27 October 2022

Einheitliche Auslegung und Vorrang des Unionsrechts im Dialog der Gerichte

Die Frage nach einheitlicher Auslegung und Vorrang des Unionsrechts wirft eine Grundsatzfrage nach der Zuordnung und der Verteilung justizieller Macht im Rahmen der europäischen Integrationsgemeinschaft auf. Aus Sicht der unionsrechtlichen Praxis erscheint die nun mit neuer Vehemenz einsetzende Diskussion jedoch merkwürdig aus der Zeit gefallen. Ohne freilich fertige Lösung oder „letzte Worte“ in dieser Debatte anzubieten, sind hierzu einige Anmerkungen zum geltenden Vertragsrecht der EU und dessen Auslegung angebracht.

I.

Die jüngste Rechtsprechung verschiedener Verfassungs- und Höchstgerichte (Anótato Dikastírio Kýprou, Ústavní soud České republiky, Højesteret, Bundesverfassungsgericht, Tribunal Constitucional de Portugal, Conseil d’État, Curtea Constituțională a României, Trybunał Konstytucyjny) von Mitgliedstaaten der Europäischen Union gibt mit großer Deutlichkeit zu erkennen, dass die Frage nach einheitlicher Auslegung und Vorrang des Unionsrechts eine Grundsatzfrage nach der Zuordnung und der Verteilung justizieller Macht im Rahmen der europäischen Integrationsgemeinschaft aufwirft. Zudem ist sie untrennbar mit der allgemeinen Frage nach der Autonomie der Unionsrechtsordnung und des von ihr gewährleisteten Rechtsschutzsystems verbunden. Dies belegt, dass es in fine um das große Ganze geht, nämlich um die Befugnis zur Entscheidung über das Wesen und die Finalität der von den Verträgen instituierten Integration.

Aus Sicht der unionsrechtlichen Praxis mag die aktuelle Diskussion um den Anwendungsvorrang des Unionsrechts, die fast 60 Jahre nach den grundlegenden Urteilen des Gerichtshofs mit solcher Vehemenz einsetzt, merkwürdig aus der Zeit gefallen, ja anachronistisch erscheinen: Der Vorrang des Unionsrechts hat bis zum Vertrag über die Verfassung für Europa die Rechts- und Vertragspraxis der Unionsinstitutionen und der Mitgliedstaaten weitgehend lautlos bestimmt, so dass diese Vertragspraxis als implizite Akzeptanz des Vorrangs angesehen wurde (Ziller, S. 11 f.). Überdies dürfte jenseits aller juristischen Feinheiten kaum zweifelhaft sein, dass die Europäische Integration ohne die grundlegenden Entscheidungen der 60er Jahre, einen gänzlich anderen Verlauf genommen hätte (vgl. klassisch: Lecourt, Quel eut été le droit des Communautés sans les arrêts de 1963 et 1964?, in: L’Europe et le droit, Mélanges en hommage à Jean Boulouis, 1991, 349 ; s. auch: Claes, S. 103). Namentlich aus Sicht des mitgliedstaatlichen Rechts ist die Rangfrage nicht zuletzt symbolhaft befrachtet, während es aus der Sicht des Unionsrechts vor allem um die Supranationalität der Europäischen Union (jüngst: RS, Rn. 47), um die unmittelbare Geltung ihrer Rechtsordnung (jüngst: Euro Box Promotion, Rn. 247) und schließlich um die Gewährleistung der einheitlichen Auslegung des Unionsrechts (jüngst: Euro Box Promotion, Rn. 246, 249, 251; RS, Rn. 49, 51, 55) geht.

Im hier gegebenen Rahmen kann ich keine „fertige Lösung“ oder eine innovative Erkenntnis zu diesen Fragen vorstellen, zumal diese so geartet sind, dass sie nach meiner Einschätzung gar keine „letzten Worte“ ermöglichen. Daher maße ich mir auch nicht an, alle bedenkenswerten Aspekte diese Themen- und Problemstellung in meinen nachfolgenden Ausführungen zu behandeln.

Vielfältige politische Phänomene dieser Zeit bilden den Rahmen für die nun wieder aufgeflammte Vorrangdebatte. Zu nennen sind etwa einige Desintegrationsbestrebungen, die im Zuge des Brexits auch anderorts deutlich zu Tage getreten sind. Tiefgreifender sind vielleicht die Schwierigkeiten, die von den politischen, wirtschaftlichen, sozialen und rechtsstaatlichen Ungleichgewichten ausgelöst worden sind, die nach den Beitritten der Jahre 2004, 2007 und 2013 in der Union vermehrt zu erheblichen Dysfunktionalitäten geführt haben. Es ist legitim und verständlich, dass in einem solchen Umfeld auch Fragen nach der Finalität der Union und der rechtspolitischen Angemessenheit ihrer Konstitutionsprinzipien neu gestellt werden. Vielleicht ist es, jedenfalls in Deutschland, aber auch viel schlichter das Verlangen, eine verfassungsrechtliche und -politische Diskussion nachzuholen, die zum maßgeblichen Zeitraum in den 60er Jahren nicht oder jedenfalls nicht mit einem annähernd vergleichbaren Konfliktpotential geführt worden ist.

Diesen berechtigten Fragen und Problemstellungen werde ich im Folgenden nicht nachgehen. Als Richter des Gerichtshofs möchte ich meine Beiträge zu dieser Diskussion auf Anmerkungen zum geltenden Vertragsrecht der EU und dessen Auslegung beschränken. Nur abschließend möchte ich diese Betrachtungen in einen perspektivischen Ausblick einmünden lassen.

II.

Zur einheitlichen Auslegung und zum Vorrang des Unionsrechts im Gerichtsdialog möchte ich 7 Thesen formulieren.

These 1: Die Frage nach dem Vorrang des Rechts der Union vor dem Recht ihrer Mitgliedstaaten bewegt sich in einer schwierigen Gemengelage rechtlicher Topoi, die mitunter von einem symbolhaften Verständnis dessen geprägt sein kann, was den föderalen Schwebezustand ausmacht, in dem sich die Europäische Union befindet und der ihre Funktionsbedingungen bestimmt. Aus der Perspektive der Verträge erscheint diese Frage allerdings im Kern als logische Folge des Grunderfordernisses einer einheitlichen Geltung der Verträge für und in den Mitgliedstaaten.

Die Frage nach einheitlicher Auslegung und Vorrang des Unionsrechts betrifft die rechtspraktisch zentrale Verortung der Jurisdiktionskompetenz für die letztverbindliche Entscheidung über Art und Reichweite der innerstaatlichen Geltung des Unionsrechts. Für mitgliedstaatliche Gerichte wie für Rechtsschutzsuchende kommt es regelmäßig fallentscheidend darauf an, ob eine Rechtsnorm des mitgliedstaatlichen Rechts oder eine mit Anwendungsvorrang versehene Bestimmung des Unionsrechts in concreto heranzuziehen ist, um einen Rechtsstreit zu entscheiden. Die Vorrangregel verfolgt also keinen normhierarchischen Selbstzweck, sondern hat einen instrumentellen Charakter, weil sie die Reichweite des von mitgliedstaatlichen Institutionen und insbesondere von der Judikative verbindlich zu beachtendes Unionsrechts bestimmt, sei es zum Zweck der konformen Auslegung des nationalen Rechts, sei es zur Anwendung unmittelbar wirkender Bestimmungen des Unionsrechts.

These 2: Mitgliedstaatliche Gerichte sind in ihrer täglichen Spruchpraxis gehalten, über die Art und Reichweite der innerstaatlichen Geltung des Unionsrechts anhand seiner vom Gerichtshof bestimmten Auslegung zu entscheiden. Die Erfordernisse von einheitlicher Geltung und Vorrang des Unionsrechts sind daher untrennbar miteinander verbunden. Die in Artikel 344 AEUV bestimmte ausschließliche Zuständigkeit des Gerichtshofs für die letztverbindliche Auslegung des Unionsrechts, die namentlich im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahren im Dialog mit den mitgliedstaatlichen Gerichten erfolgt, bildet hierfür in rechtlicher und historischer Perspektive das Leitmotiv, und zwar sowohl im Hinblick auf die Erfordernisse der Einheitlichkeit einer Auslegung des Unionsrechts als auch zur Eröffnung der Pluralität rechtlicher Lösungen für die Einhaltung des Unionsrechts (wie in Centraal Israëlitisch Consistorie van België oder in WABE).

Entscheidend ist, dass die als vollständiges System konzipierten Rechtsschutzverfahren des Unionsvertrages ohne den Vorrang der im Rahmen dieser Verfahren gefundenen Auslegung des Rechts der Union ihrer Verbindlichkeit benommen würden. Vor allem aber wäre die Union der Rechtsmacht enthoben, die einheitliche Geltung des Unionsrechts in den Mitgliedstaaten zu gewährleisten und im Zweifelsfall auch durchsetzen zu können. In diesem Zusammenhang ist insbesondere auf die durch den Lissabonner Vertrag erneut gestärkten Befugnisse der Kommission nach Artikel 260 AEUV hinzuweisen, deren ratio legis gerade darin besteht, eine einheitliche Geltung des Unionsrechts in den Mitgliedstaaten durchsetzen zu können.

These 3: In konstruktiver Hinsicht beantwortet sich erstens die Frage, ob die Verträge und das Recht der Union im Übrigen Vorrang vor dem mitgliedstaatlichen Recht beanspruchen, nur anhand der Auslegung des Unionsrechts. Zweitens richtet sich demgegenüber die Frage, ob das mitgliedstaatliche (Verfassungs-)Recht dem Unionsrecht den entsprechenden Vorrang einräumt und daran ggf. Bedingungen knüpft, ausschließlich nach der Auslegung des jeweiligen nationalen Rechts. Drittens ist allerdings die weitergehende Frage, ob die Bedingungen, die ein mitgliedstaatliches (Verfassungs-)Recht ggf. an die Anerkennung des Vorrangs des Rechts der Union stellt oder für seine Einräumung vorsieht, mit den europäischen Verträgen vereinbar sind, wiederum eine Frage der Auslegung ebendieser Verträge (vgl. schon Simmenthal II, sowie Melki und Abdeli).

In dieser Dialektik zeigt sich die große Bedeutung, die dem Dialog zwischen den Gerichten im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens zukommt – nicht zuletzt, um zu ergründen ob ein (möglicherweise sogar identitätsstiftender) Verfassungssatz in gleicher Weise auf Unionsebene geschützt wird bzw. werden sollte und damit die Auslegung des Unionsrechts nicht nur beeinflusst, sondern prägt (vgl. nur die Entscheidungen in Sachen „Omega“, zum  kurdischen TV-Sender „Roj TV“, zum russischen TV-Kanal „NTV Mir Lithuania“ sowie jüngst im sog. „lettischen Hochschulfall“). Dabei handelt es sich indes nicht um eine Frage der näheren Ausgestaltung oder Begrenzung der Vorrangregel, sondern um eine Frage der Auslegung des materiellen Unionsrechts, die vom Gerichtshof im Rahmen der vertraglich vorgesehenen Rechtsschutzverfahren vorzunehmen und in allen Mitgliedstaaten gleichermaßen verbindlich ist. Ungeachtet dessen ist es für den Gerichtshof ein Gebot der Rechtsprechungsklugheit, diese Auslegung unter Berücksichtigung der Stellungnahmen der Verfahrensbeteiligten und vor allem der Gesichtspunkte zu treffen, die das Vorlagegericht dazu veranlasst hat, seine Auslegungsfragen zu stellen und ggf. Zweifel an der Richtigkeit einer bereits vorgenommenen Auslegung zu hinterlegen.

These 4: Im Hinblick auf die von Artikel 4 Abs. 2 Satz 1 EUV gewährleistete Gleichheit der Mitgliedstaaten vor den Verträgen und das Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit nach Artikel 18 Abs. 1 AEUV wäre es problematisch, Mitgliedstaaten auf Grund der einseitigen Berufung auf ihre verfassungsrechtlichen Vorstellungen kraft Unionsrechts von der verbindlichen Auslegung ebendieses Unionsrechts durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs zu dispensieren. Denn auf diese Weise würden bestimmte Mitgliedstaaten in die Lage versetzt, Unionsbürgern die Ihnen aus dem Recht der Union erwachsenden Rechte vorzuenthalten. Darüber hinaus würden solche Mitgliedstaaten gegenüber denjenigen privilegiert, die aus verfassungsrechtlichen Gründen gehindert sind, gerichtliche Vorbehalte gegen die innerstaatliche Wirkung des Unionsrechts zu formulieren.

Die Vorstellung von eines verfassungsrechtlich „mediatisierten“ Vorrangs, der als Regulativ für das Maß der mitgliedstaatlich „akzeptablen“ Öffnung der nationalen Rechtsordnung fungiert, scheitert bereits an der Heterogenität der verfassungsrechtlichen Vorbehalte, die mitgliedstaatliche Gerichte gelten machen: Für die einen sichert der Gerichtshof in Auslegung des Unionsrechts „zu wenig“ Grundrechtsschutz (klassisch z.B. das Bundesverfassungsgericht in „Solange I“ und die Corte Costituzionale in Frontini, Granital oder im sog. „Taricco II“-Verfahren), für die anderen wird „zu viel“ Grundrechtsschutz gewährleistet (so für den Conseil d’État in „French Data Network“) und für die dritten entspricht eine Auslegung unionsrechtlicher Kompetenznormen nicht dem Verständnis, von dem ein bestimmter Mitgliedstaat ausgegangen sei (so für das Trybunał Konstytucyjny). Diese Problematik wird dadurch verschärft, dass sich das unionsrechtlich zu gewährende grundrechtliche Schutzniveau oftmals aus ausdrücklichen Festlegungen des Primärrechts (vgl. Artikel 52 Abs. 2 GRCh) oder des Sekundärrechts ergibt.

These 5: Die in Artikel 4 Abs. 2 Satz 1 EUV gleichermaßen enthaltene Verpflichtung der Union zur Achtung der jeweiligen nationalen Identität der Mitgliedstaaten gewährt diesen zwar einen weiten Gestaltungsspielraum in Bezug auf Regelungsbereiche, in denen sich die nationale Identität widerspiegelt, vermag die Mitgliedstaaten jedoch nicht von der Beachtung ihrer primär- und sekundärrechtlichen Verpflichtungen zu dispensieren (vgl. Torresi, Rn. 54 ff.; Polen/Parlament und Rat, Rn. 265 f.; RS, Rn. 68 ff.) und berechtigt sie daher auch nicht zu übermäßigen Beschränkungen der Grundfreiheiten (Sayn-Wittgenstein, Rn, 92 ff.; Las, Rn. 27 ff.; Coman, Rn. 42 ff.;