01 January 2016

Einige Neujahrsbetrachtungen aus der Uckermark

Wir verbringen die Feiertage in einem Dörfchen in der Uckermark, wo wir seit ein paar Jahren ein kleines Häuschen haben. Wie Tausende andere kosmopolitische Berliner finden wir es toll, zwischen unseren Reisen durch die Weltgeschichte tüchtig im Kompost zu wühlen und Holz zu hacken und in Gummistiefeln herumzulaufen und was der erdverbundenen Tätigkeiten mehr sind. Das gibt uns Kraft und Lebensfreude und das angenehme Gefühl, einen Ort zu haben, der uns Heimat ist, ohne uns in irgendeiner Weise zu begrenzen und zu beschränken.

Wir werden nicht gern begrenzt und beschränkt, das macht uns zu Kosmopoliten. Ich bin in Oberbayern geboren und aufgewachsen, der Klischee-Heimat schlechthin, aber bei dem Gedanken, dort leben zu müssen, schüttelt es mich. Ich habe einen ganzen Roman schreiben müssen, um meine ganze sehnsuchtsgetränkte Wut auf diese aus Borniertheit und Sentimentalität zusammengelogene Scheißheimat Oberbayern in Worte fassen und mir so vom Hals schaffen zu können. Ich lebe in Berlin, der Stadt ohne Einheimische, die seine wenigen alt eingessenen Bewohner in Randbezirke wie Reinickendorf verbannt, die kein Mensch jemals betritt. Dafür liebe ich Berlin.

Grenzen sind etwas, was wir als Hindernis empfinden. Ich habe im Jahr 1990 Abitur gemacht, die Öffnung aller Grenzen in Europa fällt mit meinem Eintritt ins Erwachsenenleben zusammen. Hinter der nächsten Grenze ist für mich immer etwas, das mich neugierig macht und meine Lebensgeister weckt, und wer mich  hindern will, dort hinzugehen, der ist mein Feind.

Unser Dörfchen in der Uckermark besteht mittlerweile zu einem nicht geringen Teil aus kosmopolitischen Berlinern wie uns. Viele der Alteingesessen sind fortgezogen, von den Verbleibenden sind viele alt und sterben, ihre Häuschen stehen zum Verkauf, und wer sie kauft, ist in neun von zehn Fällen einer von uns. Unter den verbleibenden Alteingesessenen sind natürlich viele wahnsinnig nett und offen und hilfsbereit, aber es gibt auch eine Menge, die uns mit sehr gemischten Gefühlen betrachten: Ohne uns Berliner wären ihre Grundstücke nicht mehr so viel wert, und weil wir dauernd Hilfe brauchen bei unseren erdverbundenen Tätigkeiten, sorgen wir in moderatem Umfang für Geld und Arbeitsplätze. Aber das heißt nicht, dass sie uns mögen.

Wir spüren das und geben uns eine irre Mühe, nicht patronizing zu erscheinen, wir fahren  keine dicken Autos, wir sind nie von oben herab, wir bemühen uns, uns möglichst anzugleichen, sagen vielleicht sogar mal “icke” oder “dütte”, aber das hilft uns natürlich überhaupt nichts, im Gegenteil: Das ist natürlich noch viel mehr patronizing als der großkotzigste Auftritt, und unwürdig ist es obendrein. Als gute Kosmopoliten sind wir gewohnt, uns stets mit den Augen unseres Gegenübers zu betrachten, und was wir da sehen, sind sich anbiedernde City Slickers, das Letzte, das wir sein wollen. Weswegen wir uns nur noch mehr winden und grinsen und gut Wetter zu machen versuchen und uns umso elender dabei fühlen.

Es gibt keinen Ausweg. Da ist sie, die Grenze. Unser ganzer schöner Kosmopolitismus hilft uns hier in der Uckermark überhaupt nichts. Das Äußerste, was wir mit den Alteingesessenen erreichen können, ist eine prekäre Balance des distanzierten wechselseitig miteinander Zurechtkommens, über eine Kluft der Unterschiedenheit hinweg, die sich gegen jeden Versuch, sie zu überschreiten, behauptet. Hier stößt unser Kosmpolitismus an seine höchsteigene Grenze.

Was unterscheidet uns? Es ist neben vielem anderen der Kosmopolitismus selbst. Auf der anderen Seite der Grenze leben Menschen, die ein ungebrochenes Verhältnis zu ihrer Heimat haben, ganz einfach deshalb, weil ihr Lebensradius vielleicht 50 Kilometer umfasst, innerhalb dessen sie wohnen, arbeiten, ihre Freunde haben, alles, was sie jeden Tag beschäftigt und was ihnen etwas bedeutet. Für sie sind Grenzen nichts Beschränkendes, kein Freiheitsverlust, sondern wenn überhaupt, dann eher etwas Einhegendes, Beschützendes. Wenn wir Kosmopoliten sind, dann sind sie Patrioten, im Sinne von πατρίς = Heimat.

Es ist von hier nicht weit bis nach Polen. Jenseits der Oder liegt ein anderes Land, aber ist es überhaupt noch ein anderes Land? Die Uckermärker fahren alle vor Sylvester in Schwedt über die Brücke, weil es drüben so ohrenzersprengend laute Knaller zu kaufen gibt. Mir wurde berichtet, dass an der Grenze gestern Zöllner patroulliert seien, um die Einfuhr der hier nicht zugelassenen Feuerwerkskörper zu unterbinden, aber nach der Erfahrung von gestern Mitternacht scheint das nicht besonders gut funktioniert zu haben; jedenfalls schien mir ein paar Mal, als sei im Dorf ein Gastank explodiert.

In Polen haben die Patrioten vor ein paar Wochen die Macht übernommen. Zuvor hatte eine relativ kosmopolitische Partei regiert, und zwar, wie mir und den allermeisten in Berlin schien, mit sensationellem Erfolg. Die absolute Mehrheit der polnischen Wähler_innen fand diese kosmopolitische Partei trotzdem zum Kotzen: wo wir vernünftige, weltoffene, das Wohl Polens effizient mehrende Politiker_innen sahen, dort sahen sie arrogante, verlogene City Slicker.

Vielleicht ist das sogar die entscheidende politische Polarisierung unserer Zeit: Kosmopoliten vs. Patrioten. In ganz Europa sortiert sich gerade die politische Landschaft entlang dieser Unterscheidung neu, quer durch alle Volksparteien, quer durch alle Nationen. Sie durchschneidet auch die alte Unterscheidung von Rechts und Links. Die Wut der Podemos-Wählerin in Spanien scheint mir mit der Wut des PiS-Wählers in Polen mehr gemein zu haben, als beiden vielleicht klar ist; jedenfalls richtet sie sich gegen den gleichen Typ von aalglattem, in London und LA zu akzentfreiem Englisch gelangtem, flugs zwischen Politik, Finance, Academia und internationalen Organisationen hin- und herwuselndem, überall und immerfort finanzielles, soziales und Bildungskapital akkumulierendem Globalisierungs-Arschgesicht, mit anderen Worten: uns.

Was sollen wir tun, wir Kosmopoliten? Wie sollen wir mit dieser Grenze umgehen?

Ich weiß es nicht. Wie viele, so verspüre auch ich die Versuchung, angesichts dieser speziellen Grenze gleichsam selbst zum Patrioten zu werden: Mit denen? So weit kommt’s noch! Raus mit ihnen aus unserer kosmopolitischen Heimat, die können uns gestohlen bleiben. Ob “besorgte Bürger” in Dresden oder uniformierte Neofaschisten in Budapest, mit denen gibt es nichts zu reden, und dass uns und die eine möglichst klare und deutliche Grenze trennt, darum möchte ich doch bitten.

Auf der anderen Seite will ich mich als Kosmopolit nicht so leicht geschlagen geben. Die gehen ja nicht weg, bloß weil ich mich von ihnen abgrenze. Die bleiben. Sie sind ganz nah. Sie leben gleich nebenan und schauen aus kleinen, misstrauischen Augen über den Gartenzaun, und wenn ich sie grüße, ist keineswegs gesagt, dass sie mich zurückgrüßen.

Sie bleiben da, so wie ich ja auch. Mich werden sie auch nicht los. Ich bleibe mitten drin in ihrer Heimat, mit meinem grinsenden Großstädtergesicht, mit meiner Unfähigkeit, meinen eigenen Rasenmäher zu reparieren, mit meinen neoprengefütterten Thermogummistiefeln. Alles, worauf wir beide hoffen können, ist eine prekäre Balance des distanzierten wechselseitig miteinander Zurechtkommens.

Aber das ist ja schon mal was.

Wir Kosmopoliten müssen in der Lage bleiben, mit den Patrioten Politik zu machen. Wir müssen ihnen nicht zu Willen sein, wir müssen uns ihre Sorgen und Ängste nicht zueigen machen, wir müssen sie nicht mal mögen. Aber wir müssen mit ihnen Politik machen können. Das ist unsere Aufgabe und unsere Verantwortung, unsere mehr noch als ihre, dafür sind wir schließlich Kosmopoliten. Wir müssen in der Lage bleiben, hinter die Grenze zu gehen und neugierig zu bleiben auf das, was sich dort befindet. Wir müssen uns nicht verbrüdern, aber uns so weit offen halten, dass wir unterscheiden können, wo wir mit den Patrioten zurechtkommen und wo wir uns wehren müssen.

Wehren müssen wir uns immer dann, wenn Patrioten ihrerseits die Balance des miteinander Zurechtkommens kaputtmachen wollen. Wenn sie ihrerseits nicht mehr mit uns zurechtkommen, sondern uns vertreiben wollen. In Ungarn hat die patriotische FIDESZ-Regierung die Verfassung so umgebaut, dass dort möglichst kein Kosmopolit jemals wieder etwas zu sagen haben wird. In Polen deutet manches darauf hin, dass die PiS Ähnliches im Schilde führt. Das können wir nicht hinnehmen. Das ist der Fall, wo die friedliche Bewirtschaftung der Grenze zwischen Kosmopoliten und Patrioten ihrerseits an ihre Grenze stößt.

Diesseits dieser Grenze? Höflich bleiben, immer zuerst grüßen, nicht buckeln, aber auch nicht schroff werden. Miteinander zurechtkommen halt. Und wer weiß, vielleicht ist der Patriotismus der Patrioten am Ende doch gar nicht so festgefügt. Vorgestern waren wir in Schwedt im Schwimmbad, in der Grenzstadt an der Oder. Dort sind alle Schilder zweisprachig, und in der Saunalandschaft spazieren lauter Polen, Berlinerinnen und Uckermärker herum, eine so splitternackt wie der andere. Schwedt hat durch die Öffnung der Grenzen eine ganze Himmelsrichtung hinzugewonnen. Ich kann mir kaum vorstellen, dass sich auch die patriotischste Schwedterin nach den Zeiten zurück sehnt, da Schwedt nichts weiter als die hinterletzte Stadt vor der Grenze war.

Mein Nachbar auf der anderen Straßenseite, ein sehr netter Kerl übrigens, hat mich zu meiner Freude neulich eingeladen, doch bei Gelegenheit mal auf ein Bierchen vorbeizuschauen. Das werde ich im neuen Jahr gerne tun.


SUGGESTED CITATION  Steinbeis, Maximilian: Einige Neujahrsbetrachtungen aus der Uckermark, VerfBlog, 2016/1/01, https://verfassungsblog.de/einige-neujahrsbetrachtungen-aus-der-uckermark/, DOI: 10.17176/20160831-115218.

4 Comments

  1. jh Sat 2 Jan 2016 at 18:24 - Reply

    Grenzen ziehen und wie zufällig immer auf der richtigen Seite stehen: Politische “Analyse” und persönlicher Distinktionsgewinn fallen in eins. Besser kann das Jahr 2016 kaum beginnen. Darauf ein Glas Rotkäppchen-Sekt.

  2. Maximilian Steinbeis Sat 2 Jan 2016 at 21:35 - Reply

    Na klar doch. Prost.

  3. Aufmerksame Leserin Sun 3 Jan 2016 at 22:03 - Reply

    Typische Äußerung eines typischen Vertreters der westdeutschen Generation, die in der Schule zum ersten Mal auf Klassenreise ins Ausland durfte, sich dort vor lauter Erregung das Etikett “kosmopolitisch” angeheftet hat und sich seither Politik nur noch als Politik des Lebensstils vorstellen kann. Trostlos.

  4. Christian Schmidt Wed 13 Jan 2016 at 12:53 - Reply

    Wunderschoener Artikel. Ein paar Kommentare:

    1) Interessant ist die Wortwahl ‘Kosmopolit’. Wie waere es mit ‘Einwanderer’? Zwar sind Oberbayern und Berlin durch historischen Zufall immernoch / wiedermal im selben Staat, aber ansonsten liest es sich sehr wie eine Auswanderergeschichte.
    2) Was PiS und Podemos angeht frage ich mich in wie weit das Benehmen der ‘Kosmopoliten’ eine Rolle gespielt hat. Sie beschreiben sehr schoen das Bemuehen mit den oertlichen Patrioten guten Umgang zu haben, die Zweifel ob der Versuch nicht an sich schlechtes Benehmen ist und die Freude wenn es honoriert wird. Ich habe jetzt Polen nicht sehr verfolgt aber frage mich schon ob es nicht eher (politsch schlechtes) Benehmen (arroganz, Korruption, etc) war dass zum dem Ergebnis fuehre.

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