Einzug ohne Ausgleich
Schwachstellen des Wahlrechts in Brandenburg und Sachsen
Da das Wahlrecht in Brandenburg und Sachsen den Ausgleich von Überhangmandaten begrenzt, könnten bei den anstehenden Landtagswahlen im September mehr AfD-Abgeordnete in die Landtage einziehen, als der Partei nach dem Verhältnis der abgegebenen Stimmen eigentlich zustünden. Eine Änderung des Wahlrechts ist nach den Wahlen dringend angezeigt. Wählende in Brandenburg sollten über eine strategische Abgabe ihrer Erststimme nachdenken – auch, um ein verfassungswidriges Wahlergebnis zu verhindern.
Autoritär-populistische Sperrminorität nach den Wahlen wegen begrenzter Überhangmandate?
Mit der Wahlrechtsreform auf Bundesebene ist der altbekannte Mechanismus, wonach siegreiche Direktkandidierende in jedem Fall in das Parlament einziehen, weggefallen. In Sachsen und Brandenburg bestimmt aber weiterhin die Zweitstimme als dominierendes Element der Verhältniswahl (weitgehend) die Sitzverhältnisse im Parlament, während die „personalisierende“ Erststimme unabhängig von einer Zweitstimmendeckung immer den Einzug in das Parlament sichert. Zugleich bleiben damit sogenannte Überhangmandate erhalten, die immer dann entstehen, wenn eine Partei mehr siegreiche Direktkandidierende ins Parlament entsenden kann, als ihr eigentlich Sitze nach dem Zweitstimmenproporz zustünden.
Sogenannte Ausgleichsmandate sollen diese Überhangmandate kompensieren, indem sie den vom Zweitstimmenergebnis vorgegebenen Proporz wiederherstellen, zugleich aber auch das Parlament vergrößern. Um dem allzu starken und kostenintensiven Anwachsen der Landesparlamente etwas entgegenzusetzen, haben Sachsen und Brandenburg die Zahl der Ausgleichsmandate beschränkt.1) In Sachsen darf es nicht mehr Ausgleichsmandate als Überhangmandate geben (§ 6 VI 3 Sächsisches Wahlgesetz). Damit stehen für die anderen Parteien nicht genügend Mandate zur Verfügung, um den Überhang auszugleichen – je mehr Überhangmandate anfallen, desto stärker wird das Sitzverhältnis verzerrt. In Brandenburg wiederum ist die Zahl der Abgeordneten insgesamt auf 110 begrenzt (§ 3 VII Brandenburgisches Landeswahlgesetz), was zu dem paradoxen Ergebnis führt, dass die Anzahl der Ausgleichsmandate immer weiter sinkt, je mehr Überhangmandate entstehen.2) Der Verzerrungseffekt wird hierdurch noch verstärkt.
Auf diesem Wege könnte die AfD bei den anstehenden Landtagswahlen in Sachsen und Brandenburg im schlimmsten Fall sogar über ein Drittel der Sitze erlangen, obwohl ihr nach dem Zweitstimmenproporz eigentlich weniger Sitze zustünden. Sie könnte so eine Sperrminorität erringen, die ihre Möglichkeiten zur parlamentarischen Obstruktion vervielfältigen würde. Verfassungsänderungen, die Besetzung der Verfassungsgerichte oder die Auflösung des Landtages könnte sie dann von ihrer Mitwirkung abhängig oder zur Voraussetzung für Zugeständnisse an anderer Stelle machen.
Unterschiedliche Auswirkungen in Sachsen und Brandenburg
In Sachsen wird die Ausgleichsmandatsbegrenzung aber voraussichtlich kein entscheidender Faktor sein. Hier läge die AfD nach einer Analyse des Instituts wahlkreisprognose.de aus dem März 2024 bei etwa 28 Direktmandaten und damit gleichauf mit der CDU. Bei nach der Zweitstimmenauswertung jeweils 42 Sitzen für CDU und AfD3) würden voraussichtlich keine Überhang- und somit auch keine Ausgleichsmandate entstehen, die AfD hätte schon unabhängig von der Erststimme die Sperrminorität erreicht. Damit die Mandatsbegrenzung überhaupt zur Anwendung kommen und eine relevante Verzerrung bewirken könnte, müsste das tatsächliche Wahlergebnis deutlich abweichen und die AfD einen starken Überhang gegenüber ihren Listenkandidierenden erzielen. Da sich ihr kürzliches Abschneiden bei den Wahlen zum Europäischen Parlament in etwa mit dieser Prognose deckt, ist davon aber nicht auszugehen.
Anders liegen die Dinge in Brandenburg, wo die AfD zwar ebenfalls stärkste Kraft werden könnte, allerdings mit einem höheren Anteil der Direktmandate und zugleich einem schwächeren Zweitstimmenergebnis als in Sachsen. Nach einer vorläufigen Berechnung von Prof. Dr. Robert Vehrkamp im Podcast „Lage der Nation“ vom 25. April und 2. Mai 2024 stünden der AfD nach Zweitstimmen aktuell 24 Sitze im Parlament und damit unter einem Drittel der Sitze zu. Sie würde jedoch 37 der 44 Direktmandate und damit 13 Überhangmandate gewinnen. Ungefähr sieben dieser Überhangmandate könnten infolge der gesetzlichen Begrenzung nicht ausgeglichen werden – wodurch die AfD über ein Drittel der Sitze erlangen würde. Eine vergleichbare Verzerrung würde auch dann eintreten, wenn sie im „Windschatten“ des starken Ergebnisses bei den Europawahlen noch an Stimmen zulegen würde.
Hier offenbaren sich die Schwächen eines Wahlrechts, das Ausgleichsmandate beschränkt. Denn Direktkandidierende werden per Mehrheitswahl gewählt, sodass im konkreten Wahlkreis ein minimaler Vorsprung bereits ausreicht. Erzielt die Partei dann einen hohen Anteil an Zweitstimmen, so werden die hierdurch errungenen Mandate, soweit nötig, einfach mit den siegreichen Direktkandidierenden besetzt. Wenn sie als stärkste Kraft aber einen relativ niedrigen Anteil der Zweistimmen erringt und viele Überhangmandate anfallen, die nicht vollständig ausgeglichen werden, dann wird der Zweitstimmenproporz im Parlament immer stärker verzerrt.
Nachspiel vor dem brandenburgischen Verfassungsgericht?
Dieser Mechanismus könnte in Brandenburg zu einem verfassungswidrigen Wahlergebnis führen. Denn das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung vom 25.7.2012 die zulässige Zahl ausgleichsloser Mandate im Bundestag auf die Hälfte der Fraktionsstärke begrenzt. Andernfalls bestehe ein Verstoß gegen die Grundsätze der Erfolgsgleichheit der Wahl, die als elementarer Bestandteil des Demokratieprinzips den gleichen Einfluss aller Stimmen auf das Wahlergebnis verlangt, sowie der Chancengleichheit der Parteien (Rn. 52, 59, 65, 140 der Entsch.). Umgerechnet auf den brandenburgischen Landtag läge, so der „Lage“-Podcast vom 2. Mai, diese Grenze bei zwei bis drei unausgeglichenen Überhangmandaten, würde also deutlich überschritten. Damit könnte es zu einer nachträglichen Korrektur des Wahlergebnisses, im schlimmsten Fall sogar zu Wiederholungs- bzw. Neuwahlen kommen.
Nämlich wäre die aus der Wahl hervorgegangene Mandatsverteilung innerhalb eines Wahlprüfungsverfahrens nach Art. 63 der brandenburgischen Verfassung angreifbar, das sich zunächst vor dem brandenburgischen Landtag, im zweiten Schritt dann vor dem Landesverfassungsgericht abspielen und auf der Verfassungswidrigkeit des zugrundeliegenden Landeswahlrechts (Rn. 10) basieren würde. Auch im Falle der Verfassungswidrigkeit wäre aber zu beachten, dass Wahlergebnisse nach allgemein anerkannter landesverfassungsgerichtlicher (Rn. 20) und bundesverfassungsgerichtlicher (Rn. 103) Judikatur aufgrund ihrer Verankerung im Demokratieprinzip größtmöglichen Bestandsschutz genießen. Die Wahl der Volksvertretung rückwirkend aufzuheben ist nur möglich, wenn ihr Fortbestand schier „unerträglich“ und eine Berichtigung der Wahlergebnisse unmöglich erschiene.4)
Zwar sind, so auch der Sächsische Verfassungsgerichtshof (S. 20), unausgeglichene Überhangmandate nur in eng begrenztem Umfang zulässig. Im Rahmen der Landtagswahlen 2009 hat das Schleswig-Holsteinische Landesverfassungsgericht sogar den Mechanismus zur Begrenzung von Ausgleichsmandaten für unvereinbar mit der Verfassung erklärt und eine zweijährige Frist zur Durchführung von Neuwahlen gesetzt. Hier war bei insgesamt 95 Abgeordneten und drei nicht ausgeglichenen Überhangmandaten eine deutliche Verzerrung des Zweitstimmenproporzes5) und insoweit eine mit unserem Szenario vergleichbare Situation eingetreten. Allerdings war aufgrund weiterer Regelungen, die so in Brandenburg nicht existieren, eine isolierte Ergebnisberichtigung nicht möglich (Rn. 182 der Entsch.). Und auch, ob die bundesverfassungsgerichtliche Formel der „halben Fraktionsstärke“ im Bundestag auf einen deutlich kleineren Landtag übertragen werden kann, ist fraglich.6) Wiederholungs- bzw. Neuwahlen anzuordnen wäre also nicht ausgeschlossen; näher läge wohl eine Korrektur der Wahlergebnisse durch das Gericht. Jedenfalls droht aber ein verfassungswidriges Wahlergebnis.
Änderung des Wahlrechts und strategische Stimmabgabe
Wahlrechtsänderungen kurz vor den Wahlen untergraben die Glaubwürdigkeit demokratischer Prozesse (S. 10, 27). Es ist daher gut, dass es vor der parlamentarischen Sommerpause und den Wahlen zu keiner Anpassung unter Berücksichtigung aktueller Umfragen kommt. Kurzfristig ist viel mehr an die brandenburgischen Wahlberechtigten zu appellieren, eine strategische Abgabe ihrer Erststimme zu erwägen, um die Zahl an Direktmandaten für die AfD möglichst zu reduzieren. Eine Orientierung über die prognostizierten Erststimmenergebnisse, die die Parteifarben mit steigendem Vorsprung in zunehmender Intensität darstellt, findet sich hier und hier. Das könnte mögliche juristische Folgen entschärfen. Vor allem aber würde es eine Verzerrung der Sitzverhältnisse zugunsten der AfD abschwächen.
Langfristig ist eine Rechtsänderung aber, vor allem in Brandenburg, dringend angezeigt. Denn der aktuelle Mechanismus veranlasst Wählende dazu, gerade nicht die Direktkandidierenden der präferierten, sondern einer dritten Partei zu wählen, um zu verhindern, dass die Sitzverhältnisse zugunsten der AfD und zuungunsten der eigentlich bevorzugten Partei verzerrt werden. Die bevorzugte Partei wird also in Abhängigkeit vom Wahlergebnis gerade dadurch gestärkt, dass mehr Erststimmen auf eine konkurrierende Partei entfallen. Es ist damit kaum noch erkennbar, wie sich die Stimmabgabe in der Wahlkabine auf den Erfolg der Kandidierenden auswirken wird. Dies wirft Fragen nach der Vereinbarkeit mit dem Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl (Rn. 85) auf und kann den Wählenden auf Dauer nicht abverlangt werden. Hinzu treten die Probleme hinsichtlich der Gleichheit der Wahl und der Chancengleichheit der Parteien.
Es käme daher in Brandenburg, wie in Thüringen oder Hessen, ein Vollausgleich der Überhangmandate in Betracht. Auch eine grundlegende Reform wie auf Bundesebene wäre denkbar, sodass die Direktkandidierenden der Zweitstimmendeckung unterliegen und somit ausschließlich die Zweitstimme die Sitzverhältnisse bestimmen würde. Alternativ könnte Brandenburg dem Beispiel Sachsens folgen und, anstatt der paradox wirkenden Begrenzung der Gesamtzahl an Abgeordneten, zumindest die Zahl der Ausgleichsmandate selbst deckeln.7) Doch auch der Sächsische Landtag sollte eine Wahlrechtsänderung erwägen, da hier mit der zunehmenden Pluralisierung der Parteienlandschaft ebenfalls verzerrte Sitzverhältnisse eintreten könnten. Sollte die AfD in Zukunft angesichts der wachsenden Zahl konkurrierender Parteien einen geringeren Anteil der Zweitstimmen und zugleich viele Direktmandate erringen, dann steigt das Risiko unausgeglichener Überhangmandate. Es besteht deshalb in beiden Ländern, vor allem jedoch in Brandenburg, parlamentarischer Handlungsbedarf.