28 August 2024

Freies Ermessen im Freistaat Thüringen?

Wie migrationsfeindliche Landesregierungen aufenthaltsrechtliche Auslegungs- und Ermessensspielräume missbrauchen könnten

In ihrem Wahlprogramm für die Landtagswahl in Thüringen (S. 65) schreibt die AfD von einer vermeintlichen „soziale[n] und gesellschaftliche[n] Katastrophe“ infolge jahrelanger Zuwanderung. Parteimitglieder verkünden, Migrant*innen ihre Aufenthaltsrechte entziehen zu wollen. Trotz breitem sozialwissenschaftlichem Konsens, dass die Übernahme rechter Themen Wähler*innen nicht zurückholt, greifen demokratische Parteien zunehmend rechte Narrative und Forderungen auf. Wenn Rechtsextreme aufenthaltsrechtliche Normen auslegen und anwenden, steht zu befürchten, dass anstelle von Normzweck sowie grund- und menschenrechtlicher Erwägungen sachfremde, migrationsfeindliche Überzeugungen die Rechtsanwendung leiten. Die bundesgesetzlichen Vorgaben laufen dabei Gefahr, umgangen und ihre Spielräume missbraucht zu werden. Wir argumentieren, dass sich das Missbrauchspotential der weiten Auslegungs- und Ermessensspielräume wie ein roter Faden durch das Aufenthaltsrecht zieht und fordern von den Gesetzgebungsorganen, das Aufenthaltsrecht widerstandsfähiger auszugestalten.

Missbrauchsanfällige Spielräume im Bundesrecht

Das Aufenthaltsgesetz adressiert Personen, die weder die deutsche noch eine andere EU-Staatsangehörigkeit haben. Aufenthaltsrechtliche Entscheidungen betreffen die Einreise, den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration (vgl. § 1 Abs. 1 S. 3 AufenthG) und berühren damit zentrale Lebensbereiche der Betroffenen. Bundesgesetze führen die Ausländerbehörden der Länder aus (§ 71 Abs. 1 AufenthG), die je nach Bundesland unterschiedlich und im Folgenden zusammengefasst als Einwanderungsbehörden bezeichnet werden. Das Aufenthaltsrecht kennzeichnet gegenüber anderen Bereichen des Verwaltungsrechts weiterhin die Besonderheit, dass Ermessensvorschriften stark dominieren. Während anderswo regelmäßig ein Anspruch der Antragstellenden entsteht, wenn die Tatbestandsvoraussetzungen erfüllt sind, steht die Erteilung von Aufenthaltstiteln oftmals im Ermessen der Einwanderungsbehörden. Es verbleibt nur ein Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung — und eine entsprechend eingeschränkte gerichtliche Kontrollmöglichkeit.

Das Aufenthaltsgesetz kennt gebundenes Ermessen, bei dem die Einwanderungsbehörde einen Antrag nur in atypischen Fällen ablehnen kann („Soll-Vorschrift“), wie etwa bei der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis bei nachhaltiger Integration gemäß § 25b Abs. 1 AufenthG. Es gewährt aber auch freies Behördenermessen („Kann-Vorschrift“), beispielsweise bei der Aufenthaltserlaubnis zur Ausübung einer selbständigen Tätigkeit gemäß § 21 AufenthG. Ermessenslenkende Verwaltungsvorschriften, wie Erlasse, konkretisieren das Ermessen meist auf Landesebene, auch in Thüringen.

Die zahlreichen Ermessensregelungen führen dazu, dass die jeweilige Landesregierung erheblichen Einfluss darauf hat, ob eine Person, die weder die deutsche noch eine andere EU-Staatsangehörigkeit besitzt, etwa arbeiten darf, einen Aufenthaltstitel erhält, oder ob sie ausgewiesen wird. Besonders häufig gelten Ermessensvorschriften für Menschen mit Duldungen. Das Missbrauchspotential ist hoch und droht den eigentlichen Zweck von Ermessensregelungen — die Einzelfallgerechtigkeit — zu verdrängen.

Für unbestimmte Rechtsbegriffe ergibt sich eine ähnliche Problematik. Auch bei diesen verbleibt den Landesregierungen ein großer Spielraum, sie durch norminterpretierende und -konkretisierende Verwaltungsvorschriften mit Inhalten zu füllen. Wann etwa eine Person als nachhaltig integriert im Sinne des § 25b Abs. 1 S. 1 AufenthG gilt, um ein Bleiberecht zu erhalten, wird zwar durch Regelvoraussetzungen konkretisiert. Diese schließen aber gerade nicht aus, dass die Einwanderungsbehörde eine nachhaltige Integration verneint, obwohl die Regelvoraussetzungen erfüllt sind. Großen Spielraum bietet zudem die breite Konzeption des Ausweisungsinteresses in § 54 AufenthG. Das ist nicht nur relevant für Ausweisungen, die ein bestehendes Aufenthaltsrecht entziehen: Dass ein Ausweisungsinteresse fehlt, ist allgemeine Voraussetzung für die Erteilung von Aufenthaltstiteln (§ 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG). Gemäß § 54 Abs. 2 Nr. 8 AufenthG ist beispielsweise ein schwerwiegendes Ausweisungsinteresse bereits dann anzunehmen, wenn eine Person in einem Verwaltungsverfahren Mitwirkungspflichten verletzt hat. Die Auffangnorm in § 54 Abs. 2 Nr. 10 AufenthG erkennt überdies ein schwerwiegendes Ausweisungsinteresse bei allen sonstigen Rechtsverstößen, die nicht zugleich vereinzelt und geringfügig sind. Die derzeitige Gerichtspraxis lässt bei Verurteilungen schon Geldstrafen über 30 Tagessätzen genügen, die Strafgerichte etwa bei Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel ohne Fahrschein verhängen können. Die Norm umfasst ebenfalls begangene Straftaten, ohne dass dazu eine Verurteilung erforderlich wäre, sowie außerstrafrechtliche Rechtsverstöße.

Kaum an Aktualität verloren hat ein über zwanzig Jahre alter Beitrag, der das Ausländerrecht seit der preußischen Polizeiverordnung von 1932 bis dato als „Kampf um Verminderung von Ermessens- und Beurteilungsspielräumen“ charakterisiert. Diese Spielräume könnten und sollten in der Theorie zwar „individuellen Belangen des Einzelnen Rechnung“ tragen, dienen in der Praxis aber seit jeher als Einfallstor für eine restriktive Normanwendung — ein Tor, das Rechtspopulist*innen nun einrennen könnten.

Migrationsverwaltungshandeln zwischen Rechtmäßig- und Rechtswidrigkeit

Die Länderverwaltungen nutzen die weiten Spielräume im Aufenthaltsrecht schon jetzt ganz unterschiedlich. Empirisch wurde eine besonders uneinheitliche Praxis der Einwanderungsbehörden beispielsweise bei den Anforderungen an die Identitätsklärung im Rahmen der Erteilung von Beschäftigungserlaubnissen an Geduldete (§ 60a Abs. 6 S. 1 Nr. 2, S. 2 AufenthG) festgestellt. Diese Ergebnisse zeugen von der Rolle der Einwanderungsbehörden als „gatekeeper“.

Restriktive Ermessensausübung, die gerade noch den Zweck der Ermächtigung und die gesetzlichen Grenzen wahrt, kann schnell in ermessensfehlerhafte, missbräuchliche Behördenpraxis umschlagen. Wie sich eine Landesverwaltung über den Zweck eines Bundesgesetzes schlicht hinwegsetzt, veranschaulicht etwa die bayerische Verwaltungspraxis zum Chancen-Aufenthaltsrecht (§ 104c AufenthG). Kurz vor dessen Inkrafttreten zeigten die Behörden in Bayern verstärkten Einsatz bei aufenthaltsbeendenden Maßnahmen gerade gegenüber Personen, die vom Chancen-Aufenthaltsrecht profitiert hätten. Bayern steuert weiterhin dagegen: Bei Beantragung des Chancen-Aufenthaltsrechts stoßen die Behörden oft ein Strafverfahren wegen passlosen Aufenthalts (§ 95 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG) an. Währenddessen setzen sie das Erteilungsverfahren gemäß § 79 Abs. 2 AufenthG aus und lehnen anschließend, sobald eine Geldstrafe zu den in Bayern üblichen 120 Tagessätzen ausgesprochen wurde, die Titelerteilung wegen der Vorstrafe (§ 104c Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AufenthG) ab. In Thüringen hingegen beschränkt derzeit noch eine (jederzeit ersetzbare) ministeriale Anordnung die Titelverweigerung in atypischen Fällen ausdrücklich mit Verweis auf das Gesetzesziel, eine Bleibeperspektive zu eröffnen.

Besonders einschneidend sind unrechtmäßige Verwaltungsentscheidungen, die irreversible Folgen nach sich ziehen. Einmal vollstreckt, ist das „Ziel“ erreicht. So kam es in der Vergangenheit neben rechtswidrigen Abschiebungen, die einer nachträglichen verwaltungsgerichtlichen Überprüfung nicht standhielten, in einem prominenten Fall aus NRW, bekannt als Fall Sami A., auch zu einer Abschiebung, die vorab gerichtlich untersagt worden war und dennoch durchgeführt wurde. Die Betroffenen nach vollzogener Abschiebung wieder zurückzuholen, gestaltet sich mindestens als schwierig, oftmals sogar als unmöglich, wenn die Person etwa nicht mehr auffindbar ist oder das Herkunftsland die Zusammenarbeit verweigert.

Auf exekutiven Ungehorsam gegenüber Gerichten — eine ernstzunehmende Gefahr — muss die Judikative reagieren. Zugleich ist ihre Kontrollfunktion bei großem Verwaltungsspielraum besonders gewichtig. Repressive Praktiken wurden zuletzt allerdings auch aus Thüringens Gerichtsbarkeit öffentlich. Das VG Gera geriet nicht nur wegen seiner außergewöhnlich niedrigen Schutzquote bei der gerichtlichen Überprüfung von Asylbescheiden in die Schlagzeilen, sondern auch wegen schwerwiegender Rassismusvorwürfe gegen seinen Vizepräsidenten Bengt Fuchs, gegen den mittlerweile ein Disziplinarverfahren eingeleitet wurde. Ein Einzelfall ist das nicht: Von Richter*innen mit rechter Gesinnung wird gerade aus Thüringen bereits seit einigen Jahren berichtet.

Missbrauchsmöglichkeiten durch migrationsfeindliche Landesregierungen

Kämen Rechtspopulist*innen in Thüringen in die Regierungsverantwortung, könnten sich die beschriebenen restriktiven bis rechtswidrigen Praktiken verschärfen und neue Belastungen auf Migrant*innen zukommen. Angesichts der großen Spielräume, die das Aufenthaltsgesetz der Verwaltung lässt, könnten Sachbearbeitende Normen systematisch zum Nachteil der Einzelnen auslegen. Werden Normen mit der Zielsetzung ausgelegt, die Erteilung eines Aufenthaltstitels möglichst zu vereiteln, eröffnen unbestimmte Rechtsbegriffe wie gezeigt zahlreiche Möglichkeiten. Wenn sich die Ermessensausübung vom Zweck der Einzelfallgerechtigkeit löst und sachfremde Erwägungen in die Entscheidung einfließen, droht ein Missbrauch auch dieser Spielräume. Würden entsprechende Erlasse und Verwaltungsvorschriften der Ministerien Ermessensspielräume einschränken, könnte das wiederum einzelne Beamt*innen mittels beamtenrechtlicher Folgepflicht und Weisungsgebundenheit „auf Linie“ der Rechtspopulist*innen bringen. Indem vermehrt atypische Fälle vorgezeichnet würden, könnte etwa die Titelerteilung an Geduldete selbst bei gebundenem Ermessen versagt werden.

In allen Bundesländern existieren derzeit Härtefallkommissionen, welche die oberste Landesbehörde in speziell gelagerten Fällen um die Anordnung ersuchen können, einer vollziehbar ausreisepflichtigen Person einen Aufenthaltstitel zu erteilen. Sowohl Einrichtung als auch Zusammensetzung dieser Kommission obliegt jedoch der Exekutive. Wie die AfD in Thüringen bereits durch ihre erfolglosen Klagen, zunächst vor dem Thüringer Verfassungsgericht und sodann vor dem BVerfG, deutlich machte, sieht sie deren Arbeit jedoch äußerst kritisch. Es ist daher damit zu rechnen, dass sie sich direkt daran machen wird, die Kommission abzuschaffen (siehe ihr Wahlprogramm, S. 68).

Werden zudem personelle Ressourcen der Einwanderungsbehörden gekürzt, verlängern sich Bearbeitungszeiten der Anträge und machen jede bloße Verlängerung eines Aufenthaltstitels unabhängig der inhaltlichen Entscheidung zur Belastungsprobe. Besonders gravierend sind verlängerte Wartefristen bei Anträgen auf Familienzusammenführung oder im Rahmen einer Titelerteilung an Geduldete, da in diesem Fall kein vorheriger Aufenthaltstitel Fiktionswirkung entfaltet. Fänden zunehmend mehr Personen mit rechtsextremer bzw. rechter Gesinnung Zugang zu Positionen in Verwaltung und Gerichten, verlören auch Rechtsschutzmöglichkeiten, etwa die gerichtliche Überprüfung behördlicher (Ermessens-)Entscheidungen oder Untätigkeitsklagen, nach und nach ihren Zahn.

Für ein widerstandsfähigeres Aufenthaltsrecht

Soll das hier nur grob skizzierte Szenario verhindert werden, bedarf es unverzüglich eines beherzten Eingreifens zahlreicher Akteur*innen.

Auf Bundesebene sind die Gesetzgebungsorgane angehalten, das Aufenthaltsgesetz sturmfest zu machen. Wird Ermessen nicht ausgeübt, um im Einzelfall eine situationsgerechte Entscheidung zu treffen, sondern um systematisch den (bundes-)gesetzgeberischen Willen zu unterlaufen, gehen Ermessensvorschriften fehl. Um den jeweiligen Normzweck, eine einheitlichere Verwaltungspraxis und die Rechte von Migrant*innen besser abzusichern, sind daher Normen vermehrt als strikte Rechtsansprüche auszugestalten. Wo ein Rechtsanspruch nicht sinnvoll erscheint, sollte der Gesetzgeber freies zumindest in gebundenes Ermessen umwandeln. Nachgebessert wurde bereits an einigen Stellen, unter anderem bei der Erteilung von Beschäftigungserlaubnissen an Asylsuchende und Geduldete, die seit diesem Jahr als „Soll-Vorschriften“ ausgestaltet sind (§ 61 Abs. 1 S. 2 Hs. 2 AsylG, § 60a Abs. 5b S. 1 AufenthG). Denkbar ist auch, auf Gesetzesebene negative Ermessenserwägungen zu benennen, die ausdrücklich nicht in die Abwägung eingestellt werden dürfen. Unbestimmte Rechtsbegriffe sollten klarer umrissen und Abweichungsmöglichkeiten, etwa bei Regelerteilungsvoraussetzungen, ausgeschlossen werden. Die Länder sollten nicht nur ermächtigt (§ 23a Abs. 2 S. 1 AufenthG), sondern auch verpflichtet werden, Härtefallkommissionen zu errichten. Kurzum: Die Gesetzgebungsorgane sollten das Aufenthaltsgesetz gründlich auf seine Standhaftigkeit überprüfen.

Auch die nicht autoritär regierten Bundesländer können und müssen tätig werden. Kommt ein Bundesland wie Thüringen etwa seinen Aufnahme- und Leistungspflichten nicht nach, könnten die übrigen Bundesländer zum einen betroffene Migrant*innen aufnehmen. Zum anderen könnten sie aber auch einen Länderstreit (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 Var. 2 GG) anstrengen und auf das föderale Gebot gegenseitiger Rücksichtnahme beharren, oder, wie unlängst argumentiert, den Bund dazu anhalten, seiner Gewährleistungspflicht aus Art. 28 Abs. 3 GG nachzukommen.

In Thüringen braucht es flächendeckende anwaltliche Betreuung und Beratungsstellen, die sich für den Rechtsschutz Betroffener einsetzen und rechtswidrigen Praktiken Einhalt gebieten. Die Beamt*innen in den Behörden und Gerichten müssen ihrerseits alle Möglichkeiten nutzen, um eine einseitige missbräuchliche Ermessensausübung