auch für den Fall Mahler womöglich ein Auftritts- oder Redeverbot auf gewissen Kundgebungen oder etwa am Holocaust-Gedenktag ableiten, wenn zu befürchten wäre, dass er dort rassistisches, nationalistisches oder antisemitisches Gedankengut verbreiten würde. Ob eine derartige Weisung verfassungsrechtlichen Maßstäben letztlich standhalten wird, bleibt jedoch fraglich. Im Rahmen des Versammlungsrechts sah das Bundesverfassungsgericht die Überschreitung der Strafbarkeitsschwelle sehr wohl als maßgebliches Kriterium für die Einschränkung der Meinungsfreiheit an. Um kommunikative Angriffe auf die Schutzgüter der Verfassung abzuwehren, seien nämlich besondere Strafnormen (z.B. §§ 86a, 90a f., 130, 185 ff. StGB.) geschaffen worden. Durch die enge Fassung solcher Straftatbestände habe der Gesetzgeber zum Ausdruck gebracht, im Übrigen keinen Vorrang des Rechtsgüterschutzes gegenüber dem Grundrecht auf Meinungsäußerung anzuerkennen. Mit anderen Worten: Solange eine Meinungsäußerung nicht strafbar ist, kann sie nicht verboten werden. Umgekehrt haben gerade die kriminellen Karrieren von Horst Mahler oder auch Ursula Haverbeck bewiesen, wie scharf Justitias Schwert sein kann, wenn die Schwelle zur Illegalität überschritten wird.

Unverhältnismäßig sollen laut Bundesverfassungsgericht Präventivmaßnahmen sein, die den Bürger aufgrund seiner politischen Überzeugungen für eine gewisse Zeit praktisch gänzlich vom Prozess der öffentlichen Meinungsbildung ausschließen. Dies komme der Aberkennung der Meinungsfreiheit nahe. Das Entscheidungsmonopol über eine Grundrechtsverwirkung liegt unter den Voraussetzungen des Art. 18 GG aber einzig beim Bundesverfassungsgericht selbst.

„Ich sitze hier, weil ich hier sitzen will“

In der Causa Mahler ist der „Grad der Wahrscheinlichkeit drohender Rechtsgutsverletzungen“ wohl nicht allzu schwer zu ermitteln. Die Verurteilungen wegen Volksverhetzung gehen zum Großteil auf seine Publikationen zurück. Zudem versteht es Mahler, Gerichtsverfahren zu provozieren und gezielt als Bühne zu nutzen, um seine extremistischen und antisemitischen Thesen öffentlich kundzutun. „Ich sitze hier, weil ich hier sitzen will“, eröffnete er dem Gericht 2009 in einem der vielen Prozesse, in denen er wegen Volksverhetzung angeklagt war. Auch in jüngsten Veröffentlichungen gab er sich ungeläutert. Prima facie wird man also nicht darauf hoffen dürfen, dass Mahler künftig davon absehen wird, volksverhetzendes Gedankengut zu veröffentlichen.

Kein faktischer Grundrechtsentzug

Doch selbst bei unbelehrbaren Volksverhetzern macht die Verfassung in puncto Meinungsfreiheit erst einmal keine Abstriche. Denn müsste andererseits ein Grundrechtsträger, wie hier beabsichtigt, vor Veröffentlichung seiner Gedanken dem LKA eine Woche Lektürezeit gewähren, so wäre er de facto jedenfalls von einem Diskurs ausgeschlossen, der sich auf tagesaktuelle Entwicklungen bezieht. Ob der Betroffene sein Grundrecht so überhaupt noch adäquat ausüben kann, ist äußerst zweifelhaft.

Die angestrebte Maßnahme, die Veröffentlichung von Beiträgen auch im Internet von einer Vorab-Anzeige mit Wochenfrist abhängig zu machen, dürfte darüber hinaus die Meinungsäußerungen in Foren oder in sozialen Netzwerken umfassen. Ihr Wesen ist jedoch geprägt von einem Austausch in nahezu Echtzeit. Soziale Netzwerke sind zu einem fundamentalen Medium der öffentlichen Meinungsbildung geworden. Hier zu diskutieren, wäre Mahler aber im Ergebnis gänzlich verboten.

Die aufgezeigten Konstellationen führen zu der Erkenntnis, dass wenigstens die Möglichkeit erhalten bleiben muss, aus einer Augenblicksituation heraus seine Meinung zu äußern, ohne die Veröffentlichung vorher anzeigen zu müssen – ähnlich wie bei dem Recht auf Abhaltung einer Spontanversammlung, bei der auf die grundsätzlich bestehende Anmeldepflicht verzichtet wird.

Vorzensur oder reine Anzeigepflicht?

Dessen ungeachtet erweist sich eine inhaltliche Vorabprüfung von Veröffentlichungen als offensichtlich verfassungswidriges Instrument, um Straftaten zu verhindern. Demgegenüber befand zwar das Kammergericht Berlin eine vom Generalbundesanwalt beantragte Weisung, wonach ein verurteilter rechtsextremistischer Musiker die Veröffentlichung seiner Tonträger „unverzüglich“ dem Landeskriminalamt anzeigen sollte, für rechtmäßig. Dabei konnte nämlich gerade keine vorgelagerte inhaltliche Kontrolle durch staatliche Stellen stattfinden. Sicherheits- und Strafverfolgungsbehörden hätten vielmehr erst einschreiten können, wenn es bereits zu strafbaren Äußerungsdelikten gekommen wäre (KG Berlin v. 24.04.2008 – 2 Ws 143/08 – BeckRS 2009, 8387). Damit stand die Anzeigepflicht dem Verbot der Vorzensur nicht entgegen.

Im Falle Mahler schwebt der Staatsanwaltschaft aber nicht nur eine unverzügliche Anzeige vor, sondern eine mit einer einwöchigen Vorlauffrist. Zieht sich die Vollstreckungsbehörde unterdessen auf das Argument zurück, die Weisung sei gleichermaßen „eine reine Anzeigepflicht“ und „Mahler könnte auch in Zukunft strafbare Äußerungen veröffentlichen, der Staatsschutz wüsste nur eben schon vorher davon“, bleibt offen, inwiefern damit das selbstgesteckte Ziel, den Verurteilten an der Verbreitung von Beiträgen mit strafbarem Inhalt zu hindern, erreicht werden kann.

Vor allem bedürfte aber der Sinn der Vorlauffrist einer eingehenden Begründung, um die Weisung vom Verdacht der Vorzensur freizusprechen. Soll die Maßnahme allerdings tatsächlich dazu dienen, Mahlers Pamphlete vorab auf rechtswidrige Inhalte zu prüfen, um deren Veröffentlichung rechtzeitig zu verhindern, so liegt ein Verstoß gegen das Zensurverbot aus Art. 5 Abs. 1 Satz 3 GG auf der Hand.

Verbot von Veröffentlichungen in einem bestimmten Medium?

Die zweite von der Staatsanwaltschaft beantragte Weisung, Mahler Veröffentlichungen auf seiner eigenen Website zu verbieten, könnte hingegen der gerichtlichen Kontrolle standhalten – vorausgesetzt, die Staatsanwaltschaft kann Anhaltspunkte für die behaupteten Straftaten auf diesem Medium vorlegen. In Anbetracht der notwendigen Bestimmtheit einer solchen Weisung dürfte das Verbot allerdings in einem Katz-und-Maus-Spiel zwischen dem Verurteilten und der Staatsanwaltschaft enden. Eine neue Domain, die von dem Verbot nicht mehr umfasst ist, wäre schnell erstellt.

Ein weiterreichendes Verbot, das Mahler untersagen würde, bestimmte Arten oder Kategorien von Internetseiten wie soziale Netzwerke oder Blogs zur Verbreitung seiner Schriften zu verwenden, dürfte sich indes schon wegen der Unüberprüfbarkeit und Unbestimmtheit als rechtswidrig herausstellen (vgl. LG Nürnberg-Fürth, 19.02.2015 – 17 Qs 7/15 zu einem dreijährigen „Facebook-Verbot“ als Bewährungsweisung).

„Entpolitisierung“ nur bei Grundrechtsverwirkung

Der einzige Weg zur endgültigen „Entpolitisierung“ von Verfassungsgegnern ist der Ausspruch der Verwirkung des Grundrechts auf Meinungsäußerung (Art. 18 GG). Voraussetzung dafür ist, dass das Grundrecht zum Kampf gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung missbraucht wurde. Die Verwirkungsvorschrift aus Art. 18 GG wird gemeinhin als Ausdruck wehrhafter Demokratie verstanden, sie „ist gewissermaßen der ‚Schlafdeich‘, der in Funktion tritt, wenn der Hauptdeich der Rechtsordnung überspült ist“ (Sachs/Pagenkopf, 8. Aufl. 2018, Art. 18 GG Rn. 7a). Der Ausspruch bleibt einzig und allein dem Bundesverfassungsgericht mit einer Zweidrittelmehrheit im Senat (§ 15 Abs. 4 S. 1 i.V.m. § 13 Nr. 1 BVerfGG) vorbehalten und ist an weitere strenge Voraussetzungen gebunden. Das Gericht sah sie bislang in noch keinem Fall als gegeben an.

Auch für den Fall Mahler folgt daraus, dass bei der Angemessenheitsprüfung der grundrechtsbeschränkenden Maßnahmen Art. 18 GG stets im Hinterkopf bleiben muss. Je näher eine staatliche Maßnahme in ihrer Wirkung an einen faktischen Grundrechtsentzug heranreicht, desto höher sind die Hürden für eine Rechtfertigung. Ansonsten liefe Art. 18 GG leer. Denn solange der Hauptdeich der Rechtsordnung noch nicht überspült ist, genießen Freiheit – wohl oder übel – selbst die Feinde der Freiheit.