Einer raus, einer rein: vielleicht keine Lösung, aber immerhin Völkerrecht
Für jeden syrischen Flüchtling, den die Türkei aus Chios, Lesbos und Kos zurücknimmt, lässt die EU einen anderen syrischen Flüchtling aus der Türkei legal einreisen. Ein bewegliches Kontingent soll es geben, das den Syrern in der Türkei als legale, sichere und preiswerte Alternative zum Schlauchboot offen steht und dessen Größe schrumpft und wächst mit der Zahl der irregulär eingereisten Flüchtlinge, die die Türkei aus Griechenland wieder zurücknimmt. Das ist der Plan nach dem gestrigen EU-Gipfel in Brüssel. Pro Asyl findet ihn ganz fürchterlich.
Ich bin da ehrlich gesagt nicht so sicher.
Natürlich gibt es eine Reihe von Punkten, die Sorgen bereiten – etwa die Frage, was aus den Afghanen, Irakern und Eriträern werden soll, die schließlich auch in großer Zahl einen Anspruch auf internationalen Schutz haben. Für die gibt es offenbar kein Kontingent, aber zumindest nach einer Lesart der gestrigen Abschlusserklärung wären sie sehr wohl von der Abschiebung in die Türkei erfasst.
Dann wäre da die Frage, wie Griechenland seinen Teil des Deals administrieren wird.
Und natürlich bedrängt uns alle die Frage, wie wir uns das überhaupt vorstellen, Flüchtlinge in die Türkei zurückzuschicken, wo a) mit dem neuen Quasi-Krieg gegen Teile der kurdischen Bevölkerung sich womöglich schon das nächste Flüchtlingsdrama abzeichnet, b) die Menschenrechte zunehmend unverblümt im ganz großen Stil gebrochen werden, und zwar den EU-Verhandlungspartnern mitten ins Gesicht, und schließlich c) die Genfer Flüchtlingskonvention nur sehr eingeschränkt gilt und sich an der syrisch-türkischen Grenze unfassbare Szenen abspielen.
Auf diese Fragen mögen andere Antworten finden, die sich besser auskennen als ich. Mal unterstellt, sie lassen sich überhaupt zufriedenstellend beantworten – ist dann der gestrige Deal wirklich eine solche Katastrophe?
Über Jahre bestand die europäische Flüchtlingspolitik zum allergrößten Teil aus Versuchen aller Beteiligten, sich auf Kosten anderer einen schlanken Fuß zu machen. Auch Deutschland und seine Kanzlerin, die seit dem Sommer 2015 zweifellos Heldenhaftes leistet, nehme ich davon nicht aus. Wir alle haben es die längste Zeit höchst attraktiv gefunden, das öffentliche Gut des humanitären Flüchtlingsschutzes so weit wie möglich von anderen bereitstellen zu lassen, wenn überhaupt. Mir scheint es ein Gewinn zu sein, und zwar kein kleiner, dass jetzt überhaupt wieder mit zumindest etwas Aussicht auf Erfolg versucht wird, mit dieser destruktiven und selbstzerstörerischen Freerider-Politik aufzuhören und für ein gemeinsames Problem eine gemeinsame Lösung zu finden.
Gut möglich, dass die Lösung gar keine ist. Das wird sich in den nächsten Wochen klären. Aber mir macht allein schon die Tatsache Mut, dass sie überhaupt versucht wird. Dass das Völkerrecht zurück ist als das Instrument, mit dem man solche Dinge anpackt. Dass die Erkenntnis, dass man dort, wo es einen Zufluss gibt, auch für einen Abfluss sorgen muss, und zwar alle gemeinsam, weil am Ende ja jeder mal plötzlich unter Wasser stehen kann – dass diese schlichte Erkenntnis sich wieder in politisches Handeln ummünzt. Man wird ja bescheiden.
Und dass wir dabei mit der Türkei verhandeln? Ich möchte nicht von Erdoğan regiert werden, kein Zweifel, und ich bin so entsetzt über seinen Umgang mit der Pressefreiheit und mit den Kurden wie the next guy. Aber die Türkei wird halt nun mal von ihm regiert. In der Türkei sind drei Millionen Flüchtlinge, und wenn der Krieg in Syrien weitergeht und die Grenze zur Türkei nicht völlig undurchlässig wird, was Gott verhüten möge, dann werden es womöglich noch wesentlich mehr.
Vielleicht bin ich naiv, aber ich hoffe, dass ein Mechanismus wie der gestern entworfene der EU einen Hebel in die Hand gibt, tatsächlich durchzusetzen, dass die Türkei GFK-konforme Standards beim Flüchtlingsschutz einhält. Wenn die unterschritten werden (vorausgesetzt, die griechischen Gerichte machen ihren Job), funktioniert das ganze System ja nicht, dann kann nicht in die Türkei zurückgeschickt werden, und dann wird auch nichts aus dem Kontingent. Dann fällt ohnehin alles in sich zusammen.
Vielleicht bin ich naiv. Aber ich glaube daran, dass man auch und gerade mit Erdoğan gar nicht genug politische Verhandlungen führen kann, solange er was von uns will und wir von ihm. Ich glaube an die segenstiftende Kraft internationaler Verhandlungen. Ich bin lieber naiv als zynisch. Ich habe genug von der Mir-doch-egal-was-aus-euch-wird-Politik der letzten Jahre und ihrem eklatanten Misserfolg. Ich glaube an das Völkerrecht.
Dank an Nora Markard und Daniel Thym für hilfreiche Einschätzungen und Hinweise! All mistakes my own, of course.
Lieber Maximilian,
ich frage mich beim Lesen deines Textes an welches Völkerrecht Du glauben willst. Im Sinne der australischen Völkerrechtlerin Anne Orford muss man doch sagen: Kritische Rechtswissenschaft muss das sichtbar machen, was sichtbar ist. Was heißt das in Bezug auf den Türkei Deal?
1. Die Türkei ist kein sicherer Staat für Flüchtlinge. Die GFK gilt für sie nicht, schon jetzt gibt es zahlreiche Berichte über völkerrechtswidrige Rückschiebungen von Flüchtlingen in ihre Herkunftsstaaten, sprich: in Tod und Verderben.
2. Die Türkei ist auch kein sicherer Staat für die eigene Bevölkerung: Abschaffung der Pressefreiheit, Bombardements und Erschießungen gegen die Kurden, man könnte tausende Punkte aufzählen. Mit diesem Deal wird das autoritäre Sultanat von Erdogan und seiner AKP gestärkt, der Persilschein der EU kostet gerade einmal 6 Milliarden Euro (ein Witz im Vergleich zu den Milliarden, die während der Finanzkrise geflossen sind).
3. Die EU ist im historischen Vergleich wohl eine der reichsten Staatengemeinschaften, die je existierte und schafft es nicht vergleichsweise wenige Flüchtlinge aufzunehmen, unter täglichen Verstößen gegen das Völkerrecht und die Menschenrechte.
Summa summarum: Wenn das unser heutiges Verständnis des Völkerrechts ist, wenn wir daran glauben, dann können wir es gleich ganz lassen.
Heutzutage muss man doch jede Vereinbarung erst einmal auf einen möglichen Missbrauch abklopfen!!
Was ist, wenn die Türkei freundlich wegschaut bei den Schleppern, die zB. 5.000 pro Monat nach Griechenland schaffen. Diese 5.000 nimmt die Türkei wieder zurück, allerdings muss jetzt die EU 5.000 aus der Türkei aufnehmen. Insgesamt ist die Türkei also 5.000 losgeworden – pro Monat.
Ich weiß nicht ob, das ein so guter Deal ist!
@ C.A.Schreiber, ich verstehe Ihre Argumentation nicht. Wenn 5000 Flüchtlinge wie auch immer nach Griechenland kommen und die Türkei diese wieder zurücknimmt, dann schicken Sie 5000 auf legalem Weg in die EU. Allerdings sitzen dann auch wieder die 5000 welche auf illegalem Weg gekommen sind wieder in der Türkei. Das ergibt für mich einen Wert von 0. Die Türkei kann durch dieses System nicht mehr Flüchtlinge in die EU bringen.
Abgesehen davon halte ich es aber auch für keinen guten Deal. Die Türkei als Partner in dieser Angelegenheit kann und darf nicht die Lösung sein. Unter normalen Umständen würde die EU versuchen sich so weit wie möglich von der aktuellen politischen Situation in der Türkei zu distanzieren und nun kooperiert man mit diesem Land. Zwar erfordern harte Zeiten harte Maßnahmen aber diese ist für mich nicht nachvollziehbar!!
@McV: Die Türkei kann mit dem Deal alle Flüchtlinge, die sie derzeit hat (bis auf einen) in die EU bringen. Sie lässt hierzu einen Teil ihrer Flüchtlinge nach GRE ausreisen, nimmt die dann wieder zurück und kann im Gegenzug dieselbe Anzahl an die EU abgeben.
Beispiel:
1. Flüchtlinge in der Türkei im “Zeitpunkt 0” = 100; Ausreise nach GRE 10; Rücknahme nach Türkei ebenfalls 10; legale Abgabe an die EU ebenfalls 10.
2. Flüchtlinge in der Türkei im “Zeitpunkt 1” = 90; Ausreise nach GRE 10; Rücknahme nach Türkei ebenfalls 10; legale Abgabe an die EU ebenfalls 10.
3. Flüchtlinge in der Türkei im “Zeitpunkt 2” = 80 …
Sie verstehen, wie das funktioniert?
@McV Der Impuls, sich von der Türkei und ihrem Sultanatspräsidenten zu distanzieren, ist natürlich aller Ehren wert. Und, wie gesagt, ob dieser Deal die Lösung ist, darüber bin ich mir selbst alles andere als sicher. Aber auf dem Weg von Syrien/Irak/Afghanistan nach Europa liegt nun mal die Türkei, und wem daran gelegen ist, der Flüchtlingskrise eine unserer doch eigentlich hoch entwickelten politischen Problemlösungskompetenz würdige Lösung entgegenzustellen, die sich nicht darauf beschränkt, die Grenzen dichtzumachen und die Flüchtlinge an irgendwelchen Stacheldrahtzäunen bzw. im Mittelmeer verrecken zu lassen, der kommt an der Türkei nicht vorbei. Immer selbst schön sauber bleiben zu wollen in seinen eigenen souveränen Grenzen ist halt manchmal nicht genug.
@Lehrer: Warum sollten die Flüchtlinge so ein Spiel mitmachen? Wer aus Griechenland zurückgeschoben wurde, wird sich für das legale Kontingent ganz hinten anstellen müssen.
@Herr Lehrer danke für die Mathenachhilfe ich weiß schon warum ich Jurist geworden bin, Zahlen ergeben für mich einfach keinen Sinn 😉 Unter diesem Aspekt in der Tat ein schlechter Deal
@Maximilian Steinbeis ich stimme Ihnen da grundsätzlich zu in der momentanen kommt man vielleicht nicht umhin mit der Türkei eine Lösung zu finden. Nur wird es extrem schwierig sich in Zukunft, sollte sich die Lage wieder etwas beruhigen, wieder von der türkischen Politik zu distanzieren und dann wieder klare Grenzen zu ziehen. Herr Erdogan wird auf jeden Fall versuchen die Kuh zu melken solange sie noch Milch gibt, also das absolute Maximum aus dieser Lage für die Türkei aber insbesondere für seine eigenen Zwecke zu holen.
Ich will hier also nur zur