23 March 2020

Freiheit auf Bewährung?

Das rechtsstaatliche Verteilungsprinzip in der Pandemie

„Wir werden uns das Verhalten der Bevölkerung an diesem Wochenende anschauen. Der Samstag ist ein entscheidender Tag, den haben wir besonders im Blick. Am Samstag verabreden sich die Menschen ja traditionell miteinander, weil sie frei haben. Aber das […] muss jetzt eingestellt werden.“

Mit diesen Worten hat am vergangenen Freitag Helge Braun im Interview mit dem Spiegel die bürgerliche Freiheit auf eine harte Bewährungs-, oder besser: Benehmensprobe gestellt. Das wäre schon in gewöhnlichen Zeiten bemerkenswert. Doch es sind eben keine gewöhnlichen Zeiten – und so verwundert dieser Tage umso mehr, welch grelles Feuerwerk von Ideen des frühneuzeitlichen Absolutismus der Chef des Bundeskanzleramts und Bundesminister für besondere Aufgaben bei der Bundeskanzlerin da gezündet hat.

Die Worte, von denen man wohl annehmen muss, dass sie sorgfältig und in Absprache mit der Bundeskanzlerin gewählt worden waren, machen deshalb so stutzig, weil die Annahme, man könne grundrechtliche Betätigung gleichsam „unter Bewährung“ stellen, auf einem ganz grundlegenden Fehlverständnis der Funktionsprinzipien des freiheitlichen Verfassungsstaates beruht. Ihr liegt das bizarre Bild eines Staates zugrunde, der seinen Bürgern Freiheit nur solange gewährt, wie diese davon nach seinen Vorstellungen und gerade nicht nach ihrem Belieben Gebrauch machen. Wo immer der Einzelne – womöglich gar digital überwacht – diesen Vorgaben nicht gerecht wird, hebt der Staat zunächst den Finger zur Mahnung und anschließend die Freiheit wieder auf. Frei nach dem Motto: „Der Staat hat’s gegeben, der Staat hat’s genommen“.

Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall: Grundrechtliche Freiheit wird dem Einzelnen nicht derart gönnerhaft vom Staat gewährt, sondern durch den Staat gewährleistet. Das ist weniger terminologische Petitesse als vielmehr sprachlicher Ausdruck einer historischen Errungenschaft, derer sich die Rechtsordnung nicht einmal im größten Notstand begeben kann, ohne sich selbst aufzugeben: Nicht der Bürger ist um des Staates willen da, sondern der Staat für den Bürger. Dieser entscheidet selbst, ob, wann und wie er von seiner Freiheit Gebrauch macht. Einem allgemeinen Ordnungsvorbehalt ist er dabei ausdrücklich nicht unterworfen.

Carl Schmitt, der in der aktuellen Diskussion um den „Ausnahmezustand“ wieder häufiger bemüht wird, hat insoweit gewohnt anschaulich von einem „rechtsstaatlichen Verteilungsprinzip“ gesprochen. Die öffentliche Gewalt ist prinzipiell begrenzt, die individuelle Freiheit dagegen prinzipiell unbegrenzt. Daraus folgt, dass nicht der Einzelne sich für die Ausübung seiner Freiheit, sondern der Staat sich für die Beschränkung dieser Freiheit rechtfertigen muss. Es geht mit anderen Worten um die Verteilung von Rechtfertigungs- und Begründungslasten, die das Grundgesetz gerade dem Staat für dessen Tätigkeit auferlegt.

Diese Lasten sind umso größer, je schwerer der Eingriff in grundrechtliche Freiheit wiegt. Und wie viel schwerer könnte eine Ausgangssperre wiegen, die praktisch das ganze Land unter Quarantäne stellt? Die flächendeckend nicht etwa konsentiert gemeinschädliches, sondern alltägliches Verhalten sanktioniert? Gegen die der Einzelne sich nicht wirksam wehren kann, weil er dazu ja das Haus verlassen müsste? Gegen die selbst eine Mehrheit der Gesellschaft Protest bestenfalls über Online-Petitionen organisieren, ihr Missfallen aber nicht auf die Straße tragen kann? In Rede steht, um im Bild der Stunde zu bleiben, ein vollständiger „shutdown“ fast aller bürgerlichen Rechte, der an den Grenzen der Verhältnismäßigkeit und speziell an Art. 19 Abs. 2 GG jedenfalls gefährlich scharf kratzt.

Nun ist es ja nicht so, dass es dafür keine guten Gründe gäbe. Tatsächlich gibt es mit dem Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) und mit den Funktionsgrenzen der medizinischen Versorgung, um die Ärzte, Pfleger und Apotheker derzeit bis an den Rand der eigenen Belastbarkeit ringen, sogar sehr gewichtige Gründe für fast alle der bereits getroffenen ebenso wie für die bisher nur erwogenen Maßnahmen.

Diese Gründe aber muss der Staat darlegen, auch weil im Rechtsstaat der Zweck nicht jedes Mittel heiligt. Vor allem muss er sie zur öffentlichen Diskussion stellen. Und er muss erklären, warum eine Ausgangssperre für alle gilt und nicht bloß für diejenigen, die bereits erkrankt sind, die sich in einem Risikogebiet aufgehalten haben oder denen das Virus in besonderem Maße zusetzen und deren Erkrankung das Gesundheitssystem tatsächlich belasten wird; warum der Gang zur Arbeit erlaubt ist, nicht aber der Gang zum Gericht; warum die Sperre für vier Wochen angeordnet wird und nicht lediglich für drei; oder warum überhaupt die Grundrechte in Haftung genommen werden für die vom Staat selbst zu verantwortenden Schwächen eines über Jahre auf Kosteneffizienz getrimmten und chronisch unterfinanzierten Gesundheitssystems.

Hier offenbart sich das wahre Problem der Pandemie: Öffentliche Diskussion samt Widerspruch, der Wettstreit der Ideen, der Kontrolle sichert und Demokratie am Leben hält, das alles findet während der Krise faktisch kaum noch statt und ist nach dem „shutdown“ erst recht nicht mehr effektiv möglich. Die Ankündigung der Bundesregierung, nun die Bürger „auf die Probe“ zu stellen, entpuppt sich vor diesem Hintergrund als verzweifelter Versuch, mit dem Verteilungsprinzip zu brechen. Der „nervöse Staat“ streift seine Rechtfertigungspflichten eigenmächtig ab und verlagert sie auf den Bürger. Er erklärt dem Einzelnen nicht mehr, warum dieser das Haus nicht verlassen darf, sondern verlangt vom Einzelnen die Erklärung, warum dieser das Haus verlässt. Damit ist einer wesentlichen „Grundverabredung“ zwischen Staat und freier Gesellschaft die Geschäftsgrundlage entzogen.

Das ist schon für sich genommen bedenklich. Hinzu kommt noch, dass diese Lastenumkehr weit über das Staat-Bürger-Verhältnis hinaus den innergesellschaftlichen Umgang mit dem Virus prägt. Wir sehen das an der gegenwärtigen „Einigkeits- und Entschlossenheitsrhetorik“, die Sorgen vor einem „faschistoid-hysterischen Hygienestaat“ weckt. Wer das Haus verlässt, gilt als asozial, jeder kritische Hinweis auf alternative Lösungen, geschweige denn auf dringende Rechtsfragen als unsolidarischer Zwischenruf auf Kosten der „Alten“ und „Kranken“. 

Die Krise ist auch die Stunde derer, die mit dem Metermaß ihre Mitmenschen zum gebotenen Abstand nötigen oder den Notruf wählen, wenn andere sich die Hand geben. Neuerdings sollen sich zudem Studenten dafür schämen, dass sie der eigenen Zwangsarbeit in Notzeiten widersprechen (grotesk: Jasper von Altenbockum, dem Art. 12 Abs. 2 GG zur Lektüre empfohlen sei). Gelegentlich vernimmt man sogar den Hinweis, autoritäre Staaten wie China hätten eben doch auch ihre Vorzüge.

So muss also der Einzelne plötzlich nicht nur dem Staat gegenüber die eigene Freiheit rechtfertigen, sondern auch gegenüber dem sozialen Umfeld oder völlig Fremden. Das ist nicht per se ungewöhnlich, weil individuelle Freiheit stets zur Rücksichtnahme auf die Rechte und Interessen Dritter verpflichtet. Auch in anderen Debatten ist zu beobachten, wie grundrechtlich geschützte Verhaltensweisen durch den Widerspruch anderer Grundrechtsträger unter Druck geraten (als Stichworte sollen hier genügen: Nichtraucherschutz, Tempolimit, „Flugscham“). 

Diese Konfrontation muss der Einzelne ertragen, weil die Verfassung stets nur den individuellen Lebensentwurf schützt, nicht auch das Recht, dass andere diesem folgen. Neu ist aber die Nonchalance, mit der weite Teile der Bevölkerung über schwerwiegende und beispiellose Grundrechtseingriffe hinweggesehen und stattdessen die Grundrechtsbetätigung anderer ächten. Haben Menschen wirklich über Jahrhunderte dem Staat individuelle Freiheitsrechte abgetrotzt, nur um diese einander in Krisenzeiten abzusprechen?

Solange diese Haltung überwiegt – abzuwarten bleibt, wie lange –, erodiert schließlich ein weiterer Grundpfeiler des grundgesetzlichen Grundrechtsschutzes. Es mag so vernünftig wie wünschenswert sein, dass wir alle in diesen Tagen den Kontakt mit anderen Menschen meiden. Der Verfasser selbst hat in Sorge um Freunde und Familie die Hoffnung, dass möglichst viele die Bitten der Politik beherzigen und den Empfehlungen der Experten folgeleisten.

Grundrechtliche Freiheit ist aber eben auch die Freiheit zur Unvernunft. Wiederum ist es nicht der Unvernünftige, der für sein Handeln, sondern der Staat, der für die Sanktion Rechenschaft schuldet. Da darf zumindest die Frage erlaubt sein, ob und inwieweit der gesamten Bevölkerung im Rahmen einer allgemeinen Solidaritätspflicht zugunsten von Angehörigen der Risikogruppen zugemutet werden kann, für ungewisse Zeit gravierende Freiheitseinbußen hinzunehmen.

Staatliche Vernunfthoheit kann es ohnehin nicht geben. Die Grundrechte entziehen das bürgerliche Leben weitgehend einer solchen paternalistischen Bevormundung, schon weil sie das Selbstverständnis des Einzelnen zum Maßstab erheben und dessen Selbstbestimmung schützen. Das gilt selbst dann, wenn eine überwältigende Mehrheit das staatliche Unvernunftsurteil teilt: Eingedenk des Minderheitenschutzes ist die „Herdenvernunft“ allein kein rechtliches Argument. 

Um jedes Missverständnis zu vermeiden: Dieser Beitrag übt nicht Kritik an den Maßnahmen von Bund und Ländern an sich. Die verantwortlichen Entscheidungsträger sind sowieso nicht zu beneiden. Sie stehen vor gewaltigen Herausforderungen und machen zurecht eine weite Einschätzungsprärogative für sich geltend. Untunlich ist jedoch die Prämisse, die den Staat in dieser Not von allen Rechtfertigungslasten befreit und damit Freiheit als solche pervertiert.

Noch eine Bemerkung sei in diesem Zusammenhang erlaubt. Vielfach war zuletzt zu lesen, die Krise sei die Stunde der Exekutive. Auch das ist ein Irrtum, der schon in der europäischen Staatsschulden- und in der Flüchtlingskrise begegnet ist: Das Herz der repräsentativen Demokratie schlägt selbst im Ausnahmezustand nicht in der Exekutive, sondern im Parlament. Die notwendige Diskussion hat ihren Ort weder im Bundeskanzleramt noch in der Bayerischen Staatskanzlei. Es sind die unmittelbar legitimierten gesetzgebenden Körperschaften, die unter den Augen der Öffentlichkeit die für die Grundrechtsentfaltung und -verwirklichung wesentlichen Regelungen treffen und einen gerechten Ausgleich der widerstreitenden Interessen ausloten müssen. An diesem Verantwortungsarrangement darf nicht einmal der schnelle Takt, den das Virus vorgibt, etwas ändern.


SUGGESTED CITATION  Friedrich, Lutz: Freiheit auf Bewährung?: Das rechtsstaatliche Verteilungsprinzip in der Pandemie, VerfBlog, 2020/3/23, https://verfassungsblog.de/freiheit-auf-bewaehrung/, DOI: 10.17176/20200324-003302-0.

8 Comments

  1. Aaron Herre Tue 24 Mar 2020 at 00:33 - Reply

    Vielen Dank für Ihren Beitrag, ich halte diesen Aspekt für sehr wichtig: Aus welchem Blickwinkel betrachten wir unsere Grundrechte? Vielleicht betrachten wir sie gerade in Stresssituationen wieder aus unseren alten emotionalen Grunderfahrungen heraus: Dass unsere Freiheitsrechte keine Selbstverständlichkeit sind, die zu uns gehört, sondern dass sie von der Gnade der Erwachsenen, nun: der Mächtigen, abhängen. Die Hauptgefahr im Rechtsstaat ist ein Ungleichgewicht durch zu starke Dominanz der Exekutive, was sich leicht aus der Dynamik heraus ergibt und was zu vermeiden sehr viel Bewusstheit bei allen Beteiligten verlangt. So wurde von offizieller Seite die Frage nach der ausreichenden Ermächtigungsgrundlage für die getroffenen Einschränkungen gar nicht gestellt. Nach dem Motto: “Wir dürfen als Regierende nun keine Unsicherheit oder Schwäche zeigen, indem wir Fragen stellen – jetzt geht es um das entschlossene Durchgreifen!” Im Ergebnis haben wir in 16 Bundesländern und zahlreichen Kommunen Rechtsverordnungen und Allgemeinverfügungen vorliegen, die mitunter so krass den Ermächtigungsrahmen des IfsG verlassen, dass kein Jurist dies wirklich guten Gewissens bestreiten könnte. Dass darüber weitgehend geschwiegen wird (außer im Verfassungsblog!), ist bereits alarmierend. Und dass uns in den nächsten Tagen eine Reform des IfsG bevorsteht, die dieses Problem möglicherweise behebt, aber dafür in Eile und unter enormem moralischen und emotionalen Druck Normen wie die Mobilfunküberwachung zementiert, gegen die in anderen Zeiten Hunderttausende auf die Straße gegangen wären, finde ich wirklich sehr bedenklich. Ich wünsche mir, dass diese Dynamik in ruhigeren Zeiten reflektiert werden wird. Ohne Schuldzuweisungen, sondern ganz unter der Überschrift: Wie können wir mehr Bewusstsein für die Tragsäulen unserer freiheitlichen Grundordnung erreichen?

  2. Clemens Weidemann Tue 24 Mar 2020 at 07:43 - Reply

    Vielen Dank für diese wichtigen und richtigen Anmerkungen, lieber Herr Friedrich. Auch ich bin in diesen Tagen oft befremdet über die Rhetorik unserer Politiker – vor allem aber auch darüber, dass selbst bei vielen Juristen eine Haltung anzutreffen ist, wie sie sie mit Recht kritisieren. Ebenso befremdlich ist, dass kritische orientierte Stimmen, die an allgemeine Grundsätze unseres Rechtsstaats erinnern, auch in den (öffentlich-rechtlichen) Medien praktisch nicht zu Wort kommen.

  3. Paula Newman Tue 24 Mar 2020 at 08:50 - Reply

    Die Aussage von Herrn Braun war sicherlich unglücklich, aber kein staatstheoretisches Grundsatzproblem. Man könnte sie auch so verstehen, dass erläutert wird, warum welche Maßnahmen erwogen werden und der Staat damit seiner vom Autor geforderten Rechtfertigungslast gerade nachkommt, anstatt ohne vorherige Begründung entsprende Maßnahmen zu verabschieden.

    Die entsprechenden Ermächtiggungsgrundlage im InfSchG und anderen Bereichen bestanden bereits vor der Corona-Pandemie, sie werden jetzt nur genutzt.Warum liegt im Gesetzesvollzug eine Umkehr des Regel-Ausnahmeverhältnis (grundrechtlich