04 May 2022

Das Ende von Roe v. Wade

Die geleakte Entscheidung des Supreme Court und das Recht auf Abtreibung in den USA

Am Montagabend hat das Magazin Politico einen Entscheidungsvorschlag des US Supreme Court in der Sache Dobbs v. Jackson Women’s Health Organization veröffentlicht. Die Draft Opinion von Justice Samuel Alito vom 10.2.22 erklärt das restriktive Abtreibungsrecht Mississippis für verfassungsgemäß und das geltende Recht, das auf den Entscheidungen Roe v. Wade und Planned Parenthood v. Casey fußt, für überstimmt und damit aufgehoben.

Die Draft Opinion ist, wenngleich sensationell, noch nicht das endgültige Urteil. Die Justices könnten ihre Stimmabgabe bis zum finalen Votum jederzeit ändern, mehrere draft opinions könnten im Umlauf sein, dissents und concurrences bekannt werden und das Stimmverhalten beeinflussen. Auch ein Aushandeln bestimmter Stimmvergaben und die entsprechende Anpassung der opinions sind dem Prozess nicht fremd. Erst mit der Veröffentlichung der Entscheidung, mit der in den nächsten Monaten gerechnet wird, steht das Ergebnis und der genaue Wortlaut fest.

Das Leck

Die Draft Opinion wurde Politico aus angeblich zuverlässigen Quellen zugespielt, die auch bei Beratungen des Supreme Courts zugegen gewesen sein wollen. In Betracht kommen damit eigentlich nur die Justices selber, 36 sog. law clerks und Sekretariatspersonal. Die Authentizität des Dokuments wurde mittlerweile vom Supreme Court bestätigt. Chief Justice Roberts sieht in der Veröffentlichung einen Verrat und betont, dass es sich nicht um die endgültige Version der Entscheidung handelt.

Leaks aus Kreisen des Supreme Courts sind ungewöhnlich und selten, wenn auch nicht beispiellos. Allerdings ist noch nie eine draft opinion durchgesickert – das Geschehen ist daher besonders bemerkenswert. Während konservative Kommentator*innen von einem leak durch eine*n Mitarbeiter*in eines liberalen Justice ausgehen, spricht auch eignes für die Theorie, dass der Draft aus dem konservativen Lager der Presse zugespielt wurde. Bestimmte Passagen des Urteils rühmen die Unabhängigkeit des Gerichts von der öffentlichen Meinung. Befürchtet wird, dass eine eventuelle Stimmänderung (die zu einem anderen Ausgang führen könnte) als Reaktion auf das Leck gelesen werden könnte. Die Stimmänderung könnte sodann ihre Legitimität verlieren; gleichzeitig kann dieses Szenario Justices (hoch im Rennen: Roberts und Kavanaugh) von einer Stimmänderung abhalten.

Als Antwort auf den Leak wurden Barrikaden um den Supreme Court errichtet und eine Untersuchung angekündigt. Auch Rufe nach einer strafrechtlichen Verfolgung der Person wurde gefordert, neben Geheimnisverrat könnte auch der Diebstahl bundesstaatlichen Eigentums verfolgt werden. Politisch kann der Leak auch als Gesichtsverlust für Chief Roberts gelesen werden, der sein Gericht nicht im Griff zu haben scheint. Die Forderung nach seinem Rücktritt und/oder von Amtsenthebungsverfahren gegen ihn oder den*die schuldigen Richter*innen (verbunden mit der Hoffnung auf weitere Nominierungen von Richter*innen durch Präsident Biden oder der Nicht-Besetzung liberaler Posten) sind aber wohl rein politischer Natur und haben keine rechtliche Grundlage. Politiker*innen zeigen sich bestürzt über das Leck, vor allem aber über den Inhalt des Drafts.

Die Draft Opinion

Wird ein Fall vom Supreme Court zur Entscheidung angenommen, wird spätestens nach der mündlichen Verhandlung ein*e Berichterstatter*in aus der sich aufzeigenden majority opinion festgelegt. Dass Justice Alito die majority opinion verfasst, ist ein Resultat der konservativen Mehrheit im Gericht, die er zusammen mit den Justices Gorsuch, Coney Barrett, Kavanaugh und Thomas bildet. Politico berichtet, die fünf konservativen Justices hätten für die Verfassungsmäßigkeit das restriktive Abtreibungsrecht Mississippis gestimmt. Ob sich Chief Justice Roberts der zu erwartenden majority anschließt, bleibt nach seinen Ausführungen zu June Medical abzuwarten. Aber selbst wenn nicht, würde das an den derzeit anzunehmenden Mehrheitsverhältnissen nichts ändern.

Stare Decisis und Precedent

In dem Fall Dobbs v. Jackson Women’s Health Organization geht es um ein Gesetz aus Mississippi, das Abtreibungen nach der 15. Schwangerschaftswoche verbietet. Damit widerspricht das Gesetz, wie viele andere z.B. aus Texas, Georgia, Idaho oder Kentucky, dem aufgrund von Roe v. Wade und Planned Parenthood v. Casey geltendem Verfassungsrecht, dass Abtreibungen bis zum Zeitpunkt der Lebensfähigkeit außerhalb des Körpers der Mutter (24. Schwangerschaftswoche) nicht beschränkt werden dürfen.

Die Abkehr vom geltenden Verfassungsrecht in der Form der Entscheidungen Roe v. Wade und Casey widerspricht der stare decisis-Regel, wonach der Supreme Court an seine bisherige Rechtsprechung gebunden ist. Die Abkehr von vorheriger Rechtsprechung muss, um eine vorhersehbare und kohärente Entwicklung von Rechtsgrundsätzen zu fördern, das Vertrauen in gerichtliche Entscheidungen zu stärken und zur Integrität des Rechtsverfahrens beizutragen besonders begründet werden. Zudem muss die Ursprungsentscheidung undurchführbar und schlecht durchdacht sein. Als Beispiele für Entscheidungen, die trotz stare decisis aufgegeben wurden, führt Alito Plessy v. Ferguson (die Grundlage der diskriminierenden „separate but equal“-Doktrin), Lochner (diskriminierende Lohn- und Arbeitsregelungen gegen Frauen) und Minersville School District (Zwang zum Salut der amerikanischen Flagge in der Schule) an. Allein die Einreihung von Roe v. Wade in diese Reihe zeigt, dass Alito darin tatsächliches, gesellschaftsspaltendes Unrecht sieht, dass mit der Diskriminierung aufgrund der Rasse, des Geschlechts und der Glaubensüberzeugung auf einer Stufe steht.

Freiheitsarchitektur und Recht auf Privatsphäre

Die Draft Opinion gibt preis, dass die Mehrheit des Gerichts überzeugt ist, dass das bisher geltende Recht zu Abtreibungen nicht mit der Verfassung übereinstimme. Roe und Casey müssten folglich aufgehoben werden; Roe sei zudem von Anfang an eine ungeheuerlich falsche Entscheidung gewesen (eine Formulierung, die bisher nur zur Beschreibung von Plessy v. Ferguson und Korematsu genutzt wurde – zwei Urteile, die die Grundlage für massive, rassistische Diskriminierungen darstellten). Sie sei von Beginn an auf Konfrontationskurs mit der Verfassung gewesen und stelle einen Fehler dar, der nicht bestehen bleiben dürfe. Das liege an der sich durch die Entscheidung ziehenden schwachen Argumentation, an einer falschen Anknüpfung an den 14. Verfassungszusatz, einer fehlerhaften Würdigung der (rechtlichen) Tradition der USA und der Verkennung des bundesstaatliches Kompetenzgefüges.

Geschichte und Tradition der USA

Justice Alito sieht keinen Hinweis auf ein Abtreibungsrecht in der amerikanischen Verfassung, weder explizit noch implizit. Auch der 14. Verfassungszusatz könne im Rahmen seiner Due Process Clause nur solche in der Verfassung nicht erwähnten Rechte enthalten, wenn diese tief in der nationalen Geschichte und Tradition verankert seien und implizit zur „ordered liberty“, der ausbalancierten Freiheitsarchitektur der USA gehörten. Das Recht auf Abtreibung gehöre aber gerade nicht dazu – eine historische Analyse zeige, dass es bis zur zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vollkommen unbekannt gewesen sei, das Common Law eine lange Tradition des Verbots von Abtreibungen aufweise und auch 1973, dem Zeitpunkt von Roe in drei Viertel der Bundesstaaten Abtreibungen komplett verboten waren. Das Recht, eine Schwangerschaft zu beenden, sei daher nicht in der amerikanischen Tradition verankert – im Gegenteil. Bis zu Roe v. Wade zeuge die amerikanische Geschichte von einer ungebrochenen Tradition eines allgemeinen Abtreibungsverbots. Alito verkennt dabei das auch schon im Common Law verankerte und in den Bundesstaaten übernommene Recht auf Abtreibung bis zum sog. „quickening“, dem Spüren der ersten fötalen Bewegungen (ca. 17. Schwangerschaftswoche).

Roe und Casey sprächen vom Recht auf Abtreibung als Teil von intimen, persönlichen Entscheidungen, die zentral für die persönliche Freiheit und Würde der Person seien. Zur Freiheit gehören nach Casey auch Fragen über Konzepte der Existenz, des Universums, der Bedeutung und dem Mysterium des menschlichen Lebens. Über diese Fragen und Freiheiten dürfe man nach Alito unbeschränkt nachdenken, allerdings ergebe sich daraus kein uneingeschränktes Handlungsrecht dem eigenen Gewissen folgend. Unbeschränkte Handlungen gehörten gerade nicht zur Freiheitsarchitektur der amerikanischen Verfassung. Das Recht auf Abtreibung müsse einen Ausgleich zwischen der persönlichen Freiheit der schwangeren Frau und dem „potentiellen Leben“ finden. Das sei aber weder 1973 in Roe, noch 1992 in Casey gelungen. Die Fälle seien daher auch unbrauchbar, um den verfassungsrechtlichen Konflikt zu befrieden.

Das Recht auf Privatsphäre als Basis sei ein kategorialer Fehler

Roe und Casey, sowie die heutigen Befürworter eines Abtreibungsrechts, stützten ihre Argumente auf das Recht auf Privatsphäre (right to privacy) und zitierten als precedent Fälle wie das Recht auf Heirat einer Person einer anderen Rasse (Loving v. Virgina), des gleichen Geschlechts (Obergefell) oder das Recht, nicht ohne Einwilligung sterilisiert zu werden (Skinner v. Oklahoma).  Dabei werde verkannt, dass diese Rechte alle nicht die „tiefgreifend moralische Frage“ der „Zerstörung“ eines „potentiellen Lebens“ oder eines „ungeborenen Menschen“ beträfen. Sie eigneten sich daher nicht als precedent und das Recht auf Privatsphäre nicht als Ausgangspunkt eines Rechts auf Abtreibung. Die Verortung des Abtreibungsrechts im Recht auf Privatsphäre stelle einen kategorialen Fehler der Entscheidungen dar.

Kompetenzfragen

Hinzu komme, dass die bundesstaatliche Regelung die einzelnen Staaten in ihrer Freiheit beschneide, das Abtreibungsrecht nach ihren Vorstellungen zu regulieren. Bürger*innen hätten nicht mehr die Möglichkeit, die Regelungen des Abtreibungsrechts durch Einwirken auf ihren Repräsentanten in diese oder jene Richtung zu beeinflussen. Befürworter*innen des Abtreibungsrecht müssten aufzeigen, warum eine bundeseinheitliche Regelung, die ihren Ursprung nur in der Verfassung haben könne, diese Entscheidungsmöglichkeit von den Wähler*innen der einzelnen Staaten abziehen dürfe. Das sei bisher nicht gelungen. Die Verankerung der Regulierung des Rechts auf Abtreibung im Bundesrecht stelle daher einen „Kurzschluss des demokratischen Prozesses“ dar, der alle, die eine anderslautende Regelung befürworteten, von dessen Deliberation ausschließe.

Das Recht auf Abtreibung, wie es Roe und Casey zusammen festlegen würde, sei damit hinfällig. Der Supreme Court wisse nicht, wie die Entscheidung in der Bevölkerung aufgenommen werden würde, dürfe sich davon aber auch nicht beeinflussen lassen. Allein entscheidend sei, dass die Verfassung kein Recht auf Abtreibung kenne und daher auch den Bundesstaaten und ihrer Wähler*innenschaft keine Regelungen vorgeben dürfe.

Konsequenzen

Würde die Draft Opinion in dieser Form als Urteil ausgesprochen, wäre der Zustand vor 1973 wiederhergestellt. Die Bundesstaaten allein könnten entscheiden, ob und wie sie das Recht auf Abtreibung regulieren möchten. 27 Bundesstaaten haben den Supreme Court im Rahmen von amici curiae Briefen gebeten, Roe zu verwerfen. Diese und andere planen derzeit Gesetze, die Abtreibungen verbieten, wie z.B. Texas. Andere Staaten werden folgen; berichtet wird von Gesetzen, die am Tage der Urteilsverkündung sofort in Kraft gesetzt und sogleich Abtreibungen stark limitieren oder ganz verbieten würden.

Aber auch Staaten mit demokratischer Mehrheit bereiten sich auf eine Zeit nach Roe vor. Connecticut erlässt zur Zeit ein Gesetz, dass Abtreibungen für Patientinnen von andern Staaten erleichtert und ihre medizinischen und persönlichen Daten vor Weitergabe schützt. Manche befürchten, dass abtreibungsfeindliche Staaten die Reisefreiheit von Frauen, die eine Abtreibung vornehmen lassen, einschränken oder die Abtreibung in einem anderen Bundesstaat pönalisieren könnten.

Mit der Entscheidung würden die Wahlversprechen Donald Trumps und die schlimmsten Befürchtungen von Menschenrechtsaktivist*innen wahr. Die konservative Mehrheit am Supreme Court hat es in der Hand, das Abtreibungsrecht in einen Zeitpunkt vor 50 Jahren zurückzuversetzen. Stimmen werden laut, die ein bundesstaatliches Gesetz zur Wahrung des Rechts auf Abtreibung fordern. Sollte dies aufgrund der Mehrheitsverhältnisse im Senat nicht durchzusetzen sein, müsse der Filibuster abgeschafft werden.

Diesen noch unkonkreten Plänen der Demokraten stehen Berichte über konkrete Vorhaben der Republikaner gegenüber. Als House Bill 1 soll bereits ein Gesetzesvorschlag abgefasst sein, der als erste Gesetzesinitiative bei einem Sieg der Republikaner bei den midterms 2022 Abtreibungen auf bundesgesetzlicher Ebene verbieten soll. Der Draft argumentiert mit dem mangelnden demokratischen Prozess der Entscheidung als case law.  Ein Bundesgesetz, egal welcher Couleur, würde diese eh auf wackeligen Beinen stehende Argumentationslinie zunichte machen. Und auch der entscheidungserhebliche Vorwurf, dass Roe und Casey die Abtreibungsfrage gesamtgesellschaftlich nicht befrieden konnten, wird sich gegen Dobbs richten. Roe wurde von einer 7-2 Mehrheit getragen, die konservative Justices einschloss, während Dobbs strikt entlang der verhärteteren parteipolitischen Fronten innerhalb des Gerichts entschieden werden dürfte und obendrein durch die Umstände der Berufung von Gorsuch, Kavanaugh und Coney Barret weniger Legitimität oder Befriedungswirkung für sich in Anspruch nehmen kann.

Die Sprache und Argumentationslogik der Entscheidung gibt zudem Anlass zur Sorge um andere Rechte, die aus dem Recht auf Privatsphäre und dem 14. Verfassungszusatz entspringen. Die gleichgeschlechtliche Ehe oder die Straffreiheit der Homosexualität könnten mit ähnlichen Argumenten wie in Dobbs angegriffen werden. Dass das der Plan ultrakonservativer Christen ist, ist kein Geheimnis. Mit Blick auf die Argumentation in Hobby Lobby (folgt ein Unternehmen religiösen Grundsätzen, kann es Verhütungsmittel aus der Krankenversicherung seiner Mitarbeitenden ausschließen, da auch Verhütungsmittel „Abtreibungseffekte“ haben könnten) könnte auch die Entscheidung in