Frei für wen?
Ein Blick auf die rechtlichen Hintergründe der „Flaniermeile Friedrichstraße“
Nach „68 Auto-Tagen“ ist die Friedrichstraße in Berlin nun wieder autofrei. Während man sich auf Twitter noch darüber streitet, ob das nun eine Sperrung (für die Autos) oder eine Öffnung (für den Rest) darstellt, hat das Bündnis „Rettet die Friedrichstraße“ bereits angekündigt, gegen die Fußgängerzone rechtlich vorzugehen. Dass die Initiative damit Erfolg haben wird, ist jedoch unwahrscheinlich, wie ein Blick auf die rechtlichen Hintergründe der „Flaniermeile Friedrichstraße“ zeigt.
Was bisher geschah
Am 2. Juli 2020 ordnete die Berliner Senatsverwaltung erstmals einen Verkehrsversuch zur Verkehrsberuhigung der Friedrichstraße an. Dafür sperrte sie den 500 Meter langen Abschnitt zwischen der Leipziger Straße und der Französischen Straße für den motorisierten Verkehr und richtete in der Mitte einen Schutzstreifen für den Radverkehr ein. Rechtsgrundlage war die Erprobungsvorschrift des § 45 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6, 2. Alt. Straßenverkehrsordnung (StVO). Der befristete Verkehrsversuch endete am 31. Oktober 2021. Um das Projekt weiterlaufen zu lassen, den motorisierten Verkehr also nicht nur versuchsweise, sondern dauerhaft von der Nutzung der Friedrichstraße auszuschließen, sollte die Friedrichstraße teileingezogen, d.h. straßenrechtlich in eine Fußgängerzone umgewidmet werden (§ 4 Abs. 1 Satz 3 Berliner Straßengesetz – BerlStrG). Als absehbar war, dass das Teileinziehungsverfahren beim Bezirksamt Mitte nicht rechtzeitig zum Ende des Verkehrsversuchs zum Abschluss kommen würde, erließ die Senatsverwaltung zur Überbrückung eine verkehrsrechtliche Anordnung, mit der sie die weitere Sperrung der Friedrichstraße für den motorisierten Verkehr verfügte. Gegen diese „Überbrückungs-Anordnung“ wandte sich die Unternehmerin Anja Schröder, die am Gendarmenmarkt einen Weinhandel betreibt, im Eilrechtsverfahren vor dem Verwaltungsgericht Berlin und bekam recht (Beschluss vom 24.10.2022, VG 11 L 398/22).
Der Beschluss des Verwaltungsgerichts
Die „Überbrückungs-Anordnung“ war gleich aus mehreren Gründen rechtswidrig: Zunächst lagen die Voraussetzungen der Ermächtigungsgrundlage nicht vor (Rn. 21-24 des Beschlusses). Nach § 45 Abs. 1 Satz 1 StVO können die Straßenverkehrsbehörden die Benutzung bestimmter Straßen aus Gründen der Sicherheit oder Ordnung des Verkehrs beschränken oder verbieten. Für Beschränkungen und Verbote des fließenden Verkehrs verlangt § 45 Abs. 9 Sätze 1 und 3 StVO darüber hinaus eine qualifizierte Gefahrenlage. Diese qualifizierte Gefahrenlage hätte der Senat vor Gericht aufwendig darlegen müssen, z.B. indem er mithilfe von Statistiken einen Unfallschwerpunkt auf der Friedrichstraße nachgewiesen hätte. Doch die strengen Voraussetzungen des Gesetzes und die hohen Anforderungen an die Darlegungslast waren hier nicht das Problem (anders z.B. bei der rechtlichen Umsetzung der Pop-Up-Radwege, vgl. dazu hier). Denn auf der Friedrichstraße ging es dem Senat nie um die Sicherheit und Ordnung des Verkehrs. Ziel der Sperrung war es vielmehr von Anfang an, die Aufenthaltsqualität in der Friedrichstraße als Geschäftsstraße zu verbessern, einen attraktiveren Standort zu schaffen und zu erproben, ob eine dauerhafte Teileinziehung des Straßenabschnitts möglich sei (Rn. 23 des Beschlusses). Diese Erwägungen tragen die ordnungsrechtliche straßenverkehrsrechtliche Anordnung nicht.
Hinzu kommt, dass die straßenverkehrsrechtliche Sperrung der Friedrichstraße für den motorisierten Verkehr gegen den Vorbehalt des Straßenrechts verstieß (Rn. 27 des Beschlusses). Während das bundesrechtliche Straßenverkehrsrecht (Art. 72 Abs. 1, Art. 74 Abs. 1 Nr. 22 GG) den Verkehr unter ordnungsrechtlichen Gesichtspunkten regelt, legt das landesrechtliche Straßenrecht mit der Widmung fest, welche Nutzungen zum erlaubnisfreien Gemeingebrauch und welche Nutzungen zur erlaubnispflichtigen Sondernutzung gehören. Aus dieser Kompetenzaufteilung folgt, dass das Straßenverkehrsrecht nicht zu verkehrsregelnden Maßnahmen berechtigt, die dem Inhalt der Widmung dauerhaft widersprechen. So war es aber hier: Die straßenrechtliche Widmung der Friedrichstraße erfasste auch die motorisierte Nutzung der Straße. Diese Nutzungsart wollte der Senat mit der straßenverkehrsrechtlichen Anordnung dauerhaft ausschließen.
Auf der Grundlage dieser Erwägungen hat das Verwaltungsgericht die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Antragstellerin angeordnet und die Senatsverwaltung dazu verpflichtet, die betreffenden Verkehrszeichen zu entfernen.
Neues Spiel, neues Glück!
Nachdem die Autos also für zwei Monate wieder auf der Friedrichstraße fahren durften, hat das zuständige Bezirksamt Mitte nun die Teileinziehung der Friedrichstraße im Amtsblatt veröffentlicht (ABl. Nr. 4 vom 27.1.2023, S. 412). Dort heißt es, dass die Benutzung der teileingezogenen Flächen nur „Fußgänger/-innen und Fahrradfahrer/-innen sowie für Fahrten mit Elektrokleinstfahrzeugen […] Rettungsfahrzeugen, Fahrzeugen der Polizei und Fahrzeugen der Ver- und Entsorgung sowie der Straßenunterhaltung und des Lieferverkehrs zugelassen“ wird. Bereits vor der Veröffentlichung hat das Bündnis „Rettet die Friedrichstraße“ angekündigt, gegen die Fußgängerzone rechtlich vorzugehen. Notfalls werde man alle Instanzen (wahlweise) bis zum Bundesverwaltungsgericht oder bis zum Bundesverfassungsgericht gehen. Dass die Initiative mit diesem Verfahren ebenso offensichtlich erfolgreich sein wird, wie sie mit dem letzten Verfahren war, ist indes unwahrscheinlich.
Die erste Hürde stellt sich bereits im Rahmen der Zulässigkeit. Die Antragsteller*innen müssen gemäß § 42 Abs. 2 VwGO analog geltend machen, durch die Teileinziehung in einem subjektiven Recht verletzt zu sein. Es gibt aber kein Recht auf Aufrechterhaltung des Gemeingebrauchs (vgl. § 10 Abs. 2 Satz 2 BerlStrG). Anders als bei der straßenverkehrsrechtlichen Anordnung kann die Verkehrsallgemeinheit also keinen Eingriff in ein subjektiv öffentliches Recht geltend machen, wenn der Gemeingebrauch auf einer Straße eingeschränkt wird. Anderes kann für Anlieger*innen gelten, wenn der verfassungsrechtlich über das Eigentumsrecht in Art. 14 Abs. 1 GG geschützte Kern des Anliegerrechts betroffen ist. Der verfassungsrechtlich geschützte Anliegergebrauch umfasst jedoch nur den „notwendigen Zugang des Grundstücks zur Straße und seine Zugänglichkeit von ihr“ (vgl. nur BVerwG, Urteil vom 8. September 1993 – 11 C 38/92, Rn. 12), nicht geschützt ist die Erreichbarkeit mit Kraftfahrzeugen oder die Aufrechterhaltung einer bestehenden günstigen Zufahrtsmöglichkeit. In engen Grenzen können schließlich Anlieger*innen benachbarter Straßen ihre Antragsbefugnis daraus ableiten, dass sie aufgrund von Verdrängungsverkehr mit mehr Lärm- und Abgasimmissionen belastet sind. Ob die festgestellte leichte Erhöhung der Lärm- und Abgasbelastung in den an die Friedrichstraße angrenzenden Straßen (siehe Ergebnisse des Verkehrsversuchs) ausreicht, um eine Antragsbefugnis zu begründen, ist offen.
Jedenfalls dürfte aber ein entsprechender Eilantrag an der mangelnden Begründetheit scheitern. Die formell rechtmäßige Teileinziehung liefert im Gegensatz zur straßenverkehrsrechtlichen Anordnung eine taugliche Rechtsgrundlage für die Sperrung der Friedrichstraße für den motorisierten Verkehr. Ermächtigungsgrundlage ist § 4 Abs. 1 Satz 3 BerlStrG. Danach kann der Bezirk den erlaubnisfreien Gemeingebrauch an einer Straße nachträglich auf bestimmte Benutzungsarten beschränken.
Einzige Tatbestandsvoraussetzung für die Teileinziehung ist das Vorliegen überwiegender Gründe öffentlichen Wohls. Dieser Begriff ist weit zu verstehen und umfasst auch die von der Verwaltung angestrebten Ziele, den Fuß- und Radverkehr zu steigern, den Einzelhandels- und Gewerbestandort Friedrichstraße zu stärken, die Luft zu verbessern und die Lärmbelastung zu vermindern und die Attraktivität der Friedrichstraße und ihres Umfelds zu steigern. Die Teileinziehung bietet also gerade auch Raum für die Berücksichtigung von Aspekten, die sich verfassungsrechtlich im Schutz des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 GG) und in der Staatszielbestimmung Umweltschutz (Art. 20a GG) verankern lassen. Anders als bei der straßenverkehrsrechtlichen Anordnung, in deren Rahmen die Behörde nur Aspekte der Sicherheit und Ordnung des Verkehrs berücksichtigen darf, steht der Behörde mit der Teileinziehung ein Instrument zur Verfügung, um die Stadt nach ihren Vorstellungen zu gestalten.
Darüber hinaus ist die Teileinziehung in das Ermessen der Behörde gestellt, dessen Ausübung das Verwaltungsgericht auf Ermessensfehler überprüfen wird. Eine Ermessensüberschreitung kann dabei insbesondere dann angenommen werden, wenn die Maßnahme unverhältnismäßig ist, die Behörde die widerstreitenden Interessen also nicht in einen angemessenen Ausgleich gebracht hat. Niemand kann, zumal ohne Einblick in die Feinheiten des Sachverhalts, vorhersagen, wie das Gericht die Abwägung bewerten wird. Hier spricht aber vieles dafür, dass die Verwaltung etwaige entgegenstehende Anliegerinteressen in der Abwägung zurückstellen durfte.
Wie bereits angedeutet, schützt das Anliegerrecht im Kern nur die Benutzung der Straße, soweit sie zur angemessenen Nutzung des Grundeigentums erforderlich ist. Nach der ständigen Rechtsprechung fällt unter den Gewährleistungsgehalt nur die Verbindung mit dem öffentlichen Straßennetz überhaupt, nicht dagegen die Erreichbarkeit mit eigenen Fahrzeugen oder eine besonders vorteilhafte oder bequeme Erreichbarkeit des Grundstücks. Der Anlieger teilt insofern das Schicksal „seiner“ Straße: Beschränkungen muss er hinnehmen, sofern die Straße als Kommunikationsmittel erhalten bleibt (vgl. bereits BVerwG, Urteil vom 8. Oktober 1976 – VII C 24.73 –, Rn. 28). Für die notwendigen Lieferungen mit Kfz und LKW für die Gewerbebetriebe, hat die Verwaltung den Gemeingebrauch auf den Lieferverkehr erstreckt und außerdem Ladezonen in den Querstraßen eingerichtet. Das dürfte die angemessene Nutzbarkeit auch der gewerblich genutzten Grundstücke sicherstellen. Nach der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung ist auch der Zugang potentieller Kund*innen zum Grundstück nicht vom verfassungsrechtlichen Anliegerrecht geschützt. Solange das Geschäft mit einem zumutbaren Fußweg erreichbar bleibt, ist dem Anliegerrecht genüge getan.
Ob die Gewerbebetriebe in der Friedrichstraße wegen des Verkehrsversuchs Umsatzeinbußen erlitten haben, ist aus rechtlicher Perspektive irrelevant (zur unklaren Datenlage siehe Abschlussbericht, S. 35). Nach ständiger Rechtsprechung umfasst der Schutz des eingerichteten und ausgeübten Gewerbetriebs aus Art. 14 Abs. 1 GG nur den Bestand des Unternehmens, nicht aber etwaige Gewinnaussichten, Hoffnungen oder Chancen. Insbesondere nicht geschützt ist das Vertrauen eines Unternehmens darauf, dass sich die verkehrliche Lage rund um seinen Betrieb nicht ändert oder dass eine bestehende Verkehrsanbindung aufrechterhalten bleibt (vgl. nur BVerfG v. 10.6.2009).
Will Berlin die Verkehrswende?
Langfristiges Ziel der Verwaltung ist eine verkehrliche und städtebauliche Neuentwicklung der gesamten alten Stadtmitte Berlins. In diesem Rahmen soll nach Angaben der Verwaltung „zeitnah“ ein detailliertes Gestaltungs- und Beteiligungsverfahren für die Friedrichstraße entwickelt werden (Verkehrsinformationszentrale Berlin). Die Ergebnisse dieses Verfahrens sollte die Verwaltung dazu nutzen, die Teileinziehung in der Praxis verhältnismäßig umzusetzen. Zum Beispiel könnte es notwendig sein, im Einzelfall Sondernutzungsgenehmigungen für eine motorisierte Nutzung der Straße zu erteilen. Zu denken wäre hier sicherlich auch an in ihrer Mobilität eingeschränkte Menschen, die im Einzelfall auf ihr Auto angewiesen sein können. Denkbar ist auch, dass die Verwaltung die Teileinziehung im laufenden Prozess noch einmal anpasst und damit auf praktische Herausforderungen reagiert. Dass die Verwaltung das verkehrliche Gesamtkonzept für die alte Stadtmitte noch nicht fertiggestellt, aber mit der autofreien Friedrichstraße bereits einen ersten Baustein umgesetzt hat, ist rechtlich nicht zu beanstanden. Über diese Vorgehensweise mag man sich politisch uneins sein, sie macht eine Maßnahme aber nicht unverhältnismäßig.
Der Blick auf die rechtlichen Hintergründe der „Flaniermeile Friedrichstraße“ hat gezeigt, dass uns das Recht nicht vor Veränderungen schützt. Das gilt gerade auch für die Verkehrswende und die damit zwingend einhergehende Neugestaltung des Verkehrsraums. Die straßenrechtliche Teileinziehung hat hier besonderes gestalterisches Potential. Und die geringen Rechtsschutzmöglichkeiten gegen eine Teileinziehung bestätigen das, was auch die öffentliche Diskussion um die Friedrichstraße nahelegt: Ob wir unsere Straßen im Sinne der Verkehrswende dauerhaft anders gestalten wollen, ist eine politische Frage. Sie wird an der Wahlurne entschieden und nicht vor Gericht.
“Der verfassungsrechtlich geschützte Anliegergebrauch umfasst jedoch nur den „notwendigen Zugang des Grundstücks zur Straße und seine Zugänglichkeit von ihr“ (vgl. nur BVerwG, Urteil vom 8. September 1993 – 11 C 38/92, Rn. 12), nicht geschützt ist die Erreichbarkeit mit Kraftfahrzeugen oder die Aufrechterhaltung einer bestehenden günstigen Zufahrtsmöglichkeit.”
Interessante Sophisterei.
Der „notwendige Zugang des Grundstücks zur Straße und seine Zugänglichkeit von ihr“ ist untrennbar vom Zweck dieses Zugangs, von der Funktion der Straße: Der Befahrbarkeit mit Fahrzeugen.
Um nichts anderes ging es in den paar Tausend Jahren Geschichte des Straßenbaus. Menschliche Gesellschaften ohne Fahrzeuge (das präkoloniale Amerika z.B.) bauen keine Straßen. Und es gibt immer noch Ecken der Welt mit sehr wenigen Straßen.
Zugegeben: Kraftfahrzeuge sind eher neu . . .
Interessant ist in diesem Zusammenhang auch das Beschluss des VG Hamburg vom 7.01.20 zu „Ottensen macht Platz“ (Az. 15 E 5647/19). Hier fehlte es zunächst an der straßenrechtlichen Widmung, denn wie auch im Berliner Fall ist das Straßenverkehrsrecht (StVO) lediglich Erfüllungsgehilfe (in Form von Verkehrszeichen) straßen- und widmungsrechtlicher Vorgaben.
Erst nach Teileinziehung (Beschränkung auf Fuß- und Radverkehr mit einigen Ausnahmen für Einsatz- und Elektrofahrzeuge) hat das VG Hamburg im weiteren Verfahren keine Bedenken.