Europäische Freizügigkeit für Flüchtlinge: Warum die EU-Quote gegen die Interessen der Flüchtlinge gerichtet ist
An den Europäischen Außengrenzen gehört der Tod von Flüchtlingen zum Alltag. Mehr als 29.000 Menschen sollen seit dem Jahr 2000 nach Recherchen von Journalist*innen auf ihrem Weg nach Europa gestorben sein. Das Projekt The Human Costs of Border Control der Universität Amsterdam hat jüngst eine Datenbank öffentlich gemacht, in der die tödlichen Umstände von über 3.000 Flüchtlingen dokumentiert werden.
Trotz der Alltäglichkeit des Sterbens, sah sich die Europäische Union erst nach den jüngsten Katastrophen mit über tausend Toten zum Handeln genötigt. Am 13. Mai 2015 präsentierte die Europäische Kommission mit der „European Agenda on Migration“ ein Strategiepapier über die mögliche zukünftige Ausrichtung der EU-Migrationspolitik. Die Pläne der Kommission bieten wenig Neues, dafür mehr vom Alten: Aufrüstung und Militarisierung der Grenzkontrollen durch eine finanzielle Aufstockung der Grenzagentur FRONTEX, die entgegen dem Willen ihres Direktors zugleich die europäische Seenotrettung übernehmen soll, noch stärkere Kooperationen der EU mit afrikanischen Transitstaaten (was de facto die Auslagerung der Asylverfahren zum Ziel hat), eine bescheidene Aufstockung der Resettlement-Programme und die Anwerbung von hochqualifizierten Fachkräften. Obschon diese Maßnahmen in den vergangenen Jahren zum Standard-Repertoire der EU-Migrationspolitik gehören, begrüßten der UNHCR und Amnesty International das Strategiepapier frenetisch als „großen Durchbruch“ und neue „Willkommenskultur“. Der Grund hierfür dürfte der Plan der Kommission sein, die Verteilung ankommender Flüchtlinge in der EU über eine Quote zu regulieren. Nach dem Strategiepapier möchte die Kommission bis Ende 2015 einen Vorschlag für eine verbindliche Quote zur „fairen Lastenverteilung“ innerhalb der EU vorlegen, für Ausnahmesituation steht bereits sofort ein Verteilungsschlüssel zur Verfügung. Doch ist diese Idee tatsächlich ein „großer Durchbruch“?
Quote statt Dublin?
Bislang regelt die Dublin-III-Verordnung, welcher Mitgliedsstaat in der EU für das Asylverfahren eines Flüchtlings verantwortlich ist. Flüchtlinge können sich den Staat nicht selbst aussuchen, sondern müssen ihren Antrag in demjenigen Staat stellen, durch den sie zum ersten Mal europäisches Territorium betreten haben. Dies sind in der Regel die Staaten der EU-Außengrenzen wie Bulgarien, Italien, Malta oder Ungarn. Obwohl viele Medien bereits von einer ab sofort verbindlichen Quote ausgingen, enthält das Strategiepapier der Kommission bislang nur eine Regelung für Ausnahmesituationen. Art. 78 Abs. 3 AEUV ermöglicht der Kommission vorläufige Maßnahmen dem Rat vorzuschlagen, sofern sich einer oder mehrere Mitgliedsstaaten aufgrund eines plötzlichen Zustroms von Drittstaatsangehörigen in einer Notlage befinden. Davon scheint die Kommission angesichts der Situation im Mittelmeer auszugehen.
Zur Berechnung der Verteilungsquote, die dem Annex des Strategiepapiers beiliegt, wurden das Wirtschaftswachstum, die Arbeitslosenquote, die Größe des Mitgliedsstaates und die bisherige Zahl der Asylbewerber*innen zugrunde gelegt. Demnach soll beispielsweise Deutschland mit 18,42 Prozent für die Mehrzahl der Asylverfahren zuständig sein (im Jahr 2014 war die BRD für 31,3 Prozent verantwortlich), Frankreich für 14,17 (2014: 13,1), Schweden für 2,92 (2014: 13,4) Italien für 11,84 (2014:10,5), Griechenland für 1,90 (2014: 2) und Malta für 0,69 (2014: 0,3). Der Verteilungsschlüssel zielt darauf ab, dass jeder Mitgliedsstaat der EU Flüchtlinge zugunsten der bisher hauptsächlich für Asylverfahren verantwortlichen Staaten aufnehmen soll. Wie die Quote umgesetzt und wie das Verfahren ablaufen wird, bleibt vollkommen offen. In dem Papier ist zudem nur von einer Verteilung von Flüchtlingen die Rede bei denen die internationale Schutzbedürftigkeit offensichtlich ist. Das bisherige Dublin-System soll nicht abgeschafft, aber 2016 im Rahmen einer größeren Evaluation überprüft werden.
In Deutschland hat der Jura-Professor Daniel Thym vergleichbare Überlegungen wie die Kommission angestellt und zusammen mit seinen Mitarbeiterinnen Caroline Beverungen und Sigrid Gies auf dem Verfassungsblog eine Übertragung des deutschen Königssteiner Schlüssels auf die EU angedacht. Sie kommen dabei zu fast den gleichen Verteilungsschlüssen wie die Kommission (eine aktualisierte Berechnung findet sich auf der Website der Professur). Nach ihrer Argumentation seien Staaten wie Italien, Ungarn oder Polen gerade nicht von Flüchtlingen überfordert, schließlich müssten sie aufgrund ihrer wirtschaftlichen Leistung und Bevölkerungsanzahl deutlich mehr Flüchtlinge aufnehmen. Sie schlussfolgern, dass die Zeiten „in denen jeder Staat für sich alleine Flüchtlinge schützte, ohne mit seinen Nachbarn zu kooperieren oder die Fluchtursachen zu beheben, vorbei sind.“
Die Durchsetzbarkeit der Quote ist mehr als fraglich, denn Großbritannien, Frankreich, Ungarn und viele andere osteuropäische Staaten lehnten den Kommissionsvorschlag kategorisch ab.
Quote: Mathematische Bürokratie
Während die massiven Abwehrreaktionen gegen die Quote vor allem mit der Verteidigung einer national eigenständigen Migrationspolitik und dem Populismus seitens erstarkender rechter Bewegungen und Parteien zusammenhängen, sind die Modelle der Kommission und von Prof. Thym aus einem ganz anderen Grund zutiefst problematisch: Sie versuchen die Komplexität von Migrationsbewegungen und Flucht durch ein mathematisches Verfahren bürokratisch zu organisieren. Indem einzig und allein das Wirtschaftswachstum oder die Bevölkerungsanzahl die Grundlage der Berechnung bilden, werden zahlreiche weitere Faktoren, die für eine humanitäre Flüchtlingsaufnahme relevant sind, außer Acht gelassen. Existieren in den jeweiligen Staaten überhaupt gewachsene Communities von Migrant*innen, also Netzwerke von Verwandten und Freund*innen der Flüchtlinge, die ihnen die Ankunft und den Verbleib erleichtern können? Haben Migrant*innen überhaupt die Möglichkeit Arbeitsplätze zu finden oder gibt es soziale Sicherungssysteme, die ein menschenwürdiges Existenzminimum garantieren? Wie stark sind rassistische Einstellungen in der Bevölkerung vorhanden? Gibt es bereits innerhalb der einheimischen Bevölkerung ethnische oder soziale Konflikte, für die Flüchtlinge als vermeintliche „Sündenböcke“ herhalten könnten? Diese Fragen werden in den Quoten-Modellen vollkommen ausgeblendet. Wie schon im Dublin-System üblich, gehen sie von der Annahme aus, dass die gesellschaftliche und soziale Situation in den EU-Mitgliedsstaaten annähernd gleich sei und es daher egal ist, in welchem Staat ein Flüchtling seinen Asylantrag stellt.
Schon das Dublin-System krankt an dem Versuch nicht die Interessen der Migrant*innen zu berücksichtigen, sondern insbesondere der Forderungen der europäischen Kernstaaten nach einer Auslagerung des Flüchtlingsschutzes an die Außengrenzen zu folgen. Dieser Geburtsfehler des Dublin-Systems führte zu seiner Krise. Griechenland, das über kein Asylsystem und keine gewachsene Einwanderungsgesellschaft verfügte, war ab der Mitte der 2000er Jahre mit einer drastischen Zunahme der Asylanträge konfrontiert. Für die Flüchtlinge bedeutete der Verbleib in Griechenland Obdachlosigkeit, fehlende medizinische Versorgung, rassistische Übergriffe und keine dauerhafte wirtschaftliche Perspektive. Doch anstatt eine politische Lösung durch die EU durchzusetzen und den „Verschiebebahnhof Dublin“ zu schließen, überließ man die Entscheidungen den Gerichten. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in der Rechtssache M.S.S. vs. Belgium and Greece und der Europäische Gerichtshof in zwei verbundenen Rechtssachen stellten 2011 fest, dass Asylbewerber*innen nicht an Mitgliedsstaaten überstellt werden dürfen, in denen sie Gefahr laufen, unmenschlich behandelt zu werden. Die Urteile konnten nur durch einen lang anhaltenden Kampf der Betroffenen, ihrer Anwält*innen und Flüchtlingsorganisationen erwirkt werden. Seitdem finden keine Dublin-Überstellungen mehr nach Griechenland statt.
Indes ist es durch die Judikatur der europäischen Gerichte zu einer Zerfaserung in der EU gekommen. Denn nicht nur in Griechenland existieren die für Flüchtlinge genannten Probleme. Auch Bulgarien, Ungarn, Italien oder Malta weisen systemische Schwächen im Asylsystem auf. Eine einheitliche Rechtsprechung der deutschen Verwaltungsgerichte gibt es jedoch nicht. Bundesweit entscheiden Gerichte ganz unterschiedlich, ob sie Überstellungen nach Italien oder Bulgarien erlauben. Aus der Sicht des Flüchtlings erscheint das Asylverfahren geradezu wie eine Lotterie, je nachdem welcher Staat für das Verfahren oder welches Gericht bei einer Klage gegen eine Überstellung zuständig ist.
Wie diese Probleme mit einer Quote zu beheben sein sollen, ist unklar. Ein Europäisches Asylsystem mit einheitlichen Standards wird es in naher Zukunft nicht geben. Die politische Folge der Quote ist umso deutlicher: insbesondere Deutschland müsste viel weniger Flüchtlinge aufnehmen.
Die Autonomie der Migration beachten: Free-Choice statt Quote
Mit dem Interesse der Flüchtlinge wäre diese Konsequenz unvereinbar. Sie wollen gerade in Staaten leben, in denen sie Anschluss an ihre Netzwerke und Angehörigen halten können. In Deutschland leben seit Jahren über 130.000 Syrer*innen, 90.000 Iraker*innen und 75.000 Afghan*innen – also Personen aus den Hauptherkunftsländern von Flüchtlingen. Natürlich sind auch die Lebensbedingungen für Flüchtlinge in Deutschland schwer erträglich: die PEGIDA-Demonstrationen, das Erstarken der AfD, die Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte und nicht zuletzt die Mordserie des NSU verdeutlichen die ausländerfeindlichen Ressentiments in Teilen der Bevölkerung. Aber zugleich gibt es vielfältige Solidarität für Flüchtlinge und eben die Netzwerke der eigenen Migrationsgruppen. Auf die Bedeutung des sozialen Umfelds hat jüngst das Bundesverfassungsgericht in zwei Entscheidungen über eine Abschiebung nach Italien hingewiesen. Obschon das Gericht die Verfassungsbeschwerden aus formalen Gründen nicht für erfolgreich erachtete, führte es mit einem obiter dictum aus: „Bei Rückführungen in sichere Drittstaaten können hiervon betroffene Ausländer – anders als bei der Rückführung in ihr Heimatland – regelmäßig weder auf verwandtschaftliche Hilfe noch auf ein soziales Netzwerk bei der Suche nach einer Unterkunft für die Zeit unmittelbar nach ihrer Rückkehr zurückgreifen.“ (Beschl. v. 17.09.2014, Az.: 2 BvR 939/14). Nur wenige Wochen danach ging der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in seinem Tarakhel-Urteil noch einen Schritt weiter. Der EGMR entschied, dass Flüchtlingsfamilien in Italien eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung gemäß Art. 3 EMRK drohen kann und deshalb keine Abschiebungen erfolgen dürfen, wenn nicht zuvor eine individuelle Zusicherung Italiens für eine adäquate Unterbringung eingeholt wird. Das Urteil zeigt die verheerende Situation für Flüchtlingsfamilien in Italien auf, verweist aber insgesamt auf die Möglichkeit systemischer Mängel im italienischen Asylsystem. Denn die Unterbringungssituation für Flüchtlinge in Italien ist mit Griechenland durchaus vereinbar. Ein genereller Abschiebestopp nach Italien wäre konsequent gewesen.
Für Flüchtlinge und Migrant*innen macht es keinen Unterschied, ob sie mit dem Regularium einer Quote oder einem Zuständigkeitssystem im Sinne der Dublin-Verordnung konfrontiert sind. Sie werden entgegen aller Widrigkeiten in den Staat reisen, in denen ihnen die Zukunft für ein besseres Leben möglich erscheint und in dem sie Anknüpfungspunkte an soziale Netzwerke haben. Die Autonomie der Migration lässt sich nicht bürokratisch verwalten.
Die rechtspolitische Konsequenz hieraus liegt in einer europaweiten Freizügigkeit für Flüchtlinge und einer gegenseitigen Anerkennung der Asylentscheidungen von Mitgliedsstaaten, wie sie von Flüchtlingsorganisationen und Wohlfahrtsverbänden mit dem Free-Choice-Modell gefordert wird. Für die Umsetzung müsste die bisherige Zuständigkeitsregelung nach Art. 14 Dublin-III-VO gestrichen werden. Damit könnte das innereuropäische Abschieberegime beendet werden. Zugleich wäre die wachsende Problematik von weiterwandernden anerkannten Flüchtlingen gelöst. Viele Flüchtlinge erhalten in den Außengrenzenstaaten der EU einen internationalen Flüchtlingsstatus zugesprochen, sind dann aber aufgrund der Situation in dem Staat gezwungen, in ein anderes EU-Land weiterzureisen. Ihr Flüchtlingsstatus verbleibt aber in dem Staat, der ihnen die Flüchtlingseigenschaft zugesprochen hat. In anderen EU-Mitgliedsstaaten sind sie teilweise schlechter gestellt als Flüchtlinge im Dublin-Verfahren, da sie beispielsweise ihre Familien nur in den zuständigen Staat ihres Asylantrags nachholen können. Ein Somali, der in Bulgarien einen Flüchtlingsstatus hat, aber aus Deutschland nicht abgeschoben werden kann, ist dann nicht in der Lage seine Familie nachzuholen.
Das Free-Choice-Modell könnte diesem bürokratischen und menschenunwürdigen Irrsinn durch ein dem Interesse des Flüchtlings entsprechendes Asylsystem ein Ende bereiten.
Die doppelte Krise der Europäischen Grenzpolitik
Die Flüchtlingskatastrophen verweisen auf eine doppelte Krise des Nord-Süd-Verhältnisses: Sie sind erstens Ausdruck einer ungleichen Verteilung des Wohlstands zwischen der EU und Ländern des Globalen Südens. Geradezu zynisch sind die mantraartigen Aufforderungen der EU an die Herkunftsländer der Flüchtlinge, die Fluchtursachen zu bekämpfen. Zu einem Großteil sind die Fluchtursachen das Produkt einer europäischen und insbesondere deutschen Wirtschaftspolitik, die vor den Küsten Somalias und des Senegals die Fischereibestände weggefischt und durch Subventionen den heimischen Lebensmittelmarkt zerstört hat, sodass viele Menschen in die Existenznot getrieben wurden. Nicht die Entwicklungspolitik, sondern eine strukturelle Veränderung der Handelspolitik müsste deshalb bei den Fluchtursachen ansetzen. Zweitens erleben wir eine Krise der innereuropäischen Nord-Süd-Beziehungen, zwischen Kernstaaten wie Deutschland und Frankreich auf der einen Seite und demgegenüber peripheren Staaten wie Griechenland oder Italien. Nicht zufällig geriet das Dublin-System ins Wanken, als die europäische Finanzkrise den griechischen Staat fast an den Abgrund drängte. Die Europäisierung der Migrationspolitik und des Binnenmarktprojekts ging gerade nicht mit einer europäischen Sozialpolitik einher. Aus dieser Perspektive sind die Quote und das Dublin-System der hoffnungslose Versuch, die Flüchtlingsfrage bürokratisch und unpolitisch zu lösen.