20 April 2010

Fehlurteile, und woran man sie erkennt

An der FU Berlin läuft ein spannendes und spektakuläres Forschungsprojekt, das auch die Leser des Verfassungsblogs interessieren müste: www.watchthecourt.org.

Es handelt sich um einen Blog unter Federführung des Zivil- und Zivilprozessrechtlers Martin Schwab:

Es gibt Urteile von Gerichten, die schlichtweg nicht nachvollziehbar und auf den ersten Blick rechtswidrig sind. Diese führen dazu, dass Anwälte in Erklärungsnot kommen können, da sie ihrem Mandanten die offensichtliche Rechtslage nicht mehr vermitteln können. Gerichtsprozesse, die für die Beteiligten meistens ebenfalls eine Belastung darstellen, verlängern sich und höhere Instanzen müssen ein Prozess neu verhandeln, der bei sauberer Arbeit der unteren Instanzen längst abgeschlossen wäre. Außerdem müssen die Beteiligten oftmals lange auf den Ausgang eines Verfahrens warten und in Strafverfahren genügt die Einstellung von Verfahren des Öfteren nicht zur Rehabilitierung der Betroffenen.

Warum ergehen solche Urteile? Wie viele solcher Urteile ergehen pro Jahr in Deutschland?
Wieviel kosten diese unzureichenden Urteile den Steuerzahler?
Sind Landgerichte sorgfältiger als Amtsgerichte?
Sind die rechtlichen Vorschriften unzureichend?

Das Projekt möchte eine Sammelstelle für krass rechtswidrige Urteile sein und Antworten auf die Fragen finden.

Ein äußerst spannender und verdienstvoller Forschungsansatz, finde ich.

Via


SUGGESTED CITATION  Steinbeis, Maximilian: Fehlurteile, und woran man sie erkennt, VerfBlog, 2010/4/20, https://verfassungsblog.de/fehlurteile-und-woran-man-sie-erkennt/.

35 Comments

  1. T.S. Tue 20 Apr 2010 at 11:44 - Reply

    Die Frage ist nur, wann ist ein Urteil ein Unrechtsurteil. Nur weil ein Richter ein fehlerhaftes Urteil gefällt hat, muss dieses noch kein Unrechtsurteil sein. Ich erinnere daran, wie schwierig es ist, einen Richter wegen Befangenheit abzulehnen.

    Dass Willkürurteile und Gefühlsentscheidungen für Anwälte ärgerlich sind, versteht sich von selber.

  2. Dietrich Herrmann Tue 20 Apr 2010 at 11:49 - Reply

    Fehlurteile wird es immer geben solange MENSCHEN richten (Fehlerfreie Urteile erwarten wir dann beim Jüngsten Gericht …). Insofern ist Transparenz und die erforderliche Diskussion ein ganz wichtiges Anliegen, verbunden mit der Hoffnung, dass künftige Entscheidungen die Fehlerhaftigkeit der Urteile (und ihrer Begründungen) erkennen.

    Ich möchte auf drei Aspekte aufmerksam machen:
    1. Über die Fehlerhaftigkeit eines Urteils besteht nicht immer Konsens; gerade deshalb ist die Auseinandersetzung über die Gründe so wichtig.

    2. Es gilt die Dimensionen Raum und Zeit zu berücksichtigen: Was in einem Rechtskreis als fehlerhaft gilt, ist in einem anderen Rechtskreis anerkannt – selbst innerhalb einer scheinbar homogenen Rechtsgemeinschaft wie der Bundesrepublik gibt es unterschiedliche Praxen. Und was in den 1950er Jahren als Konsens gegolten haben mag (man denke nur an den Bereich des Familienrechts), ist heutzutage womöglich ein krasses Fehlurteil. Insofern müssen wir bei der Kategorisierung “Fehlentscheidung” die (rechts-) kulturellen Unterschiede und Entwicklungen in den Blick nehmen.

    3. Ein besonderes Augenmerk verdienen vermeintliche oder tatsächliche Fehlentscheidungen höchster Gerichte, die – sieht man von Verfassungsänderungen ab – als nicht korrigierbar gelten. Auch hier ist Transparenz und Kritik erforderlich; zudem Selbstbewusstsein unter den weiteren Akteuren der Rechtsgemeinschaft (Gesetzgeber, Verwaltungen, Instanzgerichte, Bürger als potenzielle Beschwerdeführer in Verfassungsbeschwerden), Selbstkorrekturen des höchsten Gerichts (bei uns Verfassungsgericht) einzufordern, wenn sie zur Überzeugung gelangen, eine Entscheidung oder ihre Begründung stehe nicht wirklich im Einklang mit der Verfassung. Im Idealfall führt dies zu einem – selbstverständlich kontroversen – Dialog über die Verfassung und ihre Bedeutung, mithin das beste, was in einer partizipativen Verfassungsdemokratie geschehen kann.

  3. Jens Tue 20 Apr 2010 at 12:25 - Reply

    Der Ansatz ist interessant, die Methodik kann ich noch nicht ganz nachvollziehen.

  4. Dante Tue 20 Apr 2010 at 12:52 - Reply

    Ich sehe das Projekt auch eher kritisch. Das fängt schon damit an, dass sprachlich eher auf Boulevard-Niveau gearbeitet wird. Der Begriff “Skandalurteil” ist nicht gerade der erste, der sich zur wisschenschaftlichen Analyse anbietet. Offenbar geht es insoweit mehr um die Erregung von Aufmerksamkeit.

    Auch die eigenen Kriterien zieren zwar die Webseite, sind aber weder in sich logisch, noch werden sie wirklich angewandt.

    Dort heißt es: “Als Orientierungspunkt für die extreme rechtswidrigkeit soll auf den ersten Blick klar sein, dass die Entscheidung krass rechtswidrig ist.”

    Abgesehen von Orthographiemängeln ist das logisch als bestenfalls holprig zu bezeichnen.

    Die Beurteilung des neuesten Falles dreht sich im Kern um die Auslegung des Begriffs “Vorenthaltung” in § 546a BGB. Die in der Analyse vorgenommene Auslegung ist sicherlich überzeugender als die des Amtsgerichts. Auf den ersten Blick “krass rechtswidrig” ist die Entscheidung aber nicht. Sie ist auch keine “unter keinem Aspekt nachvollziehbare Anwendung materiellen Rechts.” Schließlilch steht in § 546a BGB auf der Tatbestandsseite “Wer die Mietsache nicht zurückgibt”. Erst auf der Rechtsfolgenseite ist von Vorenthaltung die Rede.

    Es erstaunt, dass man eine fehlerhafte Entscheidung eines Amtsgerichts, die in der Berufung im Zweifel ohne weiteres korrigiert worden wäre, zum Skandal hochjazzen will.

    Wenn es tatsächlich keine skandalöseren Urteile gibt, scheint es um die Rechtspflege in Deutschland sehr gut bestellt zu wein.

  5. Max Steinbeis Tue 20 Apr 2010 at 13:44 - Reply

    Das scheint mir gerade das Reizvolle an dem Unternehmen zu sein: dass hier mit einem primär soziologischen, nicht prozessrechtlichen Erkenntnisinteresse an die Problematik herangegangen wird und jenseits von Rechtsmittelverfahren Material gesammelt wird, wann und in welchem Umfang Gerichte Urteile abliefern, die nichts taugen.

    Ich kann nicht erkennen, dass es hier Skandalisierung im Vordergrund steht. Ich meine, wie viele Amts- und Landrichter gibt es wohl, die sich ihrer Arbeit auf eine Weise entledigen, die kritikwürdig ist, und zwar obwohl oder gerade weil sie nie einem Rechtsmittelverfahren ausgesetzt wird?

    Weiß das wer? Sicher nicht null, so viel steht fest.

    Ich fände das ziemlich interessant, darüber mehr zu erfahren, und zwar ruhig auch erst mal in Form von qualitativer, nicht scharf und methodisch abgegrenzter Materialsammlung. Auch wenn sich dadurch sicher mancher Richter auf den ohnehin schon eng geschnürten Schlips getreten fühlt.

  6. Dietrich Herrmann Tue 20 Apr 2010 at 13:57 - Reply

    Ich muss meinen vorigen Eintrag nach Betrachtung der Website ergänzen:
    Die genannten Kriterien sind in der Tat sowohl von der Form als auch vom Inhalt als mindestens schlampig zu kennzeichnen. Die Bezeichnung “Krasses Fehlurteil” ist ohne eine Nennung von nachvollziehbaren Kriterien einfach nur willkürlich – womöglich ähnlich willkürlich wie ein vermeintliches Fehlurteil. Was die Kollegen hier mit “auf den ersten Blick klar” meinen, bleibt reichlich unklar!

    Es gilt hier zweierlei zu unterscheiden:
    1. Sicherlich gibt es immer wieder (Menschen sind am Werk! s.o.) Fälle, wo es den Urteilen schlicht am rechten Gebrauch des Handwerkszeugs mangelt; ob aus Unvermögen der RichterInnen, aus Schlampigkeit, Hast, Übermüdung – das sei einmal dahingestellt. Über die Einordnung solcher Fälle sollte relativ breiter Konsens herzustellen sein.
    2. Fälle, in denen Rechtsfragen schlicht unterschiedlich bewertet werden – hier vor allem ist Diskussion nötig und kann fruchtbar sein.
    Freilich gibt es Kombinationen von beidem. Als Liebhaber der Verfassungsgerichtsbarkeit darf ich nur an den Kruzifix-Beschluss des BVerfG von 1995 erinnern, wo die Kritik gerade auf die Verbindung von handwerklichen Fehlern und umstrittene Verfassungsinterpretation abheben konnte.

    Die Damen und Herren des Projekts mögen die Kriterien noch einmal völlig überarbeiten – insbesondere Nachvollziehbarkeit der Kriterien ist gefordert -, dann könnte daraus womöglich eine interessante Sache werden, sonst bleibt’s auf Boulevard-Niveau.

  7. Showbee Tue 20 Apr 2010 at 14:23 - Reply

    Sollte man Forschungsprojekte nicht erst dann an die Öffentlichkeit bringen, wenn Forschungsergebnisse vorliegen? Drei Urteile zweifelhafter “krasser Rechtswidrigkeit” in einem knappen halben Jahr Ermittlungsmaßnahmen ist wohl “mau”. Man kann nur hoffen, dass das Projekt nicht der Verpulverung von Exellenzinitiativenmitteln dient.

  8. Mausi Tue 20 Apr 2010 at 14:54 - Reply

    trotz Leitung des Projekts durch einen Professor komm das ganze “krass unseriös” rüber – allein schon die Formulierungen…. ein wunderschöner Hyperlativ: “Die extremsten Fehlurteile eines Monats sollen in Printmedien veröffentlicht werden. ” oder auch “Neben der Fehlerhaftigkeit des Urteils kann für die Beurteilung als besonders krass rechtswidrig in Betracht kommen”
    mir erscheint es schon so, dass da Skandalisierung im Vordergrund steht:
    “Dazu wird die Zusammenarbeit mit einer überregionalen Tageszeitung angestrebt (Medienpartner).”
    eine Tageszeitung ist wohl kaum der richtige Platz für wissenschaftliche Analysen. Und schon die Unterstellungen die da gemacht werden sind polemisch: “Ein Richter hat keine Lust, über den ihm vorgelegten Fall zu entscheiden.”

  9. Kartellblog. Tue 20 Apr 2010 at 20:44 - Reply

    Bei “krass” etc bin auch ich stutzig geworden. Aber das Geschäftsmodell gibt es seit langem. “Für finanzielle Unterstützung kommen Sie insbesondere als Prozessfinanzierer und Rechtschutzversicherer in Betracht.” Der logisch nächste Schritt ist die Abtretung prozessbehafteter Forderungen an Fonds. Stehe zu dem Modell neutral, aber der wissenschaftliche Anstrich stört mich. Wenn es mehr oder andersartigen Hintergrund gibt, ist er auf der website unterbelichtet.

  10. Jojo Tue 20 Apr 2010 at 21:25 - Reply

    Da sich innerhalb eines halben Jahres, während dessen das “Projekt” nun läuft, nur vier (!) “krasse Fehlurteile” aus den letzten 5 Jahren gefunden haben, scheint es um die Rechtspflege in Deutschland ja doch nicht sooo schlecht bestellt zu sein …

  11. […] Fehlurteile, und woran man sie erkennt […]

  12. Dante Tue 27 Apr 2010 at 14:09 - Reply

    Ich hab mir heute nochmal die Selbstdarstellung angeschaut und dabei ist mir folgender Ausschnitt aufgefallen:

    “Die fehlerhaften Urteile werden den entsprechenden Gerichten zugeordnet und anhand der Gesamtzahl der gesprochenen Urteile ein Fehlerindex für das jeweilige Gericht erstellt.

    Bei einem Fehlerindex von über 5 % werden die am entsprechenden Gericht bemängelten Urteile unter Einbeziehung aller Protokolle und unter Befragung der beteiligten Parteien daraufhin untersucht, ob der Fehler auf Unzulänglichkeiten im Gesamtsystem zurückzuführen ist.”

    Wenn ich das richtig verstehe, will man mit dem Projekt einen “Krasses-Fehlurteil-Index” für jedes Gericht erstellen. Ein Lehrstuhl mit vielleicht max. 10 Mitarbeitern möchte also die Arbeit von mehreren hundert Richtern beurteilen.

    Selbst wenn man sich nur auf die Gerichte beschränkt, von denen “zufällig” besonders viele Entscheidungen kommentiert werden, ist man sich über die Dimensionen des Vorhabens wohl kaum im klaren. Ein durchschnittliches Land- oder Amtsgericht dürfte mehrere hundert bis eintausend Urteile im Jahr fällen. 5% hiervon wären 25 Urteile. Glaubt man dort wirklich, dies auch nur für 10 von geschätzt deutlich über 100 Gerichten in Deutschland leisten zu können? Das gegenwärtige Veröffentlichungstempo spricht ja Bände.

    Für mich ein weiteres deutliches Zeichen dafür, dass man in Berlin an Selbstüberschätzung leidet.

    Das neueste “Fehlurteil” ist übrigens besonders schön, aber dazu werde ich wohl besser in den Kommentaren dort etwas schreiben.

  13. Heike Blumentritt Sat 17 Nov 2012 at 17:37 - Reply

    Sehr geehrte Damen und Herren,
    wer kann uns bei einem Fehlurteil helfen. Gegen meinen Mann wurde im Januar 2006 Strafbefehl wegen Steuerhinterziehung erlassen. Im Februar 2006 reichte er eine Zeugenliste beim Pflichtverteidiger G ein. Dieser Pflichtverteidiger hatte diese Zeugenliste erst am 21.07.2006 dem Amtsgericht in der ersten Verhandlung als Beweisantrag eingereicht. Erstmals am 22.12.2010; 06.1.2011 und 20.01.211 wurden 34 Zeugen vom Landgericht geladen, die ALLE meinen Mann entlasteten und 5 Zeugen kennen uns nicht mal. Fälschlicherweise wurden diese beweisführenden und entastenden Zeugenaussagen von der Protokollführerin nicht Wortprotokolliert und das Urteil ohne jeglichen Beweis und Zeuge