Frauen ohne Privatsphäre
Was das Votum des US Supreme Court zum Schwangerschaftsabbruch für die Rechtsstellung von Frauen bedeutet
Das Recht auf einen Schwangerschaftsabbruch grundrechtlich zu verankern ist eine der größten Errungenschaften US-amerikanischer Verfassungsrechtsprechung. Bereits 1973 stellte der Supreme Court in Roe v. Wade fest, dass das Right to Privacy (Recht auf Privatsphäre) unter der Due Process Clause aus dem 14. Zusatzartikel das Recht einer Frau umfasst, frei zu entscheiden, ob sie ein Kind bekommen will oder nicht. Damit erkannte das Gericht die fundamentale Verknüpfung zwischen der Identität als Frau und der Entscheidung über Reproduktion als höchstpersönliche und grundrechtsrelevante Entscheidung an.
Diese Verknüpfung schickt sich der Supreme Court jetzt an zu kappen. Das geht aus dem von Politico veröffentlichten und von Richter Samuel Alito verfassten Urteilsentwurf im Fall Dobbs v. Jackson Women’s Health Organization hervor. Das Votum von Richter Alito, stellt zum einen die Herleitung des Rechts auf einen Schwangerschaftsabbruch in Frage, aber auch das Right to Privacy (Recht auf Privatsphäre) als solches („it held that the abortion right, which is not mentioned in the Constitution is part of a right to privacy, which is also not mentioned“ (S. 9)). Roe sei, so der Entwurf, „egregiously wrong from the start“ (S. 6).
Was eine solche Art der „Veröffentlichung“ über die Verhältnisse innerhalb des Gerichts aussagt, darüber ließe sich lange spekulieren und könnte auf institutioneller Ebene allenfalls zu der Hoffnung Anlass geben, dass dieser Tabubruch eine Reform des Supreme Courts anstoßen könnte, um diesen endlich stärker zu entpolitisieren. In dem Fall Dobbs v. Jackson Women’s Health Organization geht es um ein 2018 verabschiedetes Gesetz aus Mississippi, das mit wenigen Ausnahmen alle Abtreibungen nach der 15 Schwangerschaftswoche verbietet – in offenem Widerspruch zum Urteil Roe v Wade, wonach bis zur Lebensfähigkeit des Fötus (circa 24. Schwangerschaftswoche) keine Regulierungen i.S.e. Verbots zulässig sind. Von einem abgestuften Lebensschutz, der mit dem Recht der Frau, ihre eigene Identität als Mutter frei zu wählen, abgewogen wird, will das Votum von Richter Alito nichts mehr wissen: Die Verfassung gebe keine Anhaltspunkte für ein Recht auf Abtreibung – die verfassungsrechtlich durchaus umstrittene, aber bestätigte Herleitung über das Recht auf Privatsphäre sei abzulehnen (siehe dazu: Stein, Verfassungblog, 04.05.22).
Das Recht auf Schwangerschaftsabbruch und das Right to Privacy
Diese Argumentation scheint aus deutscher Perspektive nicht ganz überraschend. Wieso sollte sich aus einer Due Process Clause ein Recht auf Abtreibung ergeben? Dass sich aus dem Recht auf ein ordentliches Gerichtsverfahren (due process) neben einer prozeduralen, auch eine substantielle Seite ergibt, ist zwar kontrovers, aber im Ergebnis anerkannt. Die prozedurale Seite beschreibt prozessrechtliche Vorgaben, die der Staat in einem Verfahren beachten muss: Zustellungserfordernisse, Anhörungsrechte, das Recht auf eine anwaltliche Beratung etc.. Die substantielle Due Process Clause basiert genau wie das formelle Recht auf dem Prinzip der „fundamental fairness“ und ermöglicht dem Gericht zu prüfen, ob ein Gesetz angewandt werden kann – unabhängig von prozeduralen Gegebenheiten. Erstmals verfassungsrechtlich bestätigt wurde die substantielle Seite der Due Process Clause in Allgeyer v. Louisiana, nachdem sie kurze Zeit davor in Slaughterhouse abgelehnt wurde. Und auch das Recht auf Privatsphäre ergibt sich nicht explizit aus der Verfassung heraus, wurde allerdings bereits 1890 in einem der bekanntesten rechtlichen Aufsätze der USA postuliert (Warren/Brandeis, The Right to Privacy, Harvard Law Journal 1890) und 1965 durch den Supreme Court in Griswold v. Connecticut etabliert. Zu Beginn der Rechtsprechungslinie des Supreme Courts steht dabei das Recht auf Privatsphäre als right to be let alone im Vordergrund, eine zutiefst antitotalitäre Lesart (und somit höchst amerikanisch). Über die letzten Jahrzehnte entwickelte sich die Rechtsauslegung weiter: Das Recht auf Privatsphäre soll die Möglichkeit bieten, sich seine eigene Identität aufzubauen und auszuleben. Auf „personale Autonomie“ kommt es an, wobei die Frage, welche Bestandteile der Persönlichkeitsentwicklung Teil derselben sind, unbestimmt bleibt. So hat beispielsweise der Supreme Court 1986 in Bowers v. Hardwick abgelehnt, die strafrechtliche Verfolgung von Homosexualität aufgrund des Right to Privacy für verfassungswidrig zu erklären. Als Grund führt dar Gerichtshof an, dass es sich bei homosexueller Sexualität gerade nicht um ein verfassungsrechtlich geschütztes Recht handele. Diese Entscheidung wurde zwar 2003 in Lawrence v. Texas aufgehoben, zeigt aber eine Schwäche des Right to Privacy auf: Welche Aspekte der personalen Autonomie sollen verfassungsrechtlich geschützt werden und wie kann das Gericht in nachvollziehbarer Art und Weise über solche Fragen entscheiden? Rubenfeld beschreibt die Auslegung durch das Gericht dabei wie folgt:
“We are told [by the Court] that privacy encompasses only those “personal rights that can be deemed ‘fundamental’ or ‘implicit in the concept of ordered liberty,”‘ that it insulates decisions “important” to a person’s destiny, and that it applies to “matters … fundamentally affecting a person.” Perhaps the best interpretation of these formulations is that privacy is like obscenity: the Justices might not be able to say what privacy is, but they know it when they see it.”
Im Kern werden liberale Richter*innen solche identitätsbestimmenden Fragen als Teil des Right to Privacy anerkennen, die zentraler Teil der Persönlichkeit und im Kernbereich von Freiheitsverständnissen angesiedelt sind. Eher konservative Richter*innen begrenzen das Right to Privacy stärker, da es als fundamentales Recht einem Naturrecht nahekomme und daher eine gewisse Tradition in der Geschichte der USA aufweisen müsse. Dieses konservativere Verständnis führte 1986 in Hardwick zum besagten Ergebnis. In einer 5:4-Entscheidung wurde die strafrechtliche Verfolgung von Homosexualität für verfassungskonform erklärt, da ein solches Recht weder in der Geschichte oder der Tradition der USA, noch im Freiheitsverständnis verankert sei – und somit nicht Bestandteil des Right to Privacy. Dieser Argumentationslinie bedient sich nun Richter Alito in Dobbs. Das Recht auf Abtreibung ergebe sich nicht aus der Verfassung, da es gerade nicht in der nationalen Geschichte verankert sei („deeply rooted in the nation’s history”, S. 5 mit Verweis auf Washington v. Glucksberg, 1997). Dies ist in zweifacher Hinsicht ein bedauerlicher Rückschritt: Zum einen verwendet das Gericht eine naturrechtliche und historisch rückwärtsgewandte Auslegung des Right to Privacy, zum anderen hatte sich der Supreme Court seit Lawrence v. Texas (2003) von einer solchen streng historischen Auslegung des Right to Privacy entfernt. Eine deutlichere und gefestigtere Definition des Right to Privacy im Kontext einer freien Persönlichkeitsentwicklung hätte eine solche Abkehr von der seit fast 50 Jahren bestehenden Rechtsprechungslinie unter Umständen zu verhindern gewusst. Denn, dieser rechtliche Rückschritt hätte, das steht schon heute fest, immense Konsequenzen: In 22 Staaten wird damit gerechnet, dass der Schwangerschaftsabbruch entweder unmittelbar eingeschränkt oder erheblich erschwert werden würde. Davon überproportional betroffen wären vor allem arme Frauen und Familien, die sich eine Ausreise in andere Bundesstaaten gerade nicht leisten könnten.
Feminist Resistance and Backlash
Besonders interessant (und/oder tragisch) ist diese Entwicklung vor dem Hintergrund, dass sich auf internationaler und nationaler Ebene ein Konzept von reproduktiven Rechten und Gerechtigkeit verbreitet, das den Schwangerschaftsabbruch zum einen als Gesundheitsleistung versteht und zum anderen im Kontext unterschiedlicher Rechte verortet. UN-Ausschüsse, die WHO, sowie das Europäische Parlament betonen immer wieder die Wichtigkeit des Zugangs zum Schwangerschaftsabbruch und den fundamentalen Charakter von reproduktiver Freiheit. Gleichzeitig wurde durch gesellschaftliche Bewegungen das Schwangerschaftsabbruchsrecht in Ländern wie Argentinien, Mexiko und Irland liberalisiert (wobei Zugangshindernisse weiterhin bestehen). Demgegenüber sind Gesetzesverschärfungen in Polen und jetzt wohl auch in den USA als feminist backlash zu verstehen.
In welche Reihe wird sich Deutschland in den kommenden Jahren einordnen? Zwar ist der Schwangerschaftsabbruch in Deutschland über § 218 StGB kriminalisiert, über die Beratungslösung ist der Abbruch innerhalb der ersten 14. Schwangerschaftswochen jedoch prinzipiell zugänglich, wenngleich formell immer noch rechtswidrig. Die dogmatisch widersprüchliche Lösung des tatbestandslosen, gleichzeitig rechtswidrigen Abbruchs verdeutlicht aber ganz klar die dahinterliegende verfassungsrechtlich geforderte Wertung: Abtreibungen sind Unrecht. Solange Schwangerschaftsabbrüche nicht zumindest grundsätzlich als Gesundheitsdienstleistung akzeptiert werden, müssen schwangere Personen immer damit rechnen, dass der „gewährte Zugang“ zum Schwangerschaftsabbruch auch wieder „genommen“ werden kann. Die aktuellen Vorkommnisse in den USA entlarven jegliche Beschwichtigungstaktiken und Beruhigungsversuche, man solle am „Kompromiss“ des § 218 StGB nicht rütteln, da es sonst noch schlimmer kommen könnte, als absolut unzulänglich. Denn Abtreibungsgegner*innen legen ihre Arbeit nicht nieder, weder in den USA noch in Deutschland. Nur ein gesellschaftliches, von der Rechtsordnung getragenes und gespiegeltes Umdenken bezüglich des Schwangerschaftsabbruchs verspricht langfristig Sicherheit für Frauen und ihr Recht auf Privatsphäre.
“Von einem abgestuften Lebensschutz, der mit Recht der Frau, ihre eigene Identität als Mutter frei zu wählen, abgewogen wird, will das Votum von Richter Alito nichts mehr wissen: Die Verfassung gebe keine Anhaltspunkte für ein Recht auf Abtreibung”
Was für ein Unsinn.
RoevsWade und PPvsCasey waren gerade die Entscheidungen, welche von einem abgestuften Lebensschutz nichts wissen wollten.
RvW legte fest, dass der Staat Ungeborene nicht als Leben ansehen dürfe, sondern nur “potentielles Leben” und hat JEGLICHE Einschränkungen vor “viability” (damals 28SSWpm, heute 22/23SSWpm) zur Berücksichtigung des Lebensrechts Ungeborener VOLLSTÄNDIG untersagt.
Eine Regelung wie in D wäre bei RvW/PPvCasey unzulässig gewesen. Sieht man auch an dem Verfahren, D hat 14SSWpm und Missisipi 15SSWpm, und deren Gesetz verstieß gegen RvW.
Erst das Umwerfen von RvW ermöglicht es, dass Bundesstaaten in USA eine Abwägung wie in D machen könnten (das einige fast vollständig zugunsten des Ungeborenen abwägen werden, ändert daran nichts).
Der Artikel ist somit im Kern inkompetent, da er RvW völlig falsch darstellt.
Lieber Herr Kren,
Ihre Auffassung zu der „Kompetenz“ dieses Artikels teile ich in keiner Weise. Viel mehr gibt der Artikel zutreffend die Hintergründe der Entscheidung wieder, verweist auf einschlägige Rechtsprechung und wertet nur dort, wo dies auch tatsächlich einer Wertung entspricht. Hinsichtlich der Abstufung des Lebensschutzes ist es sehr wohl eine Abstufung, wenn das Gericht zwischen der selbstständigen Lebensfähigkeit des Embryos und der Zeit, in dieser er das nicht ist, unterscheidet. Meiner Ansicht nach ist Ihre Kritik daher nicht auf den Artikel oder dessen Inhalt, sondern auf die Regelungssystematik hinsichtlich der Schwangerschaftsabbruchszulässigkeit selbst gerichtet. Ihre Ansicht hinsichtlich dieses Themas ist im Internet einschlägig bekannt.
Viele Grüße