16 April 2022

Es geht um die Demokratie

Frankreich vor einer ungewissen Zukunft

Am 10.04.2022 fand in Frankreich der erste Wahlgang für die Präsidentschaftswahlen statt. Amtsinhaber Emmanuel Macron mit 27,8 % und Marine Le Pen mit 23,1 % sind für den zweiten Wahlgang am 24.4. qualifiziert, dicht gefolgt von Jean-Luc Mélenchon mit fast 22 %, der aber nun aus dem Rennen ausgeschieden ist.

Der Präsident ist im französischen Verfassungssystem der V. Republik von 1958 das zentrale Verfassungsorgan. Doch ob und wie das so bleiben wird, ist in diesem Jahr aber noch offen.  Nach der Parlamentswahl, die im Juni auf die Präsidentschaftswahl folgen wird, könnte der Reformbedarf des Wahl- und des politischen Systems unabweisbar werden. Und zwar unabhängig davon, ob Macron oder Le Pen gewinnt.

Das französische Verfassungssystem ist ein parlamentarisches System mit präsidentieller Leitung. Wenn die beiden direkt gewählten Institutionen, Präsident und Nationalversammlung, politisch gleich ausgerichtet sind, bestimmt der Präsident die maßgeblichen Richtlinien der Politik, auch wenn sich dies in seinen formalen verfassungsmäßigen Kompetenzen nicht uneingeschränkt niederschlägt. Sind sie gegensätzlich ausgerichtet, wie 1986-1988, 1993-1995 und 1997-2002, kommt dem Premierminister ein stärkeres Gewicht zu – auch wenn der Präsident dann immer noch über eine im Vergleich zu Deutschland bemerkenswert starke Stellung verfügt.

Wie sich die Situation darstellt, wenn es im Parlament keine klare Mehrheit für eine irgendeine politische Richtung gibt, ist völlig offen; eine solche Situation hat es in Frankreich seit 1958 kaum gegeben. Genau das ist aber nunmehr denkbar – auch wenn in der unmittelbaren Zukunft, am Vorabend der zweiten Runde der Präsidentschaftswahlen, die Sorgen um die französische Demokratie vorherrschen.

Der Niedergang der (klassischen) Parteien

Um bei der Präsidentschaftswahl kandidieren zu können, sind formell 500 Unterschriften aus einem Kreis bestimmter Mandatsträger (Abgeordnete, Mitglieder von Kommunalparlamenten usw.)1) nötig. An dieser Hürde ist immerhin eine prominente Bewerberin gescheitert, die vergleichsweise spät, im Januar 2022 ihre Kandidatur erklärt hatte: Christine Taubira, die frühere Justizministerin (2012-2016), hatte versucht, sich angesichts der Vielzahl von Kandidaturen auf dem linken Flügel als Integrationsfigur zu positionieren. Dies ist ihr allerdings ausweislich der Umfragen auch vor dem Ende ihrer Bemühungen um eine Kandidatur nicht ansatzweise gelungen. Insbesondere hat ihr auch ihr Erfolg bei der parteiübergreifenden Vorwahl („Primaire populaire“) nichts genutzt, die zivilgesellschaftlichen Organisationen auf linker Seite organisiert hatten, um der Zersplitterung des linken Spektrums entgegenzuwirken.

Eine der zentralen Lehre dieses ersten Wahlgangs besteht in der Erkenntnis, dass die politischen Parteien, die Frankreich ohnehin traditionell keine besonders starke Bedeutung hatten, noch einmal stark an Gewicht verloren haben. In der Konsequenz beeinträchtigt dies auch die Fähigkeit der französischen Institutionen zu Repräsentation und Integration. Möglicherweise ist es auch eine Folge der Wahl von E. Macron im Jahre 2017, der sich damals bewusst als „disruptif“ bezeichnet hat.2)

Konkret waren alle Kandidaten, die mehr als 5 % der Stimmen bekommen haben, nicht von einer klassischen Partei nominiert worden. Macron, Mélenchon sowie Eric Zemmour (7,1 %) haben Parteien bzw. Bewegungen gegründet, die von vornherein auf sie ausgerichtet waren (Macron: La République en Marche – „die Republik in Bewegung“; Mélenchon: La France Insoumise – „unbeugsames Frankreich“; Zemmour: Reconquete – „Wiedereroberung“). Und auch Le Pens Partei Rassemblement National („nationale Versammlung“, früher Front National) war zunächst von ihrem Vater gegründet (1972) und dann vor rund 15 Jahren an seine Tochter „vererbt“ worden.

Die traditionellen Parteien, die noch vor 10 Jahren das französische politische System dominiert haben, sind erstmals alle unter der Schwelle von 5 % geblieben. Diese Schwelle ist insofern von besonderer Bedeutung, weil sie Voraussetzung ist für die staatliche Wahlkampfkostenerstattung. Wer diese Schwelle nicht erreicht, hat also zunächst einmal ein erhebliches finanzielles Problem, und das im Vorfeld auch finanziell herausfordernder Parlamentswahlen. Dementsprechend verwundert es nicht, dass sich die acht unterlegenen Kandidaten, die diesen Parteien zuzuordnen sind, namentlich Valérie Pécresse für die republikanische Rechte (4,8 %, im Vergleich zu 20% 2017) und Anne Hidalgo für die Sozialisten (1,8 %, im Vergleich zu 6,36 % 2017) ebenso wie der Kandidat der Grünen Yannick Jadot (4,6 %) umgehend an ihre Wähler mit der Bitte um Spenden gewendet haben.

Die Gründe für diese Entwicklung

Die Gründe für diese Entwicklung sind sicher vielfältig. Macron hat bestimmt zahlreiche frühere Anhänger verprellt: auch wenn die Gelbwestenbewegung („Gilets Jaunes“) 2018 ihn bewegt hatte, sich um mehr Partizipation der Bürger zu bemühen, hatte er seine Politik recht stark von oben herab gestaltet. Zudem kümmerte er sich relativ wenig um den Klimaschutz, was viele frühere linke Wähler (und auch neue junge potentielle Wähler) abgeschreckt hat. Neben der schon traditionellen Schwäche der Parteien dürfte aber auch ein nur begrenzt überzeugender Wahlkampf von deren Kandidaten sowie taktisches Stimmverhalten eine große Rolle gespielt haben. Traditionell wählen im ersten Wahlgang die meisten nach ihrer eigentlichen Präferenz. Diesmal wollten aber offenbar viele mit ihrer Stimme bereits im ersten Wahlgang auch ein praktisch wirkungsvolles Ergebnis erzielen.

Im rechten Lager hat Valérie Pécresse in ihrem Wahlkampf insgesamt wenig überzeugend agiert; auch von der eigenen Partei war sie eher isoliert. Nachdem die Umfragen ohnehin ihr seit längerem keine Chance gaben, in den zweiten Wahlgang einzurücken – Mitte März lag sie mit 11 % auf Platz 5 –, haben sich offenbar viele Wähler für den bisherigen Präsidenten entschieden. Mélenchon lag im März in Umfragen nur bei gut 10 %, und der grüne Bewerber nur wenig hinter ihm. Ein rhetorisch geschickter und zudem populistischer Wahlkampf sowie auch hier die Einschätzung, dass er letztlich als einziger der linken Kandidaten in den zweiten Wahlgang einrücken könnte, haben ihm am Ende 22 % der Stimmen beschert – fast genug, um in den zweiten Wahlgang einzuziehen. Bemerkenswert: Mit seinem Auftreten passte der Kandidat gut zum System der V. Republik – doch eine seiner politischen Kernforderungen zielt auf eine VI. Republik.

Betrachtet man das Ergebnis insgesamt, so fällt zudem vor allem die Stärke der extremistischen und populistischen Kandidaten insgesamt auf. Rechnet man die Stimmen von Le Pen, Mélenchon und Zemmour zusammen, ist man schon bei über 50 %; auch von den Kandidaten kleinerer Parteien und Bewegungen ist der eine oder andere noch dazu zu rechnen. Allerdings hatte Frau Le Pen ihren bereits 2017 begonnenen Prozess der „dédiabolisation“ („Entteufelung“) weiter vorangetrieben und sich insbesondere auf die Kaufkraftverluste vieler Franzosen fokussiert. Ihre (frühere) Nähe zu Putin hat ihr offenbar nicht geschadet. Das konnte sie auch deshalb, weil neben ihr Herr Zemmour in Sachen Immigration und kulturelle Identität wirklich extremistische Töne anschlug, nicht zuletzt durch historische Umwertungen wie einem positiven Urteil des Vichy-Regimes.

Perspektiven

Wie der zweite Wahlgang am 24.04 ausgeht, ist offen. Macron liegt zwar vorne, wird aber kämpfen müssen; es dürfte knapp für ihn werden. Auf eine „Front Républicain“ wie 2002 und 2017 gegen seine extremistische Gegnerin kann er sich nicht verlassen. 2002 hatte Chirac fast 80 % der Stimmen erlangt, gegen den Vater Le Pen mit gut 20 %, und insgesamt nach bemerkenswert vielen Demonstrationen in Frankreich gegen das Erstarken des Rechtsextremismus. Auch 2017 hatte es dergleichen in Ansätzen gegeben: Macron gewann mit zwei Dritteln der Stimmen. 2/3 gegen 2/3 der Stimmen) in Ansätzen gegeben hat. Zweifelhaft ist auch, ob und inwieweit sich die Stimmen des Kandidaten Mélenchon in Stimmen zu Gunsten von Macron verwandeln werden. Mélenchon selbst hat nur aufgefordert, nicht für Le Pen zu stimmen – mehr nicht. Ob allein die Furcht vor einem rechtsextremen Präsidenten ausreicht, damit ausreichend viele Linke für Macron stimmen, bleibt abzuwarten.

Wie gesagt ist auch der Ausgang der Parlamentswahlen für das französische System wichtig: ohne Mehrheit wird es schwierig sein, zu regieren. Diese Wahlen sind für den 12. und 19. Juni 2022 geplant. Bisher konnte sich jeder französische Präsident, der kurz nach seiner Wahl Parlamentswahlen zu gewinnen hatte, darauf verlassen, dass die Wähler ihn mit einer ihm loyalen Parlamentsmehrheit ausstatten. Das gilt vor allem seit den Verfassungsreformen des Jahres 2000/2001, in deren Folge die Amtszeiten von Präsident und Parlament jeweils 5 Jahre betragen und die Präsidentschaftswahl als erste stattfindet – eine Reform, die viele Verfassungsrechtler als Systembruch empfinden.

In diesem Jahr dürften angesichts der Zersplitterung der französischen Parteienlandschaft insoweit jedoch erhebliche Zweifel bestehen. Dazu dürften die regional an zahlreichen Stellen noch durchaus stark verankerten klassischen Parteien, insbesondere die republikanische Rechte und die Sozialisten, einiges an verlorener Stärke wiedergewinnen, wie in der Vergangenheit Regional- (2021), aber auch Europa- (2019) und Kommunalwahlen (2020) gezeigt haben. Und umgekehrt dürften es die auf eine einzige Führungsfigur ausgerichteten und damit über wenig Basisnähe verfügenden Bewegungen von Macron, Mélenchon und Zemmour eher schwer haben.

Allerdings bietet insoweit auch das Wahlsystem besondere Herausforderungen. Es beruht auf Mehrheitswahlen in den 577 Wahlkreisen. Anders als bei den Präsidentschaftswahlen sind hier aber nicht die beiden stärksten Kandidaten für den zweiten Wahlgang qualifiziert, sondern diejenigen, die 12,5 % der Wähler erreicht haben. Es kann also Wahlkreise geben, in denen drei oder sogar vier Kandidaten qualifiziert sind (sog. „triangulaire“, sogar „quadrangulaire“), und dann stellt sich die Frage, ob sich einer der Kandidaten zugunsten eines anderen zurückzieht. Und am Ende kann es sein, dass eine Nationalversammlung aus den Wahlen hervorgeht, in der keines der politischen Lager auch nur ansatzweise über eine Mehrheit verfügt.

Das klassische auf Bipolarisation setzende französische System wäre dann am Ende seiner Logik angekommen. Die Konsequenzen sind bisher nicht absehbar, vor allem in einem Land, das wie Frankreich und anders als Deutschland kaum formelle Koalitionen im Rahmen der Regierungsbildung kennt. Allerdings besteht insoweit seit langem die Forderung nach Einführung eines Anteils an nach dem Verhältniswahlrecht gewählten Abgeordneten („Dose de Proportionnelle“). So ist die Partei von Le Pen derzeit mit sieben Abgeordneten im Parlament vertreten, trotz ihres Stimmenanteils von über 20 % bei den Präsidentschaftswahlen. Das wirft dann nämlich Fragen nach der Repräsentativität des Parlaments auf.

Wie auch immer die Entwicklung sein wird – eine Reform des politischen Systems könnte eine der Aufgaben sein, die nach den Parlamentswahlen ansteht. Forderungen wie die von Le Pen nach einem Referendum zu Zwecken einer Verfassungsänderung sind allerdings verfassungsrechtlich zweifelhaft. Viele Juristen sprechen sogar von der Gefahr eines “Staatsstreichs”.3) Der am meisten diskutierte Punkt ist ihre Absicht, die Verfassung durch ein Referendum zu ändern, um eine „nationale Priorität“ (insbesondere im Bereich der Sozialleistungen) einzuführen. Das einzige in der Verfassung vorgesehene Verfahren ist jedoch das des Artikels 89, das zwei aufeinanderfolgende Abstimmungen voraussetzt: zunächst muss der Text von beiden Kammern im gleichen Wortlaut verabschiedet werden; dann muss der Änderungsentwurf entweder einem Volksentscheid unterworfen werden, oder er muss von einer Mehrheit von drei Fünfteln der gültigen Stimmen des als Kongress einberufenen Parlaments beschlossen werden. Da es keine Hoffnung gibt, die parlamentarischen Mehrheiten zu erreichen, zieht Marine Le Pen ein Referendum nach Artikel 11 in Betracht: Zwar hatte De Gaulle 1962 diese Möglichkeit genutzt; es ist jedoch mittlerweile anerkannt, dass eine solche Anwendung von Artikel 11 zur Verfassungsänderung verfassungswidrig ist. Und seit der Entscheidung Hauchemaille vom 25. Juli 2000 kontrolliert der Verfassungsrat die Ordnungsmäßigkeit der Organisation von Referenden (auf der Grundlage von Artikel 60 der Verfassung).

Der direkte Aufruf an das Volk, ohne Erwähnung von Rechtsstaat und Grundrechten wirft ebenso Fragen auf wie die populistische Vorstellung, dass das Volk – als dessen Sprecher man sich sieht – über allem steht.

Es bleibt also zwar spannend, aber auch beunruhigend. Auf dem Spiel steht nichts Geringeres als die französische Demokratie.

References

References
1 Loi organique n°76-528 du 18 juin 1976, modifiant la loi n°62-1292 du 6 novembre 1962: Um kandidieren zu können, muss man nun 500 Unterschriften aus mindestens 30 Departements oder überseeischen Territorien erhalten, wobei nicht mehr als ein Zehntel dieser 500 Unterschriften (also 50) aus demselben Departement oder Territorium stammen dürfen.
2 Siehe sein Buch mit dem Titel „Revolution. C’est notre combat pour la France”, XO éd., 2016.
3 D. Baranger, O. Beaud, J.-M. Denquin, P. Wachsmann, « Comme tous les leaders autoritaires, Marine Le Pen veut dynamiter la démocratie libérale en faisant appel au peuple », Le Monde, 12. 4. 2022 ; D. Rousseau, « En réalité, Marine Le Pen veut contourner le parlement », Libération, 14.4.2022.