Es geht eben doch: Nochmals zur ersten Vorlage des Conseil Constitutionnel an den EuGH
Man muss als nationales Höchstgericht in EU-Angelegenheiten nicht mit Ultra-vires-Knüppeln hantieren oder sich in Zentralbankangelegenheiten einmischen, um die Rechtsgemeinschaft hoch zu halten. Im Gegenteil. Dies bestätigt der vorläufige juristische Schlussakt in Sachen Jeremy F.
Der Reihe nach. Fünfeinhalb Jahre Haft u.a. wegen Kindesentführung verhängte ein Londoner Gericht am 21. Juni 2013 gegen den vormaligen Schullehrer Jeremy F., der im September 2012 mit einer 15-jährigen Schülerin außer Landes geflohen und in Frankreich festgenommen worden war. Der Fall machte europaweit Schlagzeilen. Daneben gab es eine juristische Besonderheit: Im Verlaufe des Falles hatte nämlich der französische Conseil constitutionnel (CC) am 4. April 2013 den EuGH erstmals in seiner Geschichte im Wege des Vorlageverfahrens angerufen. Wir haben darüber im Verfassungsblog berichtet.
Wie ging diese Sache auf der rechtlichen Ebene weiter? Der EuGH (Rs. C-168/13 PPU) entschied im beantragten Eilverfahren (dazu ebd. Rn. 28-32) am 30. Mai 2013. Auf den Tag genau acht Wochen, nachdem der Verfassungsrat sich an ihn gewandt hatte.
In der Sache beantwortete der Gerichtshof die Frage, ob der Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl von 2002 in seinen Art. 27 Abs. 4 und 28 Abs. 3 lit. c) durch die Nennung von „30 Tagen“ für die entsprechende Entscheidung Rechtsmittel ausschließe und insofern eine zwingende Vorgabe für den nationalen Umsetzungsgesetzgeber enthalte. Die Antwort war negativ (Rn. 37 f., 55, 75). Aus Gründen der kohärenten Interpretation und Anwendung des Rahmenbeschlusses sowie seines Sinn und Zwecks einer einfacheren und schnelleren justiziellen Zusammenarbeit müssten indes die Fristen von dessen Art. 17 für eine endgültige Entscheidung gewahrt werden (insgesamt bis zu 60, ausnahmsweise max. 90 Tage) (Rn. 56 ff., 64 f., 72 ff.).
Mit dieser Entscheidung aus Luxemburg hatte der CC freie Bahn für die Kontrolle des gerügten Art. 695-46 Abs. 4 der französischen Strafprozessordnung (Code de procédure pénale, CPP) am Maßstab der französischen Verfassung. Am 14. Juni 2013 erklärte er in der Entscheidung n° 2013-314 QPC den in Frage stehenden Ausschluss von Rechtsbehelfen für verfassungswidrig. Für den konkreten Fall bedeutete dies, dass der Ausschluss der Möglichkeit, gegen die Entscheidung der Chambre de l’instruction einen Rechtsbehelf einzulegen, verfassungsrechtlich als ein nichtgerechtfertigter Eingriff die Rechtsweggarantie bzw. das Recht auf effektiven Rechtsschutzes bewertet wurde. Das von Jeremy F. eingelegte Rechtsmittel bei der Cour de cassation gegen die Entscheidung einer Erweiterung des Haftbefehls war damit rechtlich zulässig.
Die Entscheidung selbst ist ebenso schlicht und unkompliziert formuliert wie die Vorlage vom April; auch der Commentaire vertieft sich nicht in etwaige Grundsatzüberlegungen zu einem neuen Verhältnis zwischen nationaler Verfassungsgerichtsbarkeit und EuGH. Einzig findet nochmals Erwähnung, dass es sich um die erstmalige Vorlage in der Geschichte des CC handelt und dass dieser sein Verfahren bis zum Urteil des EuGH ausgesetzt und damit die Drei-Monats-Frist für eine QPC-Entscheidung suspendiert hatte. Dabei ist dies nach dem französischen Verfassungsprozessrecht gar nicht vorgesehen (vgl. dazu Rousseau, Gazette du Palais n° 127, Mai 2013).
Und doch geben die positiven Reaktionen im französischen Schrifttum auf die erstmalige Vorlage des CC weiteren Aufschluss darüber, dass sich auch aus Sicht der französischen Kollegen in der eigenen Vorlagebereitschaft namentlich die institutionelle Offenheit gegenüber Europa spiegelt – das, worin sich das Bekenntnis zu einem „europäischen Willen“ manifestiert (vgl. Rousseau, Gazette du Palais n° 127, Mai 2013).
Man mag einwenden, dass der CC institutionell schwächer wirkt als das BVerfG und die Vorlage konkret ja auch eine Eilentscheidung erforderte (zurückhaltend vor diesem Hintergrund insofern Gautier, AJDA n° 19, Juni 2013; Levade, La semaine juridique. Édition générale n° 23, Juni 2013). Trotzdem gilt auch aus französischer Sicht, dass der CC mit seiner Entscheidung auf Herrschaftsansprüche verzichtet hat (vgl. Rousseau, Gazette du Palais n° 127, Mai 2013; de Béchillon, AJDA n° 15, April 2013). Dass er auch im präventiven Normenkontrollverfahren das Argument zu kurzer Entscheidungsfristen nicht aufrechterhalten und somit auch in anderen Fallgestaltungen vorlegen könnte, wird angesichts des beschrittenen Weges ebenfalls nicht mehr ausgeschlossen (so von Rousseau, Gazette du Palais n° 127, Mai 2013). Auch der anzutreffende Gedanke eines gewissen Paradigmenwechsels (Labayle, RFDA n° 3, Juli 2013) deutet darauf hin, dass die Vorlage an den EuGH nicht für eine einmalige Sache gehalten wird.
Richtig wird darauf hingewiesen, dass für eine Vorlage stets auch eine ordentliche Portion guter Willen sowie schlicht eine gewisse Selbstüberwindung erforderlich sind, um den Kooperationsgedanken zwischen den Gerichten in die Tat umzusetzen (de Béchillon, AJDA n° 15, April 2013, vgl. auch Gautier, AJDA n° 19, Juni 2013, sowie Labayle, RFDA n° 3, Juli 2013).
So nüchtern und lakonisch die erstmalige Vorlageentscheidung des CC also wirken mag, sie wird doch als ein ausdrücklich zu begrüßender, ja sogar „bewundernswerter“ Schritt (Rousseau, Gazette du Palais n° 127, Mai 2013; de Béchillon, AJDA n° 15, April 2013) und von hervorgehobener Bedeutung für den Dialog der Gerichte (Chaltiel, RUE n° 568, Mai 2013; Labayle, RFDA n° 3, Juli 2013; vgl. Rousseau, Gazette du Palais n° 127, Mai 2013) eingeordnet.
Besonders bemerkenswert erscheint schließlich, dass man in Frankreich sogar von einem leisen Vergnügen („délicat plaisir“) darüber spricht, mit der eigenen Vorlage gerade das so oft als Vorbild angesehene BVerfG überholt und unter einen gewissen Druck gesetzt zu haben (Rousseau, Gazette du Palais n° 127, Mai 2013). Das BVerfG hat bekanntlich fast als einziges Höchstgericht noch immer keine Vorlage an den EuGH gerichtet.
In der Tat kontrastiert der zügige, reibungslose und undramatische Ablauf des ersten französischen Vorlageverfahrens mit der Ruppigkeit, mit der der Erste Senat des BVerfG im April 2013 völlig überzogen auf die EuGH-Entscheidung in der Rs. Åkerberg Fransson aus dem Februar 2013 reagiert hat und mit der immer steileren Erregungsspirale, in die sich der Zweite Senat in Sachen Eurokrise begibt, bis hin zu Szenarien einer De-facto-Popularklage gegen Akte europäischer Einrichtungen wie etwa der EZB.
Wo das BVerfG von immer mehr Beobachtern in Europa als Ausdruck deutschen Hegemonieanspruchs in der EU wahrgenommen wird, jetzt auch noch auf rechtlichem Gebiet, dokumentiert der CC aktiv eine positive Grundeinstellung zu Europa.
Von der ersten Vorlage des CC an den EuGH bleibt also vor allem folgender Eindruck: Es geht in Sachen Zusammenarbeit der europäischen Gerichte auch anders als es das BVerfG derzeit vormacht. Es geht eben doch.
EIner Vorlage bedarf es bekanntlich lediglich dann, wenn eine Frage des Unionsrechts nicht nur klärungsbedürftig ist und vom BVerfG selbst nicht hinreichend sicher beantwortet werden kann, sondern wenn sie darüber hinaus entscheidungserheblich ist. Wenn man das BVerfG also wegen seiner (Nicht-)Vorlagepraxis kritisieren will, muss man diese Gesichtspunkte hinsichtlich eines konkreten Falles erörtern, den das BVerfG zu entscheiden hatte, hat oder haben wird. Die Entscheidung des CC mag zwar Ausdruck einer mehr oder weniger großen Unionsfreundlichkeit des CC selbst sein, mit dem BVerfG hat sie aber rein gar nichts zu tun. Wenn man aber schon pauschal argumentieren möchte, dann muss man im Blick behalten, dass das BVerfG mit seiner Rspr. zu Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG die Fachgerichte zu einer sehr beachtlichen Zahl von Vorlagen an den EuGH veranlasst hat und weiter veranlasst. Im Hinblick, dass es dabei die Anwendung (primären) Unionsrechts kontrolliert, erscheint dies keineswegs selbstverständlich, jedenfalls aber nicht als Ausdruck eines Hegemoniestrebens. Fazit: Nichts als haltlose Polemik, und zwar sehr durchsichtig vor wichtigen Entscheidungen!
@Hartmut Rensen: Ich stimme Ihnen vollkommen zu. Herr Professor Mayer dokumentiert einmal mehr seine fast ausschließlich machtpolitische Wahrnehmung (“Hegemoniestreben”) juristischer Zusammenhänge. Dass Gerichte einem geltenden (Verfassungs-)Recht verpflichtet sein sollten, nicht einem Machtkalkül, Kooperationsideen oder modischen Strömungen (“Paradigmenwechsel”), scheint ihn nicht anzufechten – wen interessieren schon “Grundsatzüberlegungen zu einem neuen Verhältnis zwischen nationaler Verfassungsgerichtsbarkeit und EuGH”? Herrn Professor Mayer jedenfalls nicht.
Falls Studenten hier mitlesen: Man darf wirklich nur Fragen vorlegen, die für die Entscheidung im Ausgangsrechtsstreit entscheidungserheblich
sind. Solange Professor Mayer eine verfassungsrechtliche Frage, deren Beantwortung von einer Auslegung des Unionsrechts abhängt, nicht formuliert, sollte man seine Parolen als das betrachten, was sie sind: neben der Sache.
“Ruppigkeit”, “völlig überzogen”, “immer steilere Erregungsspirale”: Das ist argumentfreie Pöbelei. Der Autor dokumentiert sein eigenes Vorverständnis, trägt aber zu einer sachlichen Debatte nichts bei.
Nebenbei: “Europa” ist nicht dasselbe wie die EU. Die verlangte “positive Grundeinstellung zu Europa” und eine Abneigung gegen jeden Nationalismus haben häufig auch Gegner der (wenig demokratischen/rechtsstaatlichen/sozialstaatlichen) EU – obwohl EU-Apologeten wie Herr Mayer das nicht wahrhaben wollen.